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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1158–1160

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Peter

Titel/Untertitel:

"Wer ist dieser?". Jesus im Markusevangelium. Markus als Erzähler, Verkündiger und Lehrer.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1995. 192 S. 8° = Biblisch-Theologische Studien, 27. Kart. 48,­ DM. ISBN 3-7887-1538-3

Rezensent:

Ulrich Mell

Wer sich nicht dem ganzen Markusevangelium als einem stimmigen christologischen Gesamtentwurf widmen möchte, wird sich zumeist auf zwei Wegen der im ältesten Evangelium vorgetragenen christologischen Deutung Jesu nähern: Er wird sich entweder den im Evangelium verwandten christologischen Hoheitstiteln, insbesondere Texten mit der Titulatur "Sohn Gottes", zuwenden (vgl. Ph. Vielhauer; C. Breytenbach). Oder er wird sich mit dem die Darstellung strukturierenden christologischen Leitmotiv, der "Vollmacht" Jesu, sowie ihren diesbezüglichen Kontexten auseinandersetzen (vgl. Kl. Scholtissek; U. Mell).

Einen neuen Weg schlägt der in Karlsruhe lehrende Neutestamentler in einer kleinen, aber inhaltsreichen Monographie vor, die sich an eine exegetisch interessierte wie des Altgriechischen mächtige Leserschaft wendet. M. fällt nämlich auf, daß die Frage "Wer ist Jesus?" in "gewisser Variationsbreite" (18, vgl. 139) im Markusevangeliums gehäuft vorkommt (Mk 1,27; 4,41; 6,2 f.14-16; 8,27 ff.; 9,7; 10,47 f.; 14,61 f.; 15,39). Unter dem als Buchtitel firmierenden Zitat aus 4,41b versammelt M. darum nach einer kurzen methodischen Besinnung zur markinischen Narration (9-20) die mit der Frage nach Jesus beschäftigten Texte (21-138), um sie in einer Mischung aus synchronen und diachronen Bemerkungen vorzustellen. Die Berechtigung des über die Jesusfrage beschrittenen Zuganges zur "integrative(n) Christologie" des Markusevangeliums (139-150) zeigt sich für M. in seinen abschließenden Folgerungen (150-180) zu "Markus als Erzähler, Verkündiger und Lehrer": Anhand der Jesusfrage läßt sich das gattungsmäßig mit einer hellenistischen Biographie vergleichbare Werk in drei Hauptteile gliedern. Dabei folgt die markinische "Erzählstrategie" (32.42.62 u. ö.) dem Konzept der Aristotelischen Anagnorisis (vgl. poet. 1452a 32ff.): Was dem Rezipienten in der "Einführung" (160) 1,1-13 als christologische Vorgabe gegeben ist, soll er bei fortschreitender Lektüre wiedererkennen, um über den "Ausblick" (160) von 16,1-8 hinaus "zur eigenen Antwort auf die Frage nach Jesus" (149, vgl. 154) im Rahmen einer gottesdienstlichen "Interpretationsgemeinschaft" (17) zu gelangen.

Die Frage "Wer ist Jesus?" ist für M. folglich die "Leitfrage des Markusevangeliums" (21, vgl. 140), der "Kristallisationspunkt, in dem die verschiedenartigen christologischen Motive gebündelt werden" (18, vgl. 151). Die Frage nach Jesus entspricht dabei wesentlich dem kommunikativen Charakter des markinischen Erzählwerkes. Die Frage der erzählten Textwelt soll zur Frage der Rezipienten werden, die sich mit der Suche nach einer Antwort von seiner narrativ eingebetteten Titelchristologie leiten lassen.

Das bedeutet: Sowohl der Jesus vom unreinen Geist beigelegte Titel "Heiliger Gottes" (Mk 1,24), der ihn als charismatisch und prophetisch begabten Menschen vorstellt, sowohl die von den Jüngern geäußerte Anrede "Lehrer" (4,38), die Jesus eine diskursive Kompetenz zubilligt, ja, sowohl die implizite Selbstbezeichnung Jesu als eschatologischen "Propheten" (6,4), der mit machtvoller Weisheit ausgerüstet ist, markieren nur ein vorläufiges christologisches Verstehen. Das zeigt dem Rezipienten die Schlußfrage der Perikopen "Was ist das?" (1,27) bzw. "Wer ist dieser?" (4,41) wie die Verwunderung Jesu über den Unglauben der Einwohner von Nazaret (6,6) an. Die im offenen Schluß versammelte textliche Spannung zur christologischen Titulatur fordert auf, zu einer tieferen christologischen Antwort vorzudringen.

