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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1146–1148

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Stoeckl, Kristina

Titel/Untertitel:

Community after Totalitarianism. The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2008. 199 S. 8° = Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des orthodoxen Christentums, 4. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-631-57936-7.

Rezensent:

Joachim Willems

Die Studie stellt eine Dissertation dar, die am European University Institute in Florenz entstanden ist. Ihre Autorin Kristina Stöckl hat Vergleichende Literaturwissenschaften, Russland-Studien und Po­litikwissenschaft studiert. Dass sie sich, aus diesen Fachrichtungen kommend, mit der russischen Orthodoxie beschäftigt, belegt das in verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen gewachsene In­teresse an Fragen des Verhältnisses von Religion und Politik. Ein vorrangiges Interesse bei der Bearbeitung dieses Themas ist, ob Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und, allgemein gesagt, politische Mo­derne nur historisch oder auch systematisch auf die Konfessionskulturen des westlichen Christentums bezogen sind.
S. wählt nun den überaus fruchtbaren (und, nebenbei, sympathischen) Ansatz, Orthodoxie und Moderne gerade nicht als Gegensätze zu begreifen und von dieser Grundlage aus zu vergleichen, sondern orthodoxe Stimmen als moderne Beiträge zum politischen Diskurs der Moderne zu würdigen. Denn Ost- wie Westeuropa stünden vor der gemeinsamen Herausforderung, angesichts der Er­fahrung des Totalitarismus auf eine neue Art das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft zu durchdenken. Deshalb geht es S. darum, den »interpretative space of political modernity« zu be­schreiben und orthodoxe Stimmen in diesen interpretativen Raum einzuordnen. Zu diesem Zweck beginnt sie in Kapitel 1 mit Klärungen der Begriffe Totalitarismus (absolute Vergesellschaftung bei gleichzeitiger Atomisierung der Individuen) und Moderne (Modernisierung als Prozess und Modernität als ›condition‹).
In Kapitel 2 skizziert sie den westlichen Diskurs zu politischer Modernität entlang der Konzepte Freiheit, Vernunft und Gemeinschaft. Sie zeigt, wie diese Konzepte in den drei relevanten Strömungen der gegenwärtigen politischen Philosophie zueinander in Beziehung gesetzt werden. (Nach S. sind dies Liberalismus, Kommunitarismus und die postmoderne politische Philosophie, während etwa nicht-totalitäre sozialistische Ansätze leider nicht einmal erwähnt werden.) – Im dritten Kapitel wird die orthodoxe Tradition in Russland als modern und als Reaktion auf die Erfahrung des Totalitarismus analysiert. Dazu holt S. historisch weit aus und skizziert zentrale historische Stationen und Diskurslinien russischer orthodoxer Theo­logie mit Schwerpunkt auf der Zeit vom 19. bis ins 21. Jh. Dies ergänzt sie durch eine Darstellung, wie die russische Religionsphilosophie und Theologie der Emigration (Berdjajev, Florovskij, Losskij) in Griechenland rezipiert wurden (Yannaras, Zizioulas). Da­mit demonstriert S. die Pluralität von orthodoxen Haltungen zur Modernität. Diese Haltungen reichen, was kaum überrascht, »from an outright rejection of modernity to an in­formed and challenging engagement with it« (132). – In Kapitel 4 verschränkt S. die Beschreibungen der vorangegangenen Kapitel und vertieft sie. Dazu setzt sie die Anthropologie des russischen Philosophen Sergej Khoruzhij und die Überlegungen zu Freiheit und ›relatedness‹ bei Christos Yannaras in Beziehung zu Jean-Luc Nancy und Alasdair MacIntyre. – Ein Epilog skizziert schließlich im Anschluss an die genannten vier Denker Grundzüge einer post-totalitären politischen Philosophie entlang der Begriffe ›Freiheit‹, ›Praktiken‹ und ›Tradition‹ (177).
Unabhängig davon, aus welcher wissenschaftlichen Disziplin man kommt – man wird die Arbeit von S. mit großem Gewinn und Genuss lesen können. Denn S. verarbeitet auf hohem Niveau eine ungeheure Menge an Literatur unterschiedlicher Disziplinen, setzt sie zueinander in Beziehung und fördert damit überraschende Einsichten. Wenn dabei zuweilen der rote Faden aus dem Blick gerät, dann ist auch das anregend: Denn möglicherweise spiegelt sich in der Struktur des Buches eben ein postmoderner ›nicht-totalitärer‹ Ansatz wider, das Einzelne und die verschiedenen Traditionen in ihren Verflechtungen zu betrachten.
Verdienstvoll ist insbesondere, dass S. mit Sergej Khoruzhij dem westlichen Publikum einen bislang weitgehend unbekannten, aber offensichtlich überaus originellen Denker vorstellt und dem oft stereotypen westlichen Bild vom orthodoxen Russland weitere Nu­ancen verleiht. Deutlich wird damit, welche meist unbeachteten Potentiale die orthodoxe Tradition beinhalten kann. Allerdings, und dies ist eine notwendige Einschränkung: Es geht eben um Potentiale – und damit nur teilweise, wie es der Titel behauptet, um das Verhältnis ›der‹ russischen orthodoxen Tradition zum philosophischen Diskurs der politischen Modernität. Denn Khoruzhij ist, worauf S. selbst hinweist, eine absolute Randfigur im russischen orthodoxen Diskurs und findet so gut wie gar keinen Widerhall in der gegenwärtigen Russischen Orthodoxen Kirche, der orthodoxen Öffentlichkeit oder der politischen Debatte in Russland.