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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1130–1132

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fuhrmann, Siri

Titel/Untertitel:

Der Abend in Lied, Leben und Liturgie. Studie zu Motiven, Riten und Alltagserfahrungen an der Schwelle vom Tag zur Nacht.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2008. XIII, 440 S. gr.8° = Pietas Liturgica. Studia, 18. Geb. EUR 88,00. ISBN 978-3-7720-8258-0.

Rezensent:

Wolfgang Ratzmann

Die interessante Studie wurde im Wintersemester 2006/07 als Promotion von der Fakultät für Katholische Theologie in Mainz angenommen. Sie entstand unter der Betreuung des Liturgiewissenschaftlers Ansgar Franz und demonstriert in ihrer Weise, wie die moderne Liturgiewissenschaft und in ihrem Gefolge auch die Hym­nologie inzwischen von der wissenschaftlichen Methodenvielfalt und von der Pluralität der unterschiedlichen fachlichen Perspektiven auf ein Thema profitieren kann. Dazu hat die Vfn. als Untersuchungsgegenstand das Abendlied gewählt, das seinen le­bensweltlichen Ort im individuellen Erleben des Abends und seiner mehr oder weniger deutlich ausgeprägten rituellen Gestaltung hatte oder hat. Dabei wählt die Vfn. drei Perspektiven, die sie wissenschaftlich untersucht: die Dimension des alltäglichen Lebens, die des geistlichen Abendliedes und die der Liturgie, insofern sich klassische Texte (Psalmen) oder liturgische Ordnungen (Vesper, Komplet) noch in vielen Liedern spiegeln.
In einem ersten Schritt wird untersucht, welche Themen und Motive in neueren Abendliedern der letzten 60 Jahre vorkommen. Aus etwa 200 Liedsammlungen, die von der Vfn. geprüft worden sind, hat sie 116 Lieder ermittelt und auf deren Grundlage die generell vorhandenen Motive bei der Gestaltung geistlicher Abendlieder ermittelt. Anhand von zwölf ausgewählten Liedbeispielen wird dann konkret erforscht, wie sich einzelne prägende Motive in ih­nen zu den liturgischen Themen der Tradition verhalten. In Exkursen bezieht die Vfn. dabei wesentliche Elemente der liturgischen Tradition ein, die sie außerordentlich sachkundig liturgiehistorisch bzw. exegetisch darstellt (Exkurse zum Stundengebet allgemein, zur Lichtfeier, zum Abendopfer, zum Rückblick auf den Tag, zur vesperalen Fürbitte, zur Komplet, zu den Psalmen 4 und 91, zur Commendatio animae und zum »Feind« in der Komplet). Durch den so möglichen Vergleich ermittelt die Vfn., inwiefern sich die Motive von Gegenwart und Tradition entsprechen bzw. welchem Wandel sie unterliegen. Als Beispiel für eines der ausgewählten Lieder sei Bonhoeffers Lied »Von guten Mächten treu und still umgeben« genannt. Sie interpretiert dieses Lied in einer Schrittfolge, die so ähnlich auch bei den anderen Liedern angewandt wird: formale Hinweise und Strukturen, inhaltliche Analyse (zur kommunikativen Struktur des Liedes, u. a. zum Verständnis der »guten Mächte«), exkursartiger Einbezug von Ps 91, dessen Motive (neben solchen aus Ps 34) im Lied anklingen, zeitgeschichtlicher Hintergrund und biographische Deutung des Liedes, Hinweise zur Wirkungsgeschichte des Liedes, der Abend im Kontext dieses Liedes. Es fällt auf, dass die biographischen Hinweise zu den Liederdichtern oder -komponisten nicht immer, sondern neben Bonhoeffer besonders zu J. Klepper und zum DDR-Pfarrer Klaus Biehl und seinem zeitgeschichtlichen Kontext erfolgen. In einer Zusammenfassung wird der Ertrag der Lied- und Liturgieanalysen gebündelt und festgehalten, dass es enge motivisch-thematische Beziehungen zwischen den geistlichen Abendliedern der Gegenwart und denen der christlichen Tradition gibt. Schon