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Ausgabe:

November/2009

Spalte:

1153–1164

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Bernd U. Schipper

Titel/Untertitel:

Israel und Ägypten
Erkenntnisse und Perspektiven*

Im Jahr 1909 veröffentlichte Albrecht Alt seine Dissertation über »Israel und Ägypten«. Thema der Arbeit war – so der Untertitel – »Die politischen Beziehungen der Könige von Israel und Juda zu den Pharaonen nach den Quellen untersucht.«1 Alt griff damit eine Diskussion auf, die seit Entzifferung der Hieroglyphen durch Jean-François Champollion im Jahr 1822 die Forschung bestimmte: das Verhältnis zwischen dem pharaonischen Ägypten und dem antiken Israel. Schließlich spielen Teile der Geschichte Israels, folgt man dem Alten Testament, selbst in Ägypten, so wie wiederum bestimmte ägyptische Monumente und Inschriften auf Ereignisse Bezug nehmen, die in der Bibel genannt werden. Champollion selbst war einer der Ersten, der diese Verbindung herstellte. Er wies 1828/29 auf den Zusammenhang zwischen einer Reliefdarstellung am Bubastidenportal des großen Karnaktempels in Theben und den Notizen über den Feldzug eines Pharao Schischak in 1Kön 14,25–28 und 2Chr 12,1–12 hin.2

Parallel dazu gab es immer wieder Versuche, die Angaben des Alten Testaments über ›Israel in Ägypten‹, die Josephsgeschichte oder den Exodus anhand ägyptischen Materials zu verifizieren. Und auch hier waren die Vertreter der damals noch recht jungen akademischen Disziplin der Ägyptologie die Vorreiter. So legte der Leipziger Ägyptologe Georg Ebers im Jahr 1868 ein 360 Seiten starkes Werk über »Aegypten und die Bücher Mose’s« vor mit dem Untertitel: »Sachlicher Commentar zu den aegyptischen Stellen in Genesis und Exodus«. 3 Der Ansatz bestand darin, den Text der Genesis durchzugehen und die ägyptologischen Belege zu den, wie Ebers sie bezeichnete, »aegyptischen Stellen« zu benennen, denn für Ebers war klar, »dass der Autor eine Fülle von ethnographischen und geographischen Kenntnisse[n] besass« und dass »er sich, um ein möglichst treues Bild der Theile von Mizraim zu erlangen, an die Aegypter selbst wandte.«4

Ebers’ Position steht für einen Zugang, der sich in der Ägyptologie bis heute findet. Man orientiert sich an den Fakten und verkennt mitunter, dass man zugleich von bestimmten Prämissen ausgeht, im konkreten Fall davon, dass die Berichte der Genesis und des Exodusbuches einen realhistorischen Hintergrund voraussetzen, der sich nur aus der Zeit heraus erklären lässt, in der sich die Texte selbst ansiedeln, d. h. dem 2. Jt. v. Chr. und dem ägyptischen Neuen Reich.

Man muss sich dieses Umfeld vergegenwärtigen, um ermessen zu können, was für eine Leistung Albrecht Alts Dissertation darstellte. Alt befasste sich als ausgebildeter Alttestamentler und profunder Kenner der orientalischen Sprachen5 mit der Thematik und konzentrierte sich allein auf die historische Frage der politischen Beziehungen. Auch wenn Alt später nicht viel von seinem Jugendwerk hielt,6 so markiert dieses doch einen Meilenstein der Forschung, da Alt mit der Frage der historischen Beziehungen nun das 1. Jt. in den Mittelpunkt rückte und von einer vorschnellen Komparatistik absah.

Alts Arbeit ist aber auch deshalb nach wie vor lesenswert, weil darin das Spannungsfeld benannt wird, in dem sich die Forschung bis heute bewegt: die »bibellesenden Laien« auf der einen und die »bibelforschenden Gelehrten«, wie Albrecht Alt es formulierte, auf der anderen Seite. Denn in dem Maße, in dem sich die akademischen Disziplinen in den letzten 100 Jahren ausdifferenziert und die Fächer ihre eigenen Methoden entwickelt haben, sind auch die Berührungspunkte zwischen Ägyptologie und alttestamentlicher Wissenschaft komplexer geworden. So muss ein am Alten Testament interessierter Ägyptologe, hat er nicht das Fach selbst studiert, zwangsläufig ein »bibellesender Laie« sein, für den grundlegende Parameter wie die historisch-kritische Exegese entweder unbekannt sind oder nach wie vor als diskussionswürdig erscheinen. 7 Umgekehrt hat sich die alttestamentliche Wissenschaft in den letzten Jahren eher auf die literaturgeschichtlichen und exegetisch-theologischen Fragen konzentriert als auf die historisch-religionsgeschichtlichen und geht dabei zum Teil, wie zu zeigen sein wird, von veralteten Prämissen aus. Nimmt man es genau, so ist die Problemlage gegenüber der Zeit eines Albrecht Alt noch gestiegen. Denn die Ägyptologie ist speziell im deutschsprachigen Raum mit ihrer stark philologischen Ausrichtung zwangsläufig auf die Texte fokussiert und nur bedingt an hermeneutischen oder methodischen Fragen interessiert. Auch wenn durch die Arbeiten von Jan Assmann nach außen hin ein anderes Bild entstanden ist und es selbstverständlich eine Reihe von Ägyptologen gibt, die sich mit theoretisch-systematischen Fragen befassen, 8 so steht das Fach doch weitgehend noch dort, wo es in der ersten Hälfte des 20. Jh.s stand: eine auf die Realien und die Philologie ausgerichtete Wissenschaft, die auf Grund der stetig anwachsenden Materialbasis zum Teil gar nicht die Notwendigkeit verspürt, neuere methodisch-systematische Ansätze zu traktieren. Durchaus repräsentativ ist der Satz, der sich in einer aktuellen, innerhalb kürzester Zeit in dritter Auflage erschienenen Einführung in die ägyptische Literaturgeschichte findet: Dort wird aktuellen Versuchen, literaturwissenschaftliche Theorien für die Ägyptologie fruchtbar zu machen, die Formel entgegengehalten, man solle doch »eher die Literaturwerke selbst sprechen lassen als über sie zu reden.«9

Der folgende Artikel stellt den Versuch dar, vor dem Hintergrund der skizzierten Problemlage das thematische Feld ›Israel und Ägypten‹ zu umreißen und dabei auf bislang gefundene Antworten sowie offene Fragen einzugehen. Ein solcher Versuch muss zwangs­läufig subjektiv und unvollständig sein, da sich angesichts der Komplexität des Themas niemand anmaßen wird, das ganze Feld zu überblicken. In der Folge wird zunächst auf die Frage der historischen Beziehungen eingegangen (I), dann die Problematik des Vergleiches ägyptischer und alttestamentlicher Religion und Literatur thematisiert (II) und schließlich der Blick auf neues Quellenmaterial gelenkt (III), das für die Frage nach Israel und Ägypten derzeit die meisten neuen Erkenntnisse verspricht (IV).

