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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1124–1126

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rieger, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Altern anerkennen und gestalten. Ein Beitrag zur gerontologischen Ethik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. 151 S. 8° = Forum Theologische Literaturzeitung, 22. Kart. EUR 18,80. ISBN 978-3-374-02651-7.

Rezensent:

Ralph Kunz

Hans-Martin Rieger, Privatdozent an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, ist Mitglied des interdisziplinären Netzwerks Altersforschung. Dieser Name ist ein reiner Pleonasmus. Al­tersforschung kann eigentlich gar nicht anders als interdisziplinär in einem Netzwerk getrieben werden. Tatsache ist, dass die Ge­rontologie insgesamt eher ein multidisziplinäres Gebilde darstellt und die Verständigung zwischen den Disziplinen erst in den letzten Jahren ernsthaft angegangen wird (u. a. auch in Rostock und Zürich). Es ist deshalb begrüßenswert, dass R. als Theologe und Ethiker den Dialog aufnimmt und einen profunden wie konzisen Beitrag zum Gespräch leistet. Er versteht sein Büchlein als Versuch, »eine theologisch verantwortbare Grundposition zu explizieren und ihre Bedeutung für die persönliche Lebenskunst und für die sozialethische Problemlagen wenigstens ansatzweise deutlich zu machen.« (7) Das ist ihm zweifellos nicht nur ansatzweise gelungen.
Die knappe Zusammenfassung gerontologischer Einsichten und Aussichten bietet eine gerontologische tour d’horizon (9–38). R. stellt Theorien und Modelle in den Problemhorizont einer zu­nehmenden Tendenz, die mit Baltes »Kompression der Morbidität« genannt wird. Gemeint ist damit der Versuch, die belastete letzte Lebensphase so kurz wie möglich zu halten und das sog. dritte Alter möglichst zu dehnen. Tatsächlich läuft diese künstliche Einteilung des Alters Gefahr, dass die Phasenbildung in Verbindung mit einer quantitativen Strategie der Streckung und Unterdrückung, der Ausgrenzung von Gebrechlichkeit, Endlichkeit und Tod Vorschub leistet. Gestaltungsspielräume für alternde Menschen werden im­plizit (oder auch explizit) mit einem Aufforderungscharakter versehen. Altern kann und soll deshalb nicht nur beschrieben werden, sondern ist mit der Frage nach dem guten Leben verbunden immer auch ein ethisches Thema. Dabei mag der Ethiker nicht von vornherein gegen das Anti-Aging ins Feld ziehen und sich ganz auf die Seite des Pro-Aging schlagen, sondern versteht das Spannungsfeld als Herausforderung.
Worin besteht die eigentliche ethische Herausforderung des Alter(n)s? Im zweiten Kapitel geht R. auf Chancen und Gefahren des interdisziplinären Gesprächs ein. Sein spezielles Interesse gilt der Rolle der Ethik, Theologie und Anthropologie (39–52). Die Frage, wie wir als alternde Menschen miteinander leben wollen und sollen, muss die anderen am gerontologischen Diskurs beteiligten Wissenschaften interessieren. Medizinische oder biologische Fo­kussierungen werden der Multidimensionalität des komplexen Lebensphänomens nicht gerecht. Sie propagieren Vorstellungen des guten oder gelingenden Alterns, die ethisch geladen sind, können aber die kritische Explikation der mittransportierten Wertvorstellungen nicht leisten. Sie muss im interdisziplinären Verband von einer Expertin vorgenommen werden und kann zur expliziten Kritik werden, wenn grundlegend Menschliches überblendet wird. Um diese Grundlagen zu erheben, werden Ethik und Anthropologie bei R. in einen theologischen Rahmen gestellt. Wegweisend für ihn ist das differenzhermeneutisch verstehbare Modell D. Bonhoeffers. »Mittels der Differenz, die durch die Begriffe ›Letztes/Vorletztes‹ gefasst wird, versuchte Bonhoeffer deutlich zu machen, dass eine positionale Wirklichkeitsauffassung, die beansprucht, von der letzten Wirklichkeit (Gottes) zu wissen, auf dem Feld der für sie vorletzten allgemeinen Wirklichkeits- und Alltagserfahrung gelebt wird und Rückkoppelungen ausgesetzt ist.« (43)
Mit den Stichworten »Kultur der Endlichkeit« und »Ehrfurcht vor dem begrenzten Leben« werden Bewusstsein, Zeitlichkeit und Leiblichkeit als lebensalterssensible Explikationsmöglichkeiten entfaltet und philosophisch, psychologisch und theologisch reflektiert (53–67). Das Faktum der Endlichkeit vermag allein für sich gesehen keinen ethisch bestimmten Impuls auslösen. Wenn R. von der »Kultur« der Endlichkeit spricht, setzt er hier eine Pointe und interpretiert den homo temporalis als Menschen, der in der Lage ist, mit den Tatsachen des endlichen Lebens umzugehen. Die Anerkennung seiner Gebrechlichkeit und Sterblichkeit ist eine kulturelle Leistung, die nicht zwingend religiös konnotiert ist. Dass ein Mensch seine Endlichkeit bewusst akzeptiert, ist auch eine Stufe seiner psychischen Reife. Aber eine gerontologische, theologisch fundierte Ethik kann darauf hinweisen, dass die Beschränkung und Begrenzung des Lebens zur guten Schöpfungsordnung gehört und es in dieser Interpretationsperspektive gelingen kann, Endlichkeit nicht nur negativ zu sehen.
