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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1160–1162

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reinmuth, Eckart

Titel/Untertitel:

Pseudo-Philo und Lukas. Studien zum Liber antiquitatum Biblicarum und seiner Bedeutung für die Interpretation des lukanischen Doppelwerks

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. XI, 284 S. gr. 8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 74. DM 198,­. ISBN 3-16-146174-6

Rezensent:

Samuel Vollenweider

Die Studie von E. Reinmuth, 1992/93 in Jena als Habilitationsschrift angenommen, kreist um das Verhältnis zweier recht breiter Erzählwerke aus dem frühjüdischen bzw. frühchristlichen Bereich: Liber Antiquitatum Biblicarum (= LibAnt) und lukanisches Doppelwerk. Das Ziel der Arbeit ist die Ausleuchtung des frühjüdischen Hintergrundes, vor dem die Geschichtserzählung des Lukas deutlicheres Profil erhält. Näherhin geht es um eine Vorarbeit für die stärkere Berücksichtigung des LibAnt für das Verständnis des Neuen Testaments.

Tatsächlich hat der LibAnt bis heute nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden, obschon hier doch eine frühjüdische Schrift wahrscheinlich des 1. Jh. n. Ch. vorliegt. R. hält sich freilich hinsichtlich der strittigen Näherbestimmung der Entstehungsumstände auffallend zurück (17-26); er scheint einer Datierung eher nach 70 zuzuneigen und gibt zu bedenken, ob sich die Indizien, die auf die Zeit davor hindeuten, als "Niederschlag der konkreten Erinnerung und Reflexion über die ­ in der Perspektive Pseudo-Philos theologischen ­ Ursachen dieser Katastrophe" einordnen lassen (25). Auch bei der Gattungsbestimmung des Werks sieht der Vf. keinen Innovationsbedarf; LibAnt stellt eine (midraschartig ausgearbeitete) Geschichtserzählung dar (14-17; vgl. 126).

Das Interesse von R. gilt vielmehr der erzähltextanalytischen Arbeit am LibAnt (27-127). Ps.-Philo erzählt Geschichte als kontinuierlichen, lückenlosen Geschehenszusammenhang, freilich mit einem hohen Anteil von metanarrativen Elementen (reflektierende bzw. summierende Bemerkungen, Rückverweisungen auf Nichterzähltes). Das strukturierende Formmuster der einzelnen Erzählabschnitte ist das Dreierschema von Exposition, ausgeführtem Mittelteil (vorzüglich umfangreiche Reden) und Schlußteil (Coda); der Mittelteil gibt jeweils die narrativen Akzentuierungen und theologischen Intentionen von Ps.-Philo deutlich zu erkennen (111-118). "Die primäre Absicht des Autors besteht nicht darin, vergangene Geschichte lediglich paraphrasierend neu zu erzählen, sondern sie neu zu interpretieren und zu bewerten." (246) Besondere Aufmerksamkeit schenkt R. der Art und Weise des Rückgriffs auf die Schrift, auf den vorgegebenen biblischen Text, und dabei fällt der konsequente Einbezug von durchaus nicht minderbewerteten außerbiblischen haggadischen Erzählinhalten auf.

Der zweite Teil der Arbeit gilt nun den Übereinstimmungen zwischen Lukas und Ps.-Philo (129-249), die partiell zwar schon in der früheren Forschung erkannt worden sind (131; 155), nun aber von R. in einen umfassenden narratologischen Horizont gestellt werden. Zunächst konzentriert er sich auf hervorstechende Konvergenzen im Sprachgebrauch, insbesondere auf das Verständnis Israels als Gottes "Volk" und die Verhältnisbestimmung zu den "Heiden". Auch hinsichtlich des bei Lk bedeutsamen Begriffs des "Weges" erweist sich der LibAnt als aufschlußreich (136); ferner interessieren R. die gehäuften Referenzen auf bestimmtes theologisches Wissen (Erkenntnisformeln vom Typ "jetzt weiß ich, daß...", 137-142). Es folgen "vergleichende Beobachtungen zu Kompositionsprinzipien und literarischer Gestaltung" bei Lk und im LibAnt (143-154), in denen die Ergebnisse des ersten Teils fruchtbar gemacht werden (summierende Elemente; Rückverweise auf nichterzählte biblische Erzählinhalte). Den größten Raum nehmen sodann "Beobachtungen zu sprachlichen und motivischen Analogien" zwischen LibAnt und Lk ein (155-210): Hier sind vornehmlich die Kindheitsgeschichten mit einer dichten "Wolke" von Übereinstimmungen zu nennen (155-167), ferner Jüngergeschichten, Geistmotivik, Stephanusrede u.a. Die einzelnen Parallelen sind zwar sehr erhellend, aber meines Erachtens nicht sehr ergiebig für eine spezifizierte These, die mehr als nur etwas zufällig verteilte Erzählweisen erfassen will. Stärker in die theologischen Profile führen die Analysen zum Schriftbezug (u. a. explizite Zitationen!) im LibAnt und im lukanischen Doppelwerk (211-244). Spannend sind hier v. a. Beobachtungen zum Gedanken der erfüllten Schrift und der erfüllten Zeit im LibAnt (221 ff.); Geschichte erscheint hier "als Erfüllung des Gotteswortes" (228), sie ist von Gottes Wort und planvollem Handeln getragen Sogar die historisch "erfüllte Zeit" gegenüber vorgängiger Unzeit läßt sich im LibAnt für die Zeit von Saul und David namhaft machen (230-232); dazu kommen gelegentliche Verweise auf die eschatologische Zeiterfüllung (229f). Endlich wird R. auch für den Begriff des "Zeugen" im LibAnt fündig (237-244). Lukas´ wie Ps.-Philos "Zeugenbegriff bezieht sich auf das die Schrift auslegende und bewahrheitende Handeln Gottes", für beide wird "der Zeuge durch Offenbarung konstituiert" (242 f.). Im ganzen zeigt sich: "Die Übereinstimmungen im Schriftbezug beider Autoren deuten darauf hin, daß beider Schrift- und Selbstverständnis grundlegende Analogien aufweist. (249)

Der Abschluß zieht die Summe (245-249). Über das bereits Referierte hinaus wird die Lk und LibAnt verbindende identitätskonstituierende Funktion der im Erzählen reflektierten, gedeuteten und vergegenwärtigten Geschichte für die jeweiligen Adressaten herausgestellt (246f). R. gibt hier sein eigentliches historisch-theologisches Anliegen zu erkennen: Er will Lukas nicht wie heute gängig als ´Hellenisten´ und Heidenchristen verstehen, sondern ihn vorzüglich vor einem frühjüdischen Hintergrund interpretieren, wie dieser exemplarisch vom LibAnt repräsentiert wird (131; 142; 154; 247; 249). Die "zweifellos hellenistischen Elemente" (bes. Erzählkonventionen) könnten erst so "eine sachgemäßere Zuordnung und Bewertung erfahren" (249).

Die verdienstvolle Arbeit verdient besondere Beachtung, weil sie dank einer sorgfältigen Textanalyse eines wichtigen Werkes antiker jüdischer Literatur hervorstechende Eigenarten der lukanischen Kompositionsweise und Erzählstrategie beleuchtet. Der Leser wird lediglich eine knappe Gesamtdarstellung "der Geschichtstheologie" des LibAnt vermissen. Etwas Unbehagen stellt sich ein, wenn R. prononciert das interpretierende Wesen des Erzählens von Geschichte durch den LibAnt (und durch Lk) herausstellt, als ob es überhaupt (zumal im Altertum, aber auch unter neuzeitlichen Bedingungen) ein schlichtes Nacherzählen und Paraphrasieren von geschichtlichen Dingen (bzw. von Bibelinhalten) gäbe (R. selbst erinnert 4-7 an geschichtsphilosophische Einsichten). Diskussionswürdig wird aber vor allem die Heimholung des Lukas in das Frühjudentum sein, die vom Vf. gegenüber aller hellenistischer Einordnung favorisiert wird.

Hier stellen sich die bekannten Fragen nach dem historiographischen Anliegen des lukanischen Doppelwerks, das in einem viel größeren Zusammenhang zu verorten ist. Soweit ich sehe, verzichtet R. beispielsweise ganz auf die Auseinandersetzung mit dem Projekt der neuen "Beginnings of Christianity", der Reihe "The Book of Acts in its First-Century Setting". Es läßt sich eben nicht übersehen: Lk greift in viel höherem Maß auf historiographische Konventionen seiner hellenistischen (und damit auch jüdischen!) Umwelt zurück, als es der (ursprünglich wohl hebräisch geschriebene) palästinische LibAnt tut (man vergleiche nur den jeweiligen Anfang der Werke). Die Grenzziehungen von R. (Frühjudentum vs. Hellenismus/Heidenchristentum) müßten dann noch einmal grundsätzlich problematisiert werden.