in den Liedern lässt sich allerdings auch eine Veränderung abendlicher Ängste ausmachen: Sie werden von außen (z. B. Angst vor Feuersbrunst) eher nach innen verlegt (Angst vor Depression, vor Versagen). Die Lieder gehen aber noch deutlich von einem liminalen Aspekt des Abends aus, nach dem der Abend selbst zum Sinnbild für die Grenzen des Lebens wird. Diese liedanalytischen Beobachtungen vertieft die Vfn. dann mit den Überlegungen von A. Schütz und Th. Luckmann zu den »kleinen Transzendenzen des Alltags« und mit dem Phasenmodell van Genneps zu Ritus und Rituselementen.
Im zweiten Teil der Studie werden Ergebnisse einer empirischen Studie zum Erlebnis des Abends heute mit dem Verständnis des Abends in Beziehung gesetzt, wie es in liturgischer Tradition und den Abendliedern begegnet. Dazu nutzt die Vfn. das methodische Instrumentarium der qualitativ arbeitenden Soziologie, insofern sie narrativ-fokussierte Interviews mit repräsentativ ausgewählten Gesprächsteilnehmern durchgeführt und sie nach ihrem Erlebnis und ihrer Gestalt von Abend und nach ihren Eindrücken von einzelnen Abendliedern befragt hat. Die Vfn. erläutert dabei zunächst sachkundig ihr methodisches Vorgehen. Die Gesprächsteilnehmer werden dann mit vielen Zitaten plastisch zu Gehör gebracht (auch wenn das gesamte Untersuchungsmaterial nicht in der Arbeit abgedruckt ist und die Studie so lesbar bleibt). Es wird aus ihren biographischen Äußerungen eine Typologie des Abends in der heutigen Lebenswelt erstellt und mit den Motiven von Liturgien und Liedern in Beziehung gesetzt. Dabei tritt zu Tage, dass nach wie vor viele Motive und Symbole der Lieder anschlussfähig für das heutige Erleben des Abends sind. Aber es stellt sich zugleich deutlich heraus, dass von den Zeitgenossen eine Transparenz des Abends für die eigene Sterblichkeit ebenso abgelehnt wird wie andere eher dunkle Symbole in den Liedern, die dem eigenen Gefühl der Machbarkeit des Lebens und der Verdiesseitigung nicht entsprechen. In einem knappen praktisch-theologischen Ausblick empfiehlt die Vfn., einerseits die die Liturgie feiernden Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren, andererseits aber keinesfalls die Tiefe der heilsgeschichtlich-biblischen Perspektive auf das Leben, das sich in Liturgie und Liedern spiegelt, preiszugeben, sondern immer wieder Wege für diese unverzichtbare Deutung des Lebens zu suchen.
Die Studie ist nicht nur den Liturgiewissenschaftlern und Hymnologen sehr zu empfehlen, sondern auch denen, die religionssoziologisch oder fundamentaltheologisch den Wandel der Frömmigkeit wissenschaftlich registrieren und deuten. Sie setzt Maßstäbe für ein hohes Niveau interdisziplinären Forschens in Hym­nologie und Liturgiewissenschaft. Sachlich kritisieren würde ich die Kontextbeschreibung des Liedes von Klaus Biehl »Schnell eilt der Tag dem Abend zu«. Der säkulare Duktus hat m. E. seinen Grund nicht darin, dass christliche Lieder in der DDR nur schwer gedruckt werden durften, sondern wohl eher im Versuch eines missionarisch ge­meinten »Abholens« der mehrheitlich nichtchristlichen Zeitgenossen im Umfeld von Schausteller- und Zirkusmission. Eine Grenze der Studie, die der Vfn. bewusst ist, liegt darin, dass sie von einem Abend- und Abendliedverständnis ausgeht, das bei allen Veränderungen der Frömmigkeit noch immer offen oder latent christlich geprägt ist. Das betrifft die zu Grunde gelegten Lieder ebenso wie die befragten Zeitgenossen. Interessant wäre es, wenn es neben diese Studie eine weitere gäbe, die den Abend unter anderen religiösen Prägungen (Muslime in Deutschland) und unter nichtreligiösen Einflüssen untersuchte.