Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1144–1146

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Ratzinger, Joseph

Titel/Untertitel:

Theologie der Liturgie. Die sakramentale Be­gründung christlicher Existenz.

Verlag:

2. Aufl. Freiburg-Basel-Wien 2008. 757 S. m. 2 Abb. 8° = Josef Ratzinger – Gesammelte Schriften, 11. Lw. EUR 50,00. ISBN 978-3-451-29947-6.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Der Band eröffnet das ambitionierte Unternehmen des Regensburgers Bischofs Gerhard Ludwig Müller, die Schriften des gegenwärtigen Papstes – auf dessen Wunsch unter seinem bürgerlichen Namen – vollständig zu dokumentieren. Die liturgischen Arbeiten eröffnen als Band 11 das Unternehmen, weil dieses der »Prioritätenordnung des Konzils« folgen soll, das seine Arbeit 1963 mit der Li­turgiekonstitution »Sacrosanctum Concilium« (SC) begonnen hatte: »Gott zuerst, so sagt uns der Anfang mit der Liturgie«, so R. im Geleitwort zum Eröffnungsband (5). Liturgische Fragen stehen bekanntlich gegenwärtig im Mittelpunkt des Interesses, so dass der Band binnen Jahresfrist zum zweiten Mal aufgelegt wurde.
In der Liturgiewissenschaft hatte R.s Buch »Der Geist der Liturgie« aus dem Jahre 2000 (62002) starke und zum Teil kontroverse Resonanz gefunden; mit dem Wiederabdruck dieses Buches wird der vorliegende Band (als Teil A) eröffnet (29–194). Danach sind Aufsätze, Vorträge und Rezensionen seit dem Jahr 1966 in thematischer Anordnung zusammengestellt: Ein kurzer Teil B behandelt die Sakramententheologie (197–232); hier ist nochmals R.s Bemerkung aus dem Jahre 1966 nachzulesen, bei Odo Casels Mysterientheologie handele es sich um die »vielleicht fruchtbarste theologische Idee unseres Jahrhunderts« (197). Es folgt als die eigentliche Mitte des Bandes der Teil C zur Eucharistie als »Quelle und Höhepunkt des christlichen Lebens« (235–497). Mit der Überschrift wird wie in § 897 des CIC von 1983 die Eucharistie, aber nicht – wie in SC 10 – die Liturgie insgesamt als Quelle und Gipfelpunkt christlicher Existenz bezeichnet. Die Prioritäten werden damit eher wie in der Enzyklika »Mediator Dei« (MD) von 1947 gesetzt (nach MD 65 ist das eucharistische Mysterium »caput« und »centrum« des Christentums). Die Eucharistie ist auch dann nicht wertlos, wenn man nicht kommuniziert (630). Bereits der Untertitel des gesamten Bandes unterstreicht diese Sichtweise: Liturgie ist vor allem Eucharistie als sakramentale Ermöglichung christlicher Existenz. Der Gnadenstrom der Kirche erstreckt sich von Christus über die Apostel durch die geweihten Amtsträger und die Sakramente hinein in das Alltagsleben der Gläubigen, die durch das eucharistische Mysterium Anteil am Opfer Christi gewinnen und dadurch verändert werden. In diesem Verständnis, das eine deutliche Nähe zur orthodoxen Theosis erkennen lässt, wird auch der zentrale Begriff des Mess-Opfers definiert: »Worin also besteht das Opfer? Nicht in der Zerstörung, nicht in diesen oder jenen Dingen, sondern in der Verwandlung des Menschen. Darin, dass er selbst gottgemäß wird« (649, aus dem Jahre 2001).
Die Geschlossenheit von R.s Betrachtungsweise – in Denkweisen vor, während und erneut lange nach dem Konzil – kommt im gesamten Band und besonders in dem zentralen Teil über die Eucharistie in konzentrierter Weise zum Ausdruck. In Teil D (501–610) finden sich dann Überlegungen zur Theologie der Kirchenmusik und in Teil E (»Weiterführende Perspektiven«, 613–723) Diskussionen zu dem Buch »Der Geist der Liturgie« sowie Rezensionen, Interviews und Stellungnahmen. Ausführliche editorische Hinweise, bibliographische Nachweise sowie ein Schriftstellenregister und Namenregister beschließen den hervorragend ausgestatteten und ebenso lektorierten Band.
