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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1136–1138

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schulte, Stefanie

Titel/Untertitel:

Gleichnisse erleben. Entwurf einer wirkungsästhetischen Hermeneutik und Didaktik.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 266 S. gr.8° = Praktische Theologie heute, 91. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-17-020167-5.

Rezensent:

Dietrich Zilleßen

Stefanie Schulte stellt das Markuszitat (4,33) an den Anfang ihrer Überlegungen: »Und durch viele solche Gleichnisse sagte er ihnen das Wort so, wie sie es zu hören vermochten« (9). Diese Beziehung von Sprechakt und Adressat entfaltet sie problembewusst und differenziert.
S. sieht in der Gleichnisdidaktik eine Grundform religiöser Didaktik. Im Gegensatz zu vorrangig lehrerorientierten Lernmodellen versteht sie Lernen als einen kommunikativen, dialogischen Prozess. Dadurch werden nicht nur die Ressourcen und kreativen Fähigkeiten der Lernenden stärker anerkannt. Ihnen kommt auch hermeneutische Autorität zu, d. h. die Kompetenz, mit den eigenen Fragen und Erfahrungen Gleichnistexte sachgemäß auszulegen und sie sich (auch kritisch) anzueignen. Gleichnisse verstehen heißt, ihren Anspruch und Appell, ihre Handlungsstruktur in die eigene Welt zu übersetzen, sie als Antwort und neue Frage zu lesen. Ein Gleichnis spricht nicht die eine authentische Wahrheit aus. Es gibt nicht die Botschaft (vom Reich Gottes). Gleichnisse beziehen sich auf keine »außerhalb des Textes liegende Referenz« (9). Ist nicht die bisherige religionspädagogische Gleichnisrezeption zu eng auf Verstehen einer Botschaft fixiert? (S. bezieht sich hier u. a. auf Anton Buchers grundlegende Studie »Gleichnisse verstehen lernen«, 9 u. ö.)
In der narrativen Textwelt des Gleichnisses nimmt der Leser das Gewohnte im Spiegel des Fremden wahr, das ihn herausfordert, verunsichert, vielleicht bestärkt. Ein Stück des Eigenen kann zur Frage werden. Der Text ist ein Wirkzusammenhang, ein Prozess, der im Lesen nicht zur Ruhe kommt. Diese produktive Unruhe entfaltet S. als ein Grundmoment der Gleichnisdidaktik. Der »Entwurf einer wirkungsästhetischen Hermeneutik und Didaktik« stellt die überkommene Rangordnung (erst einmal Auslegung und dann Didaktik) in Frage. Text und Erfahrungswelt sind einander produktiv zugeordnet, ohne dass ein Verstehen definitiv sein könnte. Die Performativität des Textes und seiner Lektüre bleibt ungreifbar dynamisch. S. entfaltet diese Offenheit durchgängig im Rückgriff auf das literaturästhetische (Leerstellen-)Konzept Wolfgang Isers.
Auch die englischsprachige Literaturwissenschaft, die sie sichtet, sieht »maßgeblich den Leser im Vordergrund« (46). Natürlich spielt die Sender-Empfänger-Beziehung in der Rezeptionsästhetik schon lange eine wichtige Rolle. Aber die neueren wirkungsästhetischen Ansätze wollen die Literaturwissenschaft von der »Analyse der Textstruktur ... stärker auf die Betrachtung des Leseakts« verlagern (48). Der Stellenwert der (jungen) Rezipienten ändert sich. Interne Evaluation des Lernens (kommunikative Überprüfung, teilhabende Beobachtung des Lernablaufs) wird wichtiger. S. setzt dabei mehr auf religionspädagogische Ansätze von Kindertheologie (137) als auf entwicklungspsychologische Stufentheorien, die »das Denken der Kinder ... nicht in seiner kindlichen Eigenart wahr­nehmen« (138). Zum Glück wertet sie diese etwas halbherzig aus (137 ff.). Das entwicklungspsychologisch Passende ist didaktisch nicht immer das Beste. Da ist Kindertheologie schon viel ex­perimenteller, mutiger. Die Position des Kindes ist mehr als nur Ge­sprächsanlass (205). Die »Altersfrage« (193) erfordert weniger psy­chologisches Wissen als pädagogische Kompetenz. Das produktive Potential der Sprache (der Gleichnisse) spricht oft stärker an als gedacht.
Präzise listet S. Einwände gegen Isers Ansatz auf und untersucht vor allem die bekannten Gegenargumente: »mangelnde(n) Histo­rizität« (82.77), individualistische Engführung (»Subjektivismus«, 78 ff.), schwache Textautorität (80). Stehen »Objektivität des Texts« (a. a. O.) und »Intention des Autors« (78) auf dem Spiel? Wird die Textinterpretation beliebig? Der Vorwurf der Beliebigkeit ist ein grobes Argument, ein beliebtes, oberflächlich und pauschal. S. führt die Auseinandersetzung präziser, weil sie den »historischen Bruch« zwischen Text und Leser nicht unterschlägt. Allerdings sieht sie das Problem m. E. zu idealistisch. Gewiss »nimmt der Text mit seinem Repertoire Normen aus seiner Umwelt auf« (77). Aber die didaktische Schlussfolgerung erscheint dann doch etwas blauäugig: »Der Leser antizipiert diese aufgrund der textinternen Signale, die ihn in die