Von dieser weiterführenden Rezipientenleitung bildet das Lehrgespräch von Mk 8,27-33, in welchem Jesus die Frage nach seiner eigenen Person (V. 27) zu seiner eigenen Frage macht (V. 29a), keine Ausnahme. Auch die von Petrus geäußerte Identifikation Jesu mit dem erwarteten königlichen Messias für Israel (V. 29b) kann der Rezipient von 1,1 als zutreffend bestätigen, um sie zugleich von V. 1.11 her als unzureichend zu erkennen: Erst muß in der Epiphanie-Erzählung von 9,2-8 die Bezeichnung Jesu als dem von Gott bevollmächtigten Sohn Gottes fallen (V. 7). Daß auch dieser Titel nur vorläufig ist, dafür steht das Schweigegebot von V. 9. Denn auch zuvor wurde der Christustitel von einer Nachfolge-Lehre über den leidenden Menschensohn (8,31-38) für die christologische Erkenntnis als nicht ausreichend erklärt.

Die markinischen Schweigegebote (vgl. Mk 1,25; 3,12; 8,30; 9,9 ["die Schlüsselstelle" 107, vgl. 141]) gehören für M. als "Erzählkonzept des Markus" (149) damit zum integralen Bestandteil seines christologischen Anliegens. Denn mit ihrer Hilfe kann Markus "die Vorläufigkeit einzelner Titel festhalten, ohne ihre Wahrheit zu bestreiten" (149). Geht es doch Markus "darum, ob Jesus umfassend verkündigt wird" (108). Erst die Passionsgeschichte, die Jesus im Begriff stehen sieht, seine Ankündigung von Leidenstod und Auferstehung zu erfüllen (vgl. 8,31; 9,31; 10,33 f.), nimmt prospektiv die Bedingung des Schweigegebotes von 9,9 auf. Jesu Zustimmung zur Frage des Hohenpriesters deutet an, daß die in 14,61 f. erreichte titulare Verknüpfung von Christus, dem Gottessohn und dem kommenden Menschensohn "die christologische Konzeption des Evangelisten... darstellt" (130). Mit ihr spricht Markus "diejenigen an, die die Auferstehung Jesu hinter sich und sein Kommen als Menschensohn vor sich haben" (152).

M.s Neuansatz, die Frage nach Jesus zur christologischen Leitfrage des Markusevangeliums zu erklären, überzeugt in erzähltheoretischer Hinsicht: In der Kombination mit den retardierenden Schweigegeboten ist erklärbar, wie der theologische Poet Markus über den christologischen (Teil-) Antworten seiner Traditionen die christologische Mitte bestimmt. Mit seiner Studie zum markinischen Messiasgeheimnis löst M. damit ein, was sein Lehrer F. Hahn mit der Herausgabe von Beiträgen zur Erzählforschung (Der Erzähler des Evangeliums, SBS 118/9) für die Interpretation des Markusevangeliums anstoßen wollte.

Ob die Frage "Wer ist Jesus?" jedoch zur christologischen Leitfrage der markinischen Evangelienschrift stilisiert werden kann, bezweifelt M. selber: So gibt er zu, daß in Mk 8,34-9,1 "keine direkte Frage nach Jesus" (93) vorkommt und kann nur über einen künstlich wirkenden Ausweis der Bartimäus-Perikope als "Gegenstück zu 8,27-33" (124) ihre Zuordnung zur christologischen Leitfrage aufrechterhalten. Der Ansatz von M. verfehlt damit die christologischen Zentraltexte des Markusevangeliums vom geliebten Gottessohn (1,9-13; 9,2-8; 12,1-12).

Daß M.’s Beitrag die markinische Christologie in inhaltlich-normativer Weise nicht spezifizieren will, liegt einerseits daran, daß die traditionsgeschichtlichen Erkenntnisse ausgeblendet werden, und andererseits an der liturgischen Verortung des Markusevangeliums: Es dient nach M. der innerchristlichen Vergewisserung über Jesus, indem die Gemeinde durch die Erzählung ihre christologische Erkenntnis bestätigt bekommt. Dem Selbstverständnis des Markusevangeliums als inhaltsreiches rettendes Evangelium zur Mission der Völker (vgl. Mk 13,10) wird M. damit jedoch nicht gerecht.