Das Grundverständnis der Liturgie bei R. hängt mit der organologischen Wachstumsmetapher zusammen, die – im weiteren Um­feld bzw. im Einflussbereich der Jugendbewegung – durch J. A. Jungmanns genetische Messerklärung in seinem großen Werk »Missarum Sollemnia« (1948) prägend wurde. – Die Liturgie ist danach das von selbst Wachsende, auf das der Mensch – wenn überhaupt – nur sehr vorsichtig Einfluss nehmen darf. Die Oppositionen von »geworden« versus »gemacht« (673) bzw. von »Tradition« versus »Kreativität« (536 f.) bestimmen immer wieder R.s Stellungnahmen zur Liturgiereform von 1963–1970. Be­sonders geht es darum, die organische Verbindung zwischen dem vorkonziliaren und dem nachkonziliaren Liturgieverständnis aufzuzeigen (553). Für R. beruht »die sakramentale Sicht der Kirche auf einer inneren Einheit des Wachsens«, wohingegen dem »reformerischen Progressismus« eine »starre Sicht des christlichen An­fangs« zu Grunde liege (373, aus dem Jahr 1977). Erst der Zu­sammenhang von Schrift und Überlieferung macht für R. »den Vorgang der allmählichen Gestaltwerdung des eucharistischen Sakraments« verständlich (428). Atemberaubend ist es für den evangelischen Leser, wenn die Bitte Marias in Joh 2,1–11 ohne Um­schweife als die Bitte der Kirche allegorisiert wird (550, im Jahre 1994).
Vielen katholischen Reformbestrebungen in liturgicis wird von dem Grundverständnis der wachsenden Kontinuität her eine zum Teil deutliche Absage erteilt. Das gilt nicht nur für die negativ getönte Gleichsetzung von Kreativität und Marxismus in »Der Geist der Liturgie« (145), sondern auch für die Ablehnung der Denkmodelle von Transsignifikation und Transfinalisation (272–294, aus dem Jahr 1967), für die Zurückstellung der Interpretationskategorie des »Mahles« hinter diejenige der »Eucharistia« (359–382, bes. 363, aus dem Jahr 1977) und für die – m. E. mit Recht – immer wieder vorgebrachten Bedenken gegen die negativen Begleiterscheinungen der »celebratio versus populum« (77–85.468 u. ö.). Insgesamt gilt für R.: »Die Gemeinde wird Gemeinde nicht durch Interaktion, sondern dadurch, dass sie sich vom Ganzen empfängt und ins Ganze zurückgibt.« (387, 1978) Die Gefahr hingegen bestehe in der Ersetzung der Autorität der Kirche durch die Autorität liturgischer Experten (664). Doch es gibt auch weiterführende Gedanken wie die Versuche einer Reinterpretation der Transsubstantiation auf dem Hintergrund der Physik des 20. Jh.s (290.293) und die Bemerkungen zu einem genuin ästhetischen und nicht »vergeistigten« Verständnis der Musik (516), verbunden allerdings mit Ressentiments gegen­über der modernen Musik (603).
Auf dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen – der Wie­derzulassung des Tridentinischen Ritus im Juli 2007 und des Versuchs der Aussöhnung mit der »Priesterbruderschaft Pius X.« im Januar 2009 – lesen sich die vorsichtig positiven Bemerkungen zum alten Missale (394, Anm. 9, aus dem Jahre 1978) und die kritischen Kommentare zu den Pius-Brüdern (647) noch einmal ganz anders. Nicht überrascht ist man nach der fulminant gegen Neuzeit und Protestantismus argumentierenden »Regensburger Vorlesung« aus dem Jahre 2006 über die entsprechenden Äußerungen zur reformatorischen Theologie und Kirche (285.688). Allein die Formulierung »fundamental protestantisch und säkularisierend« (665, im Zusammenhang der Interpretation des »Kultischen und Priesterlichen«) spricht Bände.
Nach diesem Buch weiß man sehr gut, was nach Benedikt XVI. katholisch ist, aber auch, dass von dort kein Weg zum Protestantismus führt. Denn die Negativurteile über katholische Entwick­lungen (das »Gemachte«, der »Progressismus«, die »Kreativität« und »Interaktion« im Gottesdienst etc.) werden ja durch die evangelische Liturgie bereits als solche verkörpert. Das Liturgieverständnis R.s zeigt sich über die Jahrzehnte hinweg in bemerkenswerter Kontinuität mit sich selbst und mit dem Grundverständnis der katholischen Kirche. Liturgietheologisch Neues ist darin kaum zu entdecken. Aber gerade das entspricht ja dem Selbstverständnis.