Position versetzen, die im Text aufgenommenen Normen zu erfassen und den Text durch eine anschließende Aktualisierung trotz der geschichtlichen Spanne zwischen sich und dem Werk zu verstehen« (a. a. O.). Der Konflikt zwischen Text und Leser lässt sich nicht so friedlich lösen; die Wahrnehmung bringt den Text unter ihre Norm. Gleichnisse (mit ihrer eigenen Unschärfe) fordern verantwortliches Handeln angesichts unsicherer Erfahrungen und bestreitbarer Erkenntnisse. Keiner hat die Grundlosigkeit der Welt deutlicher formuliert als Kafka, der als Gleichnis die Welt ein Gleichnis nannte. Leere besteht nicht einfach aus textlichen und empirischen Diskontinuitäten (bedenkt Iser das?). Leere ist die undefinierbare, unverfügbare Unsicherheit jedes Verstehens, ein schwarzes Loch. Ein Mangel, der nicht zu beseitigen ist, weil er die Endlichkeit kennzeichnet und die schmerzliche Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Der Bruch bleibt. Zu schön ist S.s Diktum: »Ein geschichtlicher Bruch wird im Fluss des Lesens implizit überwunden, indem der Leser gewissermaßen unbewusst rekonstruierend auf die im Werk benutzten Konventionen zurückgreift.« (86)
Hermeneutische Arbeit am Gleichnis dreht sich im Kreis der Kon­ventionen und Projektionen. Sie müsste öfter unterbrochen werden. Ist Unterbrechung (Hör dir wieder und wieder das Gleichnis an. Erzählt es immer wieder.) vielleicht der Ort zufallender Erfahrung, wenn sie die eigene ruhen lässt?
Der Paradigmenwechsel in der Gleichnisdidaktik (47.88) räumt dem Leser nicht weniger ein als dem »Text«. Ist die Schrift dann noch Offenbarungsquelle, sola scriptura (89 ff.)? S. unterstreicht: Das »Erfahren des Gotteswortes in der Lektüre« (91) ist unverfügbares Ereignis. Durch den »Heiligen Geist« sind »Text und Rezipient« verbunden, »indem der Rezipient das in der Lektüre Gelesene mit dem Empfinden der Gewissheit aktualisiert« (93). Muss der Unterricht diese Gewissheitsdidaktik nicht erneut reflektieren, wieder fraglich machen und in die Auseinandersetzungen des Lebens bringen? Erfahren benötigt die Sprache der Welt, der Konventionen. Alles, was der Heilige Geist »dem Bibelleser« enthüllt (92), braucht das Medium Sprache, das immer mehr vermittelt als ge­wollt ist. Der plakative Titel »Gleichnisse erleben« erfreut die Liturgiker des Religionsunterrichts. Wird so »Gleichnisse erleben« zur spirituellen Veranstaltung, die keine reflexive Distanz benötigt? Religionsunterricht als Glaubenspraxis? Erfahrungen, die religiös genannt werden (Semiotik!), sind vielfältig, unterschiedlich, von tiefer Ambivalenz und Widersprüchlichkeit gezeichnet. Der assoziative, kreative Prozess, Erfahrungen zu rekonstruieren und zu aktualisieren, gibt den Geschichten einen weiten Spielraum. Dieser Lernraum ist spielerischer, experimenteller, stärker probierend und sich auseinandersetzend als der »Raum für ein Erleben der Ge­schichten im Glauben« (201). Im Glauben? Die »liturgische« Formulierung übersieht das Problem. Gerade das »Leerstellenkonzept« widerspricht dem reinen Erlebnis- und Glaubensunterricht. Für den Kirchlichen Unterricht mag es andere Prioritäten geben.
Die ausführliche, weitläufige »Standortbestimmung« (204–216) wirft weitere Fragen auf. Unterschied und Zusammenhang von Welterfahrung und Glaubenserfahrung sind ein Grundthema der gegenwärtigen religionspädagogischen Diskussion – in der multireligiösen Welt. »Erfahrungsaustausch« (206), auch der unterrichtliche, beinhaltet Konflikt, Dialog, Auseinandersetzung, jedenfalls eine reflektierende Kommunikation. Die fragwürdige Trennung von »reinem Erleben« und »religiös gedeutete(r) Erfahrung« (208) sorgt mancherorts für theologische Beruhigung. Aber auch Religion ist eine Weise, mit den Zumutungen der Welt umzugehen, sehnsuchtsvoll, unsicher. Religionsunterricht zielt auf verantwortliches Nachdenken und Entscheiden, auf die Wahrnehmung menschlicher Grenzen, auf die Achtung des Unverfügbaren in allem Tun und Lassen. Darum sind die weltlichen Fragen auch religiöse Fragen: Was macht frei, was ist gerecht, was ist human? In dieser Perspektive »können durch die Auseinandersetzung mit dem Text eigene Lebenserfahrungen und aktuelle Situationen neu bewertet und somit verarbeitet werden« (216). Ein Weg »zu einem offenen Religionsunterricht« (a. a. O.)? Ob dieser offene Unterricht dann kerygmatisch (im konfessionellen Sinn) (a. a. O.) ist, ist noch die Frage.
Das Buch hat mich sehr angeregt und mir viel zu denken gegeben. Ich halte es für ein Werk, das der Religionspädagogik Impulse geben kann. Es ist zu hoffen, dass die kritische Auseinandersetzung (nur das streitbare Nachgehen würdigt S.s Leistung) die Diskussion über einen partnerschaftlichen Religionsunterricht in pluraler Welt voranbringt.