I.


Die Untersuchung der historischen Beziehungen zwischen Israel und Ägypten ist wesentlich eine Frage der Quellenkritik. Wie stark dürfen biblische Texte für die Rekonstruktion der historischen Beziehungen zwischen Israel/Juda und Ägypten herangezogen werden? Während die Alttestamentler hier zu Recht immer vorsichtiger werden und die Geschichte Israels ›von außen nach innen‹, d. h. auf Grund des »external evidence« rekonstruieren, sind die Ägyptologen oftmals den biblischen Texten gegenüber unkritisch. Beispielhaft mag das für die Geschichte des 1. Jt.s wichtige Werk »The Third Intermediate Periode« von Kenneth A. Kitchen sein. 10 Kitchens Standardwerk aus dem Jahr 1972 ist zwar für die Geschichte Ägyptens nach dem Ende des Neuen Reiches eine unerlässliche Quelle, jedoch insofern mit Vorsicht zu genießen, als Kitchen die historisch-kritische Exegese dezidiert ablehnt und seine Ausführung im Kapitel 4 »Outline Historical Survey (ca. 1100–650 B.C.)« wesentlich auf die biblischen Texte stützt.11 Es muss daher jedem, der sich mit der Geschichte der politischen und kulturellen Beziehungen zwischen Israel und Ägypten befasst, selbst überlassen bleiben, das zur Kenntnis zu nehmen, was kritisch gesichert ist, und wiederum jenes zu erkennen, was letztlich einem biblizistischen Verständnis des Alten Testaments geschuldet ist.12

Das Problem wiegt noch schwerer, wenn eine ägyptologische Forschung, die den Unterschied zwischen ›erzählter Zeit‹ und ›Zeit des Erzählers‹ nicht beachtet, auf eine alttestamentliche Forschung trifft, die jenseits der Spätdatierung von Texten mittels der Überlieferungsgeschichte uralte historische Erinnerungen herausarbeiten möchte. Man kann sich dies gut am Beispiel des Exodus und ›Israels Aufenthalt in Ägypten‹ vergegenwärtigen. Wenn man die klassische Theorie, nach der Ramses II. der »Pharao der Bedrü­ckung« war, 13 einmal auf ihre Prämissen hin überprüft, dann hängt alles von der Bewertung der Notiz vom Bau der Städte Pi­thom und Ramses in Ex 1,11 ab. Da sich solche Baumaßnahmen für Ramses II. nachweisen lassen und die Städte (vor allem die Ramsesstadt) nach seiner Regierungszeit in Vergessenheit gerieten, müsse es sich – so die klassische Argumentation – bei der Notiz in Ex 1,11 um eine historische Erinnerung handeln, die somit den Anker für die Datierung von Israels Aufenthalt in Ägypten darstelle. 14 Davon ausgehend wird dann der bekannte Bericht eines Grenzbeamten über Schasu-Stämme herangezogen, der zwar aus der Zeit Merenptahs und damit des Nachfolgers Ramses’ II. stammt, jedoch die historischen Abläufe nach allgemeiner Meinung zu illustrieren vermag.15 Und schlussendlich passt zu diesem Szenario, dass in der Israelstele des Merenptah eine wie auch immer im Einzelnen zu bestimmende Größe ›Israel‹ in Kanaan selbst bezeugt ist.

Das Problem freilich ist, dass diese komplexe Theorie letztlich einzig und allein auf der Annahme basiert, die Notiz in Ex 1,11 könne nur eine alte Erinnerung darstellen und sei aus späterer Zeit heraus nicht erklärbar, da ja das Andenken der Ramsesstadt nach dem Ende der Ramessidenherrschaft in Vergessenheit geriet. Dieses Argument wurde von den Vertretern jener Position für so stark gehalten, dass man über zwei Probleme, die mit dieser Theorie verbunden sind, hinwegsah. (1.) Ramses ist ein Personenname und kein Stadtname, und (2.) im Hebräischen ססֵמְעַרַ findet sich ein anderer s-Laut als beim Namen Mose (השֶׁמׂ), im einen Fall ein Samäch, im anderen ein Schin. Dies wiegt umso schwerer, da beide Namen auf dasselbe Verb im Ägyptischen zurückgehen: die Wurzel msj – »gebären«.

Betrachtet man sich an dieser Stelle einmal die Lautgesetze, so lässt sich der Befund leicht erklären: die Wiedergabe des ägyptischen s-Lautes in השֶׁמׂ entspricht dem Gebrauch des 2. Jt.s, der s-Laut im hebräischen Namen Ramses hingegen dem des 1. Jt.s, mit anderen Worten: der Name Mose ist alt und der Name Ramses jung. Bereits an diesem Punkt wird deutlich, dass die traditionell-klassische Argumentation zu Ex 1,11 auf recht tönernen Füßen steht.16 Aber auch ganz unabhängig davon, ob man an der klassischen Position festhalten möchte oder der hier genannten Argumentationslinie folgt – letztlich wird an Ex 1,11 eine grundsätz­liche Frage deutlich: Wie hoch ist der historische Gehalt literarischer Quellen, die nach Auffassung der modernen Bibelkritik in die Zeit des Exils oder später datieren, und inwiefern können diese Jahrhunderte alte Erinnerungen bewahren? Die (konservativ ausgerichtete) alttestamentliche Forschung traut hier der Überlieferungsgeschichte sehr viel zu, übersieht dabei jedoch einen Sachverhalt, der für die religionsgeschichtliche Forschung zu Ägypten und Israel zentral ist und auf den noch näher eingegangen werden muss: die Tradierungs- und Überlieferungsprozesse in Ägypten selbst, die von der Zeit der Pyramiden bis zu den Ptolemäern reichen. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass sich selbstverständlich die Ortsnamen Pithom und Ramses in ägyptischen Texten des 1. Jt.s nachweisen lassen, so dass man eine Datierung von Ex 1,11 in die Zeit Ramses II. mit Sicherheit nicht mehr daran festmachen kann, dass die Ortsnamen in Vergessenheit geraten sein sollen.