Mit dem Begriff der »Angewiesenheit« ist das Anliegen R.s auf den Punkt gebracht, menschliches Dasein in einer Spannung zwischen Anerkennen und Gestalten zu sehen (58–117). Es geht um die richtige, theologische verantwortbare Kategorie des Umgangs mit dem Alter, die vor Fatalismus und Aktivismus schützt und angesichts der Vitalitätsverluste produktive Impulse freisetzt. Dabei handelt es sich freilich um Herausforderungen des Daseins. Altern konkretisiert und radikalisiert also eine Struktur, die menschliche Existenz als Ganzes prägt. R. entfaltet diese Gedanken in fünf Thesen mit Erläuterungen. These eins legt den Grund für alle weiteren. Die Angewiesenheitsstruktur beschränkt nicht nur, sondern zeichnet menschliches Dasein aus und hält darum kritische Distanz zu undialektisch verstandenen Leitbildern wie Autonomie oder Produktivität des menschlichen Lebens. Anerkennen, das zweite Leitwort, signalisiert, dass ein Umgang mit der Angewiesenheit gefunden werden kann, der hilfreich ist, indem das Negative kognitiv und affektiv umstrukturiert wird. Ethik begleitet diese Umstruktierungsprozesse und sucht eine alters- und lebensfreundliche Mitte zwischen einem Zuviel an Beherrschung und Zuwenig an Bewältigung. Sie achtet auf die angemessenen Gestaltungsspielräume, in denen ältere Menschen selbstverantwortlich ihr Leben führen, ohne die damit auch gegebenen Angewiesenheitsverhältnisse leugnen zu müssen. Die Forderung nach Schaffung solcher Spielräume ist eine sozialethische. Denn sie richtet sich an die Gesellschaft und ist immer auch mit der Forderung nach einem Lernen in der Gemeinschaft der Generationen verknüpft. Insofern damit der Schritt vom Individual- zum Sozial­ethischen exemplarisch zur Geltung gebracht wird, kann vom Altern als einem Testfall christlicher Existenz gesprochen und die Angewiesenheit als spezifische Explikationsaufgabe der Theologie begriffen werden (118–133). Im alltäglichen Gottesdienst als Lebensform wird diese Figur der heilsamen Angewiesenheit auf den Anderen offensichtlich, nämlich »insofern die Angewiesenheit zum aktiv willentlichen Umgang herausfordern will, Gott mit dem von ihm Empfangenen zu ehren« (118).
Zu Recht setzt R. ein Fragezeichen hinter eine Fragerichtung, die sich »religiöse Gerontologie« nennt und die der Rezensent lieber als »Religionsgerontologie« bezeichnen würde (134–140). Er weist auf die Verwirrungen und Verirrungen, die auf diesem Gebiet bestehen und eben damit zu tun haben, dass zu wenig deutlich zwischen der Perspektive des Glaubens und der Funktion (oder dem Dysfunktionalen) des Religiösen unterschieden wird. Religionsgerontologie und theologische Gerontologie bzw. eine gerontologisch aufgeschlossene Theologie oder Ethik müssen kritisch unterschieden werden (139). In der typischen Manier der Argumentation, die das ganze Büchlein prägt, betont R., dass eine kritische Unterscheidung nicht gegen die Kompatibilität von Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung spricht, sondern sie im Gegenteil erfordere, freilich so, dass »die funktionale Deutung des Glaubens als religiöse Ressource für die Gesundheit nicht das genuine Anliegen des Glaubens selbst verdeckt.« (140)
Wie fruchtbar und weiterführend dieses zugleich orientierungs- wie dialogstarke Verfahren ist, wird an verschiedenen kleinen Debatten anschaulich. Zum Beispiel an der Auseinandersetzung über Selbsttranszendenz und Selbstfindung. R. versteht es, die entscheidenden Pointen in der komplexen Diskussion herauszuarbeiten und in einer dichten Sprache zu verknüpfen. D. Bonhoeffer, H. Luther und G. Schneider-Flume sind die Gewährsleute für eine kritische Rezeption des Gestaltungsdiskurses. Gewehrt wird einem falschen Lob des Fragmentarischen und gewahrt das Postulat eines kohärenten Selbstkonzepts, das mit dem Inkohärenten – in Klage und Dank – zu leben vermag (127).
Das Büchlein schließt mit einer biblisch-anthropologischen Meditation zur Gottesgegenwart im Alter (141–151). R. wagt in diesem Ausblick einerseits die Verknüpfung des wissenschaftlichen Diskurses mit der Gottesrede und andererseits eine provokative Kontextualisierung der Glaubensüberzeugungen, die in Jