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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1165–1166

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hildebrandt, Matthias, u. Manfred Brocker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Begriff der Religion. Interdisziplinäre Perspektiven.

Verlag:

Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008. 301 S. m. Tab. 8° = Politik und Religion. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-531-16057-3.

Rezensent:

Anne Koch

Der sechste Band des Arbeitskreises Politik und Religion in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft beginnt eine Aufarbeitung des Konzeptes Religion. Dies ist in der Politikwissenschaft längst überfällig, da zum einen die internationale Religionswissenschaft seit Jahrzehnten einen hoch ausdifferenzierten Diskurs dazu führt, den es endlich zu rezipieren gilt, und da zum anderen Vorgänge, die unter »Rückkehr der Religion« summiert werden, von großer öffentlich-politischer Bedeutung sind. Politikwissenschaftler bedürfen eines wissenschaftlichen Religionsverständnisses, um diese Vorgänge gerade auch in vergleichender Perspektive angemessen zu erfassen (Liedhegener).

Eine Religionspolitologie hat auch in der internationalen Religionswissenschaft bislang nicht die institutionelle Differenzierung einer Teildisziplin erreicht wie etwa die Religionsethnologie, -soziologie oder -psychologie. In Deutschland gibt es zwar ein kleines politikwissenschaftliches Institut dieser Ausrichtung innerhalb der Universität Duisburg-Essen, aber international wird in Bänden wie Religion and Politics oft nur die Säkularisierungsthese ver­handelt, nicht aber so wichtige Themen wie politische Religion oder Religion und Demokratisierung. Der vorliegende Band spiegelt, dass die meisten theoretischen Anleihen aus der Religionssoziologie bezogen werden (Hildebrandt/Brocker, Rehm, Haring), wobei die Religionswissenschaft genauso von der Ethnologie pro­fitiert hat (u. a. Postkolonialismus-, Visual und Writing culture-Debatten).

So führen die Herausgeber eingangs zwar in die euro- und chris­tozentrische Herkunft des Religionsbegriffs und seinen Transfer in außermitteleuropäische kulturelle Kontexte ein. Doch schon der ideengeschichtliche Abriss basiert fast ausschließlich auf den Arbeiten des katholischen Theologen E. Feil und nimmt die religionswissenschaftliche Aufarbeitung nicht zur Kenntnis (z. B. J. Z. Smith zur diskursiven Formierung von »Religion« über Fremdkontakt oder B. Gladigows »Europäische Religionsgeschichte«). Des­gleichen gilt von der systematischen Unterscheidung in einen substanziellen, funktionalen oder phänomenologischen Religionsbegriff, die das zeitgenössische kulturwissenschaftliche Verständnis unerwähnt lässt. Das setzt sich darin fort, dass im politikwissenschaftlichen Blick Religion vom Gegenstandsbereich her gedacht wird, anstatt dass wissenschaftstheoretisch von der Multiperspektivität der Religionswissenschaft her der Gegenstand ar­beitspragmatisch konstruiert wird. Dann stellt sich auch die ewige Frage nicht mehr, ob oder ob nicht Konfuzianismus Religion sei. Denn es geht dann um die Beschreibung einer lokalen Gesellschaft in historischer Genese und darum wie im Austausch mit anderen kulturellen Angeboten etwa Heilung, Autorität oder Postmortalität behandelt werden.

Abgesehen von diesen bedauerlichen disziplinären Mauern zwischen Politikwissenschaft und Religionswissenschaft, die si­cher auch in den leider geringen personellen Ressourcen zur Vermittlung bei der Letzteren begründet sind, vereint der Band äu­ßerst fruchtbare Beiträge: zum deutschen verfassungsrechtlichen Religionsverständnis (Droege), zum Übergang der römischen zur christlichen Gesellschaftstheorie (Riedl), zur These der Fortführung absolutistischer Staatstheologie im französischen Laizismus (Pornschlegel), zu objektsprachlichen Religionsbegriffen (Haußig), zu religionssoziologischen Theorien mit dem schönen Ausblick auf ein diskursives und kulturwissenschaftliches Religionsverständnis in Anlehnung an J. Matthes (Haring), zur Forderung des empirisch zu erforschenden Einflusses von religiösem Fundamentalismus auf politische, insbesondere demokratische Einstellungen, da diese auf Grund der selektiven Ambivalenz fundamentalis­tischer Be­wegungen nicht notwendig fundamentalistisch sind (Kessler), zu einer Einschätzung der Scientology Church vor einem Kriterienkatalog zur Konfliktträchtigkeit nach R. J. Lifton (Sonnenschmidt). Allerdings überzeugt dessen vorgeschlagene Ersetzung des in der Tat sehr unterschiedlich gefüllten Konzeptes der »Neuen religiösen Bewegung« durch »konfliktträchtige Orientierungen« nicht, da auch dieses Kriterium ähnlich den Kriterien des historischen Alters, der kulturellen Herkunft, des Themas (Human potential-Steigerung, Gesundheit oder Ahnenkommunikation) allein nicht ausreicht, die Fülle der Gruppierungen und Strömungen zu gliedern.

Hier wird ein Bündel an Merkmalen weiter zu verfolgen sein, von denen viele aus der Liste Liftons ja auch bereits diskutiert werden. Der Beitrag zur Operationalisierung des Konzeptes Zivilreligion von Rousseau her (Rehm, hier wäre die US-amerikanische Diskussion auch wichtig) wird sehr gut ergänzt um die überaus klar aufgearbeitete sozialphilosophische Diskussion des Kommunitarismus zu Religion in modernen Gesellschaften bei R. Bellah, A. MacIntyre, C. Taylor und P. Selznick vor den Bezugspunkten W. James und J. Dewey (Haus). Diese Literatur ist gewiss ein wichtiges Medium für die politischen Intellektuellen, aus dem sie bei der Bewertung der Institutionen in der eigenen Gesellschaft schöpfen. Weniger hilfreich erscheint die nicht neue, sondern alte These (z. B. bei C. Geertz 1967, B. Gladigow 1988) von der unbedingten Geltung als Spezifikum religiöser Überzeugungen, die intellektualis­tisch erläutert statt kulturwissenschaftlich problematisiert wird (Mo­ritz).

Aus dem Rahmen fällt die normative, retro-christliche Ver­lusterzählung zur postsäkularen Moderne (Schwaabe). Bourdieu würde sich im Grabe umdrehen, wenn sein Habitusbegriff, den er gegen den Mentalitätsbegriff entwickelt, nun in einem Atemzug mit diesem genannt wird (was nur geht, da Schwaabe P. Dinzel­bachers vom Habitus her gewonnene Überarbeitung von Mentalität einführt). Ein unfaires Zitieren ist es, wenn Bourdieus trie­fende Kritik an der Verklärung und Doppelmoral des französischen Katholizismus ausgeklammert wird und seine Aussagen zur Tradierung über Lebenspraxen nun herhalten müssen, um leben­digen Glauben in der gleichen Stoßrichtung wie die Theologie der priesterlichen Selbststilisierung J. Ratzingers zu fordern (220). Vor einer vagen Kategorie Religiosität, die eine nicht mehr greif­bare Befindlichkeit »Kernglaube« einführt, wird hinterrücks allen Zeit­genossen außerhalb der »Hochreligion« (215) Sakralisierung des Ichs, Patchwork, nicht tragende Gemeinschaftlichkeit, »zu­nehmend auch wieder Momente des Aberglaubens« (216) unterstellt und vieles mehr aus dem nur allzu bekannten polemischen Repertoire einer fundamentalisierenden Reaktion auf Moderni­sierung.

Der Band verdeutlicht zweierlei: Die Entwicklung eines politikwissenschaftlichen Religionsverständnisses kann durch Beteiligung von Religionswissenschaftlern enorm abgekürzt werden und das politikwissenschaftliche Expertentum ist unerlässlich, um vielschichtige, translokale Konstellationen von Macht, Tausch, Normen, Mitbestimmung, Rechten und Praxen in alternativen Mo­dernen zu fassen.