Auf die übergreifende Fragestellung bezogen wird bald deutlich, dass sich die alttestamentliche Forschung viel stärker auf das 1. Jt. konzentrieren sollte, in dem sich – und dies ist entscheidend – nicht nur eine Vielzahl von Texten aus älterer Zeit, sprich: aus dem 2. Jt. findet, sondern auch eine höchst charakteristische Form der ›relecture‹ älterer Literaturwerke. Dabei rückt unter einem historischen Blickwinkel eher die zweite Hälfte des 1. Jt.s in den Mittelpunkt als die erste. Denn in dem Maße, in dem die alten Thesen zum salomonischen Großreich, zu der ›salomonischen Aufklärung‹ oder auch der Expansion Judas unter König Josia ins Wanken geraten sind, 17 stellte sich heraus, dass sich die Könige Israels und Judas und die ägyptischen Pharaonen zu keiner Zeit auf Augenhöhe begegneten. Juda und Israel waren kleine Königreiche, die vom Blickwinkel Ägyptens aus nur dann interessant erschienen, wenn sie in das für Ägypten relevante Gebiet der südlichen Levante vordrangen: die Küstenebene und die Handelswege durch den Negev. Dies belegt bereits der eingangs genannte Feldzug des Pharao Scheschonq I. aus dem Jahr 924. Scheschonq I. ließ seine Truppen bis in den Negev ziehen und errichtete in dem strategisch wichtigen Ort Megiddo an der Küstenstraße einen Stützpunkt, nahm jedoch vom Königreich Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem, folgt man der ägyp­tischen Liste zu den eroberten Städten, keinerlei Notiz. 18 Diese Situation änderte sich erst mit dem Auftreten der Assyrer und den politischen Verhältnissen Ende des 8. Jh.s. Denn der Zusam­men­schluss der kleinen Staaten der syro-palästinischen Landbrücke gegen die nach Westen drängenden Assyrer führte zu einer Orientierung Judas nach Ägypten, die bis in spätvorexilische Zeit anhielt. Auf Seiten Ägyptens entspricht dem ein verstärktes Interesse an der südlichen Levante, so dass mit dem 8./7. Jh. eine historische Phase beginnt, in der es erstmals zu weiterreichenden kulturellen Kontakten zwischen Israel und Ägypten kam. Dabei ist es nach wie vor ein Desiderat der Forschung, diese Kontakte für die nachexilische Zeit zu untersuchen. So fehlt bislang eine Studie zu den Beziehungen zwischen Israel und Ägypten in persischer und hellenistischer Zeit (der ägyptischen 27 .–30. Dynastie). Diese ist jedoch insofern erforderlich, da gerade die jüngere Ägyptologie die Literatur jener Zeit (wieder)entdeckte und hier einen wahren Schatz an Texten gehoben hat, deren Bedeutung für die alttestamentliche Literatur und Literaturbildungsprozesse noch nicht erkannt ist.

II.


Bevor auf diese, die sog. ›demotische Literatur‹ und die Texte der ägyptischen Spätzeit eingegangen wird, soll kurz die bisherige Entwicklung der komparatistischen Forschung zu Religion und Literatur des alten Ägypten und des antiken Israel beleuchtet werden. Denn auch hier zeigt sich, dass ein Blick 100 Jahre zurück dazu verhelfen kann, die Dinge etwas anders zu sehen als gemeinhin getan. So erschien im Jahr 1909 nicht nur Alts Dissertation, sondern auch eine Reihe weiterer Arbeiten zum Thema, die höchst aufschlussreich sind: Hermann Gunkels Aufsatz über »ägyptische Parallelen zum Alten Testament«, 19 Hermann Rankes Artikel zum Stichwort »Ägypten« in der ersten Auflage der RGG und schließlich die von Hugo Gressmann herausgegebenen »Altorientalischen Texte und Bilder zum Alten Testament« (AOT/AOB), in denen ebenfalls Hermann Ranke für Ägypten verantwortlich zeichnete. Neben Rankes Lexikonartikel, der mit knapp 40 Druckspalten der bis heute umfangreichste in einer RGG-Auflage bleiben sollte (die vierte mitgerechnet), 20 ist vor allem das Gressmannsche Werk wegweisend. Denn es enthält drei Parameter, die bei genauerem Hinsehen mittlerweile verloren gegangen sind, jedoch für die heutige Forschung ebenfalls leitend sein sollten: die Verbindung von Text und Bild (1.), die Ber ücksichtigung neu entdeckter Quellen (2.) und die Frage der Kategorisierung (3.). So war es Gressmann bei der Konzeption seines ursprünglich als Hilfsmittel für Vorlesungen gedachten Werkes21 wichtig, nicht nur die Texte selbst, sondern auch die Bilder darzustellen. Er ber ücksichtigte ferner mit der erst kurz zuvor entdeckten demotischen Literatur neueste Forschungsergebnisse und ordnete die Texte schließlich in einer Form an, die jenseits einer theologischen Engführung lag. Alle drei Aspekte werden sehr schön deutlich, wenn man die seit Gressmanns AOT/AOB erschienenen Textausgaben betrachtet: Das englische Nachfolgewerk von James B. Pritchard (1950/1954) 22 enthielt noch einen eigenen Band mit Bildern, die folgenden Werke wie »Texte aus der Umwelt des Alten Testaments« (hrsg. von O. Kaiser, 1982–1997), »The Context of Scripture« (hrsg. von W. W. Hallo, 1997–2002), Walter Beyerlins »Re ligionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament« (GAT 1, 1975) bis hin zu TUAT.NF (hrsg. von B. Janowski und G. Wilhelm, 2004–) verzichten jedoch darauf.23 Dies wiegt insofern schwer, da der Zusammenhang von Text und Bild im Alten Orient evident ist und nicht auseinandergerissen werden kann.
Die beiden anderen Aspekte, die Textauswahl und die Frage der Kategorisierung, hängen eng miteinander zusammen und führen zu einem tiefer liegenden Problem. Denn bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass der Ansatz Gressmanns, bei der Kategorisierung eher von ›literarischen Gattungen‹ als von thematischen Feldern auszugehen, zunehmend in Vergessenheit geriet und sich umgekehrt eine Art Kanon der altorientalischen Texte herausbildete – ohne dass dieser kritisch reflektiert wäre. Betrachtet man sich diese Entwicklung im Detail, so zeigt sich eine Verschiebung von Gressmanns Gattungsbegriffen (poetische Texte, lehrhafte Texte, prophetische Texte usw.) hin zu einer Anordnung des Materials, die zunehmend an theologischen Kategorien orientiert ist. So beginnt Hellmut Brunner in Beyerlins religionsgeschichtlichem Textbuch mit den Sch öpfungsmythen, um dann über die Kulthymnen und die Lebenslehren zu den Jenseitsvorstellungen zu gelangen (Kapitel 125 »Aus dem Totenbuch«).24 Bereits Klaus Koch wies in einer Darstellung der Literatur zur ägyptischen Religion darauf hin, dass die Gesamtentwürfe oftmals daran kranken, dass von einem theologischen Standpunkt aus geschrieben wird – man gliedert gleichsam einer christlichen Dogmatik folgend und beginnt mit der Sch öpfungslehre, um mit den ›letzten Dingen‹ zu enden. Das zeigt sich, um nur ein Beispiel zu nennen, bei dem Ägyptologen Siegfried Morenz, der bei einer bestimmten Generation von Alttestamentlern nach wie vor hochgesch ätzt wird.25 Das skizzierte Problem ist jedoch kein bloß forschungsgeschichtliches, denn eine solche Sichtweise hat weitreichende Konsequenzen: dazu zwei Beispiele.

Die alttestamentliche Forschung ist sich darin einig, dass die Weisheit Israels ein Kind der altorientalischen ist. Gleichwohl wird aber bei der Zusammenstellung dessen, was als ›Weisheitsliteratur‹ im Alten Orient gilt, von den alttes tamentlichen Texten ausgegangen. So hat sich seit Gressmann eine Art Kanon ägyptischer Weisheitstexte herausgebildet, der immer wieder genannt wird, wenn es darum geht, Weisheit in Ägypten zu benennen: die sog. Lebenslehren, wie die Lehren des Ptahhotep oder des Amenemope, und die Literatur mit dem Vorwurfsmotiv, wie die Mahnworte des Ipuwer oder die Prophezeiung des Neferti. Das leitende Kriterium dabei ist überdeutlich: Es wird die Weisheitsliteratur genannt, die sich entweder dem biblischen Buch der Spr üche Salomos oder dem Hiobbuch zuordnen lässt. Letztlich wirkt sich hier, pointiert formuliert, die Kanonisierung der biblischen Texte auf die religionsgeschichtliche Forschung aus, und das, obwohl seit Jahrzehnten darauf hin gewiesen wird, dass Weisheit sich auch außerhalb der kanonischen Weis heitsschriften findet und mehr ist als das edukative Wissen, wie es sich in Sprüchesammlungen oder einzelnen Weisheitssentenzen manifestiert.

Betrachtet man das Material aus Ägypten, so zeigt sich ein deutlich komplexerer Befund. Weisheit ist dort wesentlich auch magisch-ritualhaftes und auf den Weltlauf als Ganzen bezogenes Wissen. Deutlich wird dies an einem ägyptischen Text aus dem 11. Jh. v.Chr., der erstmals von Albrecht Alt in die alttestamentliche Diskussion eingebracht wurde: das Onomastikon des Amenope. Dieser Text, der von Alt in einem Artikel aus dem Jahr 1950 hinsichtlich seiner territorialgeschichtlichen Angaben untersucht wurde, 26 enthält eine Zusammenstellung von 610 Begriffen. Am Anfang stehen Namen für Himmel, Wasser und Erde (Nr. 1–62), dann folgen Personen und Beamtentitel (Nr. 63–229), dann verschiedene Gruppen der Gesellschaft, eine Auflistung der Städte von Ägypten, gefolgt von Gebäuden, ihren Einzelteilen und den verschiedenen Formen von Ackerland bis hin zu Speisen und Getr änken. Man würde dies wohl kaum mit den ägyptischen Lebenslehren eines Ptahhotep oder Amenemope verbinden; jedoch tut dies der Text ausdr ücklich. So lautet der einleitende Paragraph des Onomastikon des Amenope: »Beginn der Lehre (sb3j.t) für das Lösen des Herzens (= das Verstehen), für die Unterweisung des Unwissenden, für das Wissen aller Dinge, die existieren. Was Ptah ersonnen hat, was Thot werden ließ, den Himmel mit seinen Dingen, die Erde und das zu ihr Gehörende.«27
Der Text beginnt mit den fast schon kanonischen Worten einer ägyptischen Lebenslehre, wie sie in den Lehren des Ptahhotep oder des Djedefhor begegnen, und bezeichnet sich selbst, wie diese Werke, als eine sb3j.t.28 Allein an diesem schlichten Faktum wird deutlich, dass man weder den Begriff der Lebenslehre (sb3j.t) in der alt ägyptischen Literatur zu eng fassen darf, noch die Definition dessen, was als ›Weisheit‹ gilt. Denn wenn eine listenartige Zusam menstellung von Namen, Naturphänomenen, aber auch Errungenschaften der Zivilisation (bis hin zu Bier und Wein, Nr. 558.565), als sb3j.t bezeichnet werden kann, so verweist dies deutlich auf das Konzept eines kosmotheistischen Wissens, das auf den Weltlauf als Ganzen bezogen ist und von da aus zu enzyklop ädischen Zusam menstellungen gelangt.29 Damit verbunden ist ein weiteres Phänomen, das wiederum direkte Auswirkungen auf die religions geschicht liche Arbeit hat: die Bedeutung von Magie und Ritual im Alten Orient.

So hat die alttestamentliche Forschung über Jahrzehnte ausgerechnet den Aspekt der altorientalischen Religionen vernachlässigt, der für diese zentral ist: das magisch-rituelle Wissen. In dem Sinne, in dem ›Religion‹ als etwas definiert wurde, was Magie und Ritual überwunden hat, wurde auch das magisch-rituelle Handeln ausgeblendet. Damit ist die Forschung jedoch einer Position ge folgt, die letztlich auf der Ebene der deuteronomistischen Literatur liegt. So zieht das Prophetengesetz in Dtn 18,9 –22 eine Demarkationslinie durch ein Spektrum religiöser Spezialisten und erklärt allein den Propheten zum Verkünder des göttlichen Willens.30 Eine solche Sicht wird jedoch dem religionsgeschichtlichen Befund nicht gerecht. Vielmehr zeigt sich, dass gel äufige Kategorien wie ›Prophet‹, ›Weiser‹ oder auch ›Magier‹ letztlich einen Zusammenhang zerschneiden, der im altorientalischen Weltbild begründet ist und nicht auseinandergetrennt werden kann.31 Das magisch-mantische Wissen gehört wesentlich zum Aufgabenspektrum eines religiösen Spezialisten, so wie Beispiele aus Ägypten belegen, dass die religiösen Spezialisten über edukatives Wissen in Form von Weisheitslehren verfügten, sich in Beschwörung und Zauberei auskannten und zudem medizinische Kenntnisse hatten.32 Auch wenn es immer wieder Stimmen gibt, die auf diesen Zusammenhang hinweisen und beispielsweise die Bedeutung von Magie im Alten Testament betonen, 33 gilt es, die weitere Bedeutung dieses Zusammenhangs – beispielsweise das Wechselspiel zwischen Ma gie und Medizin34 – erst noch zu entdecken und für die religionsgeschichtliche Arbeit am Alten Testament fruchtbar zu machen.35 Für den religionsgeschichtlichen Vergleich als solchen lässt sich festhalten, dass die Konzepte, Begriffe und schließlich die Kriterien der Textauswahl kritisch reflektiert werden müssen, da man an sonsten Gefahr läuft, Forschungsparadigmen des 19. Jh.s unkritisch weiterzutragen.36

Der zweite Aspekt, der im Hinblick auf den Vergleich zwischen ägyptischer und alttestamentlicher Literatur zu beachten ist, be trifft die Rezeptionsprozesse selbst. So wird die komparatistische Forschung deutlich st ärker den Blick vom Einzelmotiv ab- und zu den Prozessen der Literaturbildung hinwenden m üssen. Auch hier ein Beispiel.
Die bekannte Lehre des Amenemope, die in einem engen Verhältnis zu Prov 22,17–24,22 steht, kann in einem breiten Traditionsstrom ägyptischer Weisheitslehren verortet werden, der vom Alten Reich bis in griechisch-r ömische Zeit hineinreicht. Dabei wurden bestimmte klassische Texte tradiert und im Schulwesen überliefert. Die erhaltenen Schülerhandschriften der Lehre des Amene mope lassen beispielsweise erkennen, dass speziell der Anfang und das Ende eines Kapitels der Lehre als eine Art mnemotechnische Hilfe aufgeschrieben wurde. Wenn man damit nun die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Prov 22,1 7–24,22 und der Lehre des Amenemope vergleicht, so zeigt sich, dass diese erstaunlich genau den Gesetzmäßigkeiten entsprechen, wie sie in den ägyptischen Lehren begegnen. Offenbar hat der Verfasser der Proverbienpassage die ägyptische Weisheitslehre in der Weise für die Konzeption seines eigenen Textes genutzt, wie der ägyptische Autor der Lehre des Amenemope es mit den ihm vorliegenden Weisheitstexten gemacht hat.37
Im Fall der Lehre des Amenemope, die aus dem Neuen Reich (20. Dynastie, 12./11. Jh.) stammt, zeigt sich die Tradierung bis in die 26. Dynastie und damit in das 7. Jh. hinein. 38 Dabei finden sich Zitate aus der Lehre auch in den Gräbern der Zeit. Innerhalb der Ägyptologie wurde diese Periode Ägyptens, die sog. ›Spätzeit‹, in den vergangenen Jahren genauer untersucht, wobei sich ein für die komparatistische Forschung zum Alten Testament höchst interessanter Befund ergab. So zeigt sich eine Art ›relecture‹ älterer Texte, bei der diese verändert und in neue Literaturwerke integriert werden. Im Hinblick auf die Weisheitsliteratur ist be sonders die saitische Lehre des p. Brooklyn 47.218.135 interessant. Der erstmals von Richard Jasnow publizierte Text datiert in die 26. Dynastie und nimmt eine Zwischenstellung ein zwischen den Lehren des Neuen Reiches und den demotischen Weisheitslehren (Anchscheschonqi, Insinger), bei dem nun auch Zitate aus älteren Lehren (z. B. Djedefhor) begegnen.39 Eine solche Kenntnis der klassischen Lehren im 7./6. Jh. ist insofern nicht erstaunlich, da diese handschriftlich dort bezeugt sind. So fanden sich Ab schriften der Lehren des Cheti, des Ani, des Hordjedef, des Amenemet und schließlich des Amenemope auf Papyri der 25. und 26. Dynastie.40 Gleiches gilt für die religiöse Literatur Ägyptens wie das Totenbuch, die Sargtexte oder auch die Hymnen. So findet sich beispielsweise im Grab des Petamenophis (TT 33 – 26. Dynastie) eine regelrechte Anthologie von Hymnentexten mit Ausschnitten aus dem Stundenritual, dem Totenbuch (Kapitel 15) oder dem sog. kulttheologischen Traktat – ein Text, der auch gerne in religionsgeschichtlichen Zusam menstellungen ägyptischer Literatur zum Alten Testament genannt wird. 41

Der entscheidende Punkt ist, dass es sich beim Petamenophisgrab um das Grab eines hohen Beamten handelt. So zeigt sich in der Saitenzeit eine Entwicklung, bei der zuvor k önigliche Texte nun bei einer (vermutlich noch recht kleinen) Elite bekannt sind und beispielsweise auch au ßerhalb der Tempelbibliothek von Theben schriftliche Vorlagen daraus verwendet wurden.42 Man hat somit nicht nur die Texte selbst belegt, sondern auch deren Verbreitung.


III.


Wenn man schließlich 100 Jahre nach Albrecht Alt und Hugo Gressmann nach den Ansatzpunkten für die weitere Forschung fragt, so bestehen diese vor allem in der Entdeckung der demotischen Literatur für das Alte Testament. Nachdem Albrecht Alt auf das 1. Jt. aufmerksam gemacht, sich jedoch auf dessen erste Hälfte be­schränkt hatte, sollte nun der Fokus auf dessen zweite Hälfte, angefangen mit der 26. Dynastie und dem ausgehenden 7. Jh. gelenkt werden. Denn hier sind nicht nur die skizzierten literarischen Prozesse greifbar, bei denen es zu einer Öffnung der Tempelarchive kam und die klassischen älteren Texte, seien es die Weisheitslehren oder die Jenseitsliteratur, breiter rezipiert wurden, sondern es wurden nun auch unter Rückgriff auf ältere Literatur neue Texte geschrieben. Diese Literatur wurde bereits vereinzelt für religionsgeschichtliche Fragen herangezogen, so z. B. die demotischen Weisheitslehren des Papyrus Insinger, des Anchscheschonqi, oder prophetisch-apokalyptische Texte wie das Lamm des Bokchoris oder das Töpferorakel. Die Materialbasis ist jedoch in den letzten 20 Jahren um ein Vielfaches gestiegen, wie ein aktueller Überblick zur ägyptischen Literatur zeigt. 43 So findet sich eine wahre Fundgrube an Texten in der im Jahr 2007 veröffentlichten »Anthologie demotischer Texte« von Joachim Friedrich Quack und Friedhelm Hoffmann. Diese beinhaltet zum einen neue Weisheitstexte, die für die Erforschung der alttestamentlichen Weisheitsliteratur relevant sind, aber auch literarische Werke, die für die Frage der Komposition von Literaturwerken interessant sind und die beispielsweise Aufschluss darüber geben, wie in Ägypten die eigene Vergangenheit konstruiert wurde. 44 Bemerkenswert ist dabei das Zusammenfließen eigener, sprich ägyptischer Traditionen, mit anderen, vor allem griechischen Traditionen.45

Besondere Aufmerksamkeit verdienen jedoch zwei Werke, die für die alttestamentliche Literatur- oder Religionsgeschichte bislang noch überhaupt nicht herangezogen wurden: das sog. ›Thotbuch‹ und das ›Buch vom Tempel‹. Ersteres bezeichnet ein ägyp­tisches Literaturwerk aus römischer Zeit, dass jedoch in vorptolemäische Zeit zurückgeht und im Jahr 2005 von Richard Jasnow und Karl-Theodor Zauzich erstmals veröffentlicht wurde.46 Auch wenn die Diskussion in der Ägyptologie über bestimmte Lesungen bis hin zur Frage der Anordnung einzelner Fragmente noch nicht abgeschlossen ist,47 so können anhand zweier mittlerweile vorliegender Übersetzungen doch einige Punkte skizziert werden:48

Inhalt des Textes ist ein Dialog zwischen einem »Weisheitsliebenden« (äg. mrj-rh˘ ) und seinem Mentor. Ziel des Dialogs ist eine Einführung in eine Art Geheimwissen, konkret in eine »Kammer der Finsternis«. Dabei stellt der Mentor, der zugleich Examinator ist, bestimmte Fragen, auf die der Kandidat antworten muss. So heißt es zu Beginn des Textes: »Wer bist du, was für einer ist es, der dich gesucht hat?«, worauf der Kandidat antwortet: »Ich, der Weisheitsliebende, bin es, den er gesucht hat.«49 In der Folge wird geschildert, dass vom Kandidaten zunächst niedere Arbeiten sowie Enthaltsamkeit erwartet werden, wobei der Text auch die verschiedenen Formen der Unterweisung diskutiert: »Leitest du den an, der zu handeln versteht, oder ist es eine Belehrung des Weisen, die man vornimmt? Ist es der Vater, der seinem Sohn Gestalt gibt, oder der Zwang des Stockes, oder ist es der Schulmeister, der ihn belehrt?«50 Schließlich tritt der Kandidat in die Kammer der Finsternis ein, es folgt eine Benennung der Landesteile Ägyptens und schließlich – sofern man den an dieser Stelle schwer lesbaren Text dahingehend interpretieren darf – eine Kosmogonie.

Das Erstaunliche an dem Text ist, dass er mit seinem Konzept des geheimen und unzugänglichen Wissens einerseits den späteren griechisch überlieferten Hermetika nahesteht,51 jedoch ganz traditionell in der klassischen ägyptischen Geisteswelt verhaftet ist. So findet sich beispielsweise das Motiv der Befragung auch in der Hungersnotstele, so wie es auch Bezüge zu anderen Texten aus ptolemäischer Zeit gibt.52

Der zweite Text, der Aufmerksamkeit verdient, ist das sog. »Buch vom Tempel«. Dabei handelt es sich um ein bislang nur in Teilen bekanntes Literaturwerk, das derzeit von Joachim F. Quack bearbeitet wird und zu dem dieser bereits einige Vorberichte veröffentlicht hat.53 Drei Aspekte sollen an dieser Stelle kurz angerissen werden.

Das »Buch vom Tempel«, welches mit etwa 40 Handschriften, die zum Teil in hunderte von Fragmenten zerfallen, reich bezeugt ist, enthält eine historisierende Einleitung, in der ein höchst interessanter Überblick zur Geschichte Ägyptens gegeben wird.54 So soll zur Zeit des Cheops ein altes Dekret des Königs Neferkasokar aus der 2. Dynastie gefunden worden sein. Diese Schrift wurde, so der Text, »im Tempel des Atum, des Herrn von Heliopolis gefunden, als man Schriften suchte im Bücherhaus in einer verfallenen Kammer.«55 In der Folge wird berichtet, dass es eine siebenjährige Hungersnot gegeben hat, in der die Tempel in Ägypten verfielen. Nach dem Wiedereinsetzen der Nilüberschwemmung träumte der Pharao davon, dass er sämtliche Tempel in ganz Ägypten restaurieren lassen soll. Das darüber verfasste Dekret wurde von dem Prinzen Djedefhor aufgefunden und einem Wesir zur Ausführung übertragen, der die Arbeiten Pharaos im ganzen Land leitete. Seine Aufgabe war es, diese Vorschriften bei der Gründung eines jeden Tempels in Ägypten umzusetzen, einschließlich des Tempelpersonals.

Bereits die grobe Inhaltsangabe zeigt, dass der Text motivgeschichtlich hochinteressant ist und einige Motive benennt, die auch in der alttestamentlichen Literatur zu finden sind. Die Frage ist jedoch, ob man, anstatt nun nach der Bedeutung der siebenjährigen Hungersnot oder dem Wesir, der gleichsam zweiter Mann im Staate ist, zu fragen, nicht eher bei der literarischen Komposition selbst ansetzten sollte. Denn der eigentlich interessante Aspekt ist, dass hier ein Literaturwerk vorliegt, bei dem durch Rückgriff auf eine uralte Zeit und den Fund eines Buches ein »ordnungspolitischer Grundsatztext« legitimiert werden soll. 56 Es handelt sich um eine Art Kodifizierung, die durch ein literarisches Stilmittel inszeniert wird – die Autorität des hohen Alters und die Rückführung auf besonders prominente Figuren der ägyptischen Geschichte. Dabei werden bekannte Motive eingebunden, wie beispielsweise die Tradition vom Prinzen Djedefhor als Entdecker alter Schriften, die bereits im Totenbuch begegnet.57 Hinzu kommt der Bezug auf Pharaonen des Alten Reiches und damit der Zeit der Pyrami-den – einer Epoche, die speziell in der ägyptischen Spätzeit, d. h. ab dem 7. Jh., von hoher Bedeutung war. So findet sich bereits bei Psammetich I. und Necho II. (26. Dynastie) ein verstärktes Auftreten von Pharaonennamen aus dem 3. Jt. wie beispielsweise Mykerinos oder der des legendären Reichsgründers Menes, die auch auf Siegelamuletten genannt werden, welche wiederum in Palästin a/Israel gefunden wurden.58 In der Komposition des Buches vom Tempel hat dieser Bezug die Funktion, die Königsdekrete über Tempelbau und -erneuerung als uralte Weisung der Herrscher aus dem Alten Reich auszuweisen. Darauf folgen dann der eigentliche Maßnahmenkatalog, ein Bauabschnitt mit Benennung des jeweiligen Ortes der Gottheiten (wo zwischen himmlischen und unterirdischen Göttern unterschieden wird)59 sowie ein ausführlicher Abschnitt zu den Pflichten der Priester bis hin zu deren materieller Versorgung und Benennung der Personen, die auf Grund von körperlichen oder charakterlichen Mängeln nicht zum Priesterdienst geeignet sind.60 All dies ist jedoch nicht die Beschreibung eines konkreten Tempels, sondern vielmehr ein programmatischer Text mit uto­pischen Zügen.61

IV.


Die hier nur grob umrissenen Textbeispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass die alttestamentliche Forschung gut daran tut, sich von einem Paradigma zu verabschieden, bei dem man vor allem ägyptische Texte des 2. Jt.s heranzog. Stattdessen sollte sich die alttestamentliche Forschung auf das 1. Jt. und da speziell auf die Zeit ab dem 7. Jh. konzentrieren. Denn in dieser historischen Phase kam es nicht nur erstmals zu umfangreichen kulturellen Kontakten zwischen Israel und Ägypten, sondern auch zu einer ›relecture‹ älterer Traditionen. Diese führte dazu, dass die klassischen Texte Ägyp tens in dieser Zeit bekannt waren und zugleich von ihnen aus­gehend neue Texte verfasst wurden, die für die Frage der Literatur­bildung höchst aufschlussreich sind und das Feld für neue komparatistische Untersuchungen bereiten. So zeigt beispielsweise die Einleitung des Buches vom Tempel, dass es möglich war, die Geschichte eines uralten Dekrets aus der Zeit des Königs Cheops zu schreiben, die rein fiktional ist und ausschließlich die (literarische) Funktion hat, einen seinerseits utopischen Text zu legitimieren.

Der religionsgeschichtliche Vergleich kann somit dazu führen, die literarischen Prozesse selbst in den Blick zu nehmen, sofern man das Hauptaugenmerk nicht auf das Einzelmotiv lenkt, sondern die literarische Komposition und ihr intertextuelles Bezugsfeld ernst nimmt. Wenn dies umgesetzt würde und beispielsweise auch die Textsammlungen altorientalischer Literatur zum Alten Testament sich ebenfalls stärker auf das 1. Jt. konzentrieren würden, so wäre nach Ansicht des Autors dieses Beitrages ein großer Schritt getan zu einem besseren Verständnis der alttestamentlichen Literatur in ihrem religionsgeschichtlichen Umfeld.

Summary


100 years after Albrecht Alt’s dissertation on »Israel und Ägypten« (Israel and Egypt, 1909), the present article examines recent insights and new perspectives on this issue. Scholarship has tended to focus primarily on Egyptian texts from the 2nd millennium B.C.E., while the literature from the historical period where ›Israel‹ and ›Egypt‹ existed as autonomous entities was mostly overlooked. Against the backdrop of the recently rediscovered literature from the so-called ›Late Period‹ of Egypt (and especially the Demotic literature) this article argues for a change of paradigm.

Following Albrecht Alt who in 1909 drew attention to the importance of the first half of the 1st millennium B.C.E., recent scholarship should give particular consideration to Egyptian literature from the 7th century onwards. In this historical period we find in Egypt both a number of older texts as well as new literature such as the ›Book of the Temple‹ or the ›Book of Thoth‹, all of which open the field for new comparative studies on the relationship between Israel and Egypt.

*) Ed Noort zum 65. Geburtstag.

Fussnoten:

1) Israel und Ägypten (BWANT 6), Leipzig 1909.
2) Champollion le Jeune, Lettres écrites d’Egypte et de Nubie en 1828 et 1829, Paris 1868, 80 f.
3) Bd. 1, Leipzig 1868, ein zweiter Band ist nie erschienen.
4) A. a. O., 36.115. Vgl. auch H. Fischer, Der Ägyptologe Georg Ebers (ÄAT 25), Wiesbaden 1994, 214 f.
5) In einem dem Vf. vorliegenden Exemplar von Alts Arbeit findet sich ein der Dissertation beigefügter Lebenslauf, in dem Albrecht Alt die Orientalisten Jacob, Zimmern, Weissbach, Hommel und Lidzbarski als akademische Lehrer angibt. Von Otto Eissfeldt weiß man, dass Alt bereits als Gymnasiast Hebräisch und »andere morgenländische Sprachen« lernte, vgl. KS III (1966), 237.
6) Vgl. R. Smend, Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 191.
7) Vgl. dazu Anm. 11 und 12.
8) Vgl. z.B. die Arbeiten von Antonio Loprieno (Basel), Thomas Schneider (Vancouver) und John Baines (Oxford).
9) G. Burkard/H. J. Thissen, Einführung in die altägyptische Literaturgeschichte I. Altes und Mittleres Reich (Einführungen und Quellentexte zur Ägyptologie 1), Münster 2003 (32008), 27 (Hervorhebung im Original). Es handelt sich um ein Zitat des Tübinger Ägyptologen Wolfgang Schenkel.
10) Das Werk ist 1986 in zweiter Auflage erschienen und wurde 1995 mit einem ausführlichen neuen Vorwort versehen.
11) Vgl. ders., On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids 2003.
12) Vgl. z. B. den international anerkannten Ägyptologen Miroslav Barta, der in seinem Buch »Sinuhe, the Bible, and the Patriarchs« (Prag 2003) völlig unkritisch die Geschichte des Sinuhe mit der (historischen) Zeit des Abraham korreliert.
13) Vgl. H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen (GAT 4/1), Göttingen 42008, 97–111, bes. 104.
14) Vgl. dazu den Exkurs bei W. H. Schmidt, Exodus 1,1–6,30 (BK II/1), Neukirchen-Vluyn 1988, 38.
15) Die Passage stammt aus Pap. Anastasi IV, 51–61, Übersetzung: TGI, 40 f.
16) Vgl. zum Problem des Sibilanten E. A. Knauf, Midian. Untersuchungen zur Geschichte Palästinas und Nordarabiens am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr., Wiesbaden 1988, 104 f., und für eine Neubewertung von Ex 1,11 W. Os­wald, Staatstheorie im Alten Israel, Stuttgart 2009, 83 f.
17) Vgl. für Josia den Artikel von N. Na’aman, The Kingdom of Judah under Josiah, Tel Aviv 18 (1991), 3–71.
18) Vgl. dazu B. U. Schipper, Israel und Ägypten in der Königszeit. Die kulturellen Kontakte von Salomo bis zum Fall Jerusalems (OBO 170), Fribourg-Göttingen 1999, 119–132.
19) ZDMG 63 (1909), 531–539.
20) H. Ranke, Art. Aegypten, RGG I (1909), Sp. 169–208.
21) Vgl. H. Gressmann, Altorientalische Texte und Bilder zum Alten Testament, Tübingen 1909, V.
22) Ancient Near Eastern Texts: Relating to the Old Testament, 1950; The Ancient Near East in Pictures: Relating to the Old Testament, 1954.
23) Beyerlins Textbuch hat 12 Abbildungen, bei TUAT.NF ist mit Bd. 11 ein Bildband geplant.
24) Vgl. a. a. O., 7 f.
25) Vgl. K. Koch, Das Wesen altägyptischer Religion im Spiegel der ägyptologischen Forschung, Hamburg 1989, 69.
26) A. Alt, Syrien und Palästina im Onomastikon des Amenope (1950), Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel I, München 21959, 216–230.
27) Text bei A. H. Gardiner, Ancient Egyptian Onomastica, Oxford 1947, 1*.
28) Vgl. dazu D. Römheld, Die Weisheitslehre im alten Orient (BN.B 4), München 1989, 18–24.
29) Vgl. dazu auch A. von Lieven, Das Göttliche in der Natur erkennen, ZÄS 131 (2004), 156–172, hier: 158 f.
30) Vgl. U. Rüterswörden, Von der politischen Gemeinschaft zur Gemeinde (BBB 65), Frankfurt 1987.
31) Vgl. für das Beispiel der Prophetie die wegweisende Studie von E. Noort, Untersuchungen zum Gottesbescheid in Mari. Die »Mariprophetie« in der alttestamentlichen Forschung (AOAT 202), Neukirchen-Vluyn 1977.
32) Vgl. dazu den bekannten Fund aus dem Ramesseumsgrab, J. F. Quack, Zur Lesung und Deutung des Dramatischen Ramesseumpapyrus, ZÄS 133 (2006), 72–89, hier: 72 f.
33) Wegweisend R. Albertz, Art. Magie II. Altes Testament, TRE 21 (1991), 691–695, und R. Schmitt, Magie im Alten Testament (AOAT 313), Münster 2004.
34) Vgl. dazu C. Leitz, Rabenblut und Schildkrötengalle: Zum vermeintlichen Gegensatz zwischen magisch-religiöser und empirisch-rationaler Medizin, in: A. Karenberg/C. Leitz (Hrsg.), Heilkunde und Hochkultur II, Münster 2002, 49–73.
35) Vgl. dazu TUAT.NF 4 (Omina, Orakel, Rituale und Beschwörungen) und den im Erscheinen begriffenen Bd. 5 (Medizinische Texte/Texte zur Heilkunde).
36) Die Unterscheidung von Magie und Religion geht letztlich auf Positionen des 19. Jh.s zurück (»vom Animismus zum Theismus«), vgl. H. G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, München 1997, 83.
37) Vgl. dazu B. U. Schipper, Die Lehre des Amenemope und Prov. 22,17–24,22, ZAW 117 (2005), 53–72.232–248.
38) Eine Neubearbeitung des Textes findet sich bei V. Laisney, L’Enseignement d’Aménémopé, Rom 2007.
39) Vgl. R. Jasnow, A Late Period Hieratic Wisdom Text (p. Brooklyn 47.218.135), (SAOC 52), Chicago 1992. S. auch F. Hoffmann/J. F. Quack, Anthologie demotischer Texte, Münster 2007, 230–238.
40) Vgl. dazu die Zusammenstellung bei U. Verhoeven, Von hieratischen Literaturwerken der Spätzeit, in: J. Assmann/E. Blumenthal (Hrsg.), Literatur und Politik im pharaonischen und ptolemäischen Ägypten (BdE 127), Kairo 1999, 255–265, hier: 259.
41) Vgl. dazu J. Assmann, Sonnenhymnen in thebanischen Gräbern, Theben 1, Mainz 1983, XXXIV, und ders., TUAT II, 836 f.
42) So J. Kahl, Siut – Theben. Zur Wertschätzung von Tradition im Alten Ägypten (PdÄ 13), Leiden u. a. 1999, 287. Vgl. auch J. F. Quack, Grab und Grabausstattung im späten Ägypten, in: A. Berlejung/B. Janowski (Hrsg.), Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt (FAT 64), Tübingen 2009, 597–629, bes. 608–613.
43) Vgl. J. F. Quack, Einführung in die altägyptische Literaturgeschichte III. Die demotische und gräko-ägyptische Literatur (Einführungen und Quellen­texte zur Ägyptologie 3), Münster 22009.
44) Vgl. dazu beispielsweise die Setnegeschichten: F. Hoffmann/J. F. Quack, Anthologie, 118–152.
45) Ein Beispiel dafür ist das Töpferorakel, vgl. dazu L. Koenen, Die Apologie des Töpfers, in: A. Blasius/B. U. Schipper, Apokalyptik und Ägypten (OLA 107), Leiden u. a. 2002, 139–187, hier: 172.
46) The Ancient Egyptian Book of Thoth. A Demotic Discourse on Know­ledge and Pendant to the Classical Hermetica, Wiesbaden 2005.
47) Vgl. dazu die Rezension von J. F. Quack, Die Initiation zum Schreiberberuf im Alten Ägypten, SAK 36 (2007), 249–295.
48) Neben der Übersetzung von Jasnow/Zauzich hat J. F. Quack eine eigene Übersetzung des Textes vorgelegt: Ein ägyptischer Dialog über die Schreibkunst und das arkane Wissen, Archiv für Religionsgeschichte 9 (2007), 259–294.
49) Vgl. Quack, Initiation, 251.
50) Quack, Initiation, 254.
51) Vgl. zum Wissenskonzept des Thotbuches T. Schneider, Knowledge and Knowledgeable Persons in Ancient Egypt, in: L. Perdue (Hrsg.), Sribes, Sages, and Seers (FRLANT 219), Göttingen 2008, 35–46.
52) Vgl. Quack, a. a. O., 260–262, und die Statue Kairo JdÉ 37327 mit der biographischen Phrase: »Einer, der eingedrungen ist in die Geheimnisse der Schriften des Re, der von der Wahrheit lebt.«
53) J. F. Quack, Das Buch vom Tempel und verwandte Texte. Ein Vorbericht, Archiv für Religionsgeschichte 2 (2000), 1–20; ders., Der historische Abschnitt des Buches vom Tempel, in: E. Blumenthal/J. Assmann (Hrsg.), Literatur und Politik im pharaonischen und ptolemäischen Ägypten (BdE 127), Kairo 1999, 267–278. Vgl. auch ders., Organiser le culte idéal. Le Manuel du temple égyptien, BSFÉ 160 (2004), 9–25; ders., Die Theologisierung der bürokratischen Norm. Zur Baubeschreibung in Edfu im Vergleich zum Buch vom Tempel, in: R. Preys (Hrsg.), 7. Ägyptologische Tempeltagung, Wiesbaden 2009, 221–229.
54) Vgl. dazu Quack, Buch vom Tempel, 3 f.
55) Zitiert nach der Übersetzung von Quack, Der historische Abschnitt, 274.
56) Quack, Der historische Abschnitt, 277.
57) Vgl. dazu P. Vernus, Essai sur la conscience de l’Histoire dans l’Égypte pharaonique, Paris 1995, 113 f.
58) Vgl. O. Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus (OLB IV/1), Göttingen 2007, 513 f.
59) Vgl. Quack, Der historische Abschnitt, 269.
60) So wird beispielsweise das Tempelpersonal auf Aussatz hin untersucht, vgl. Quack, Das Buch vom Tempel, 13.
61) Vgl. Quack, a. a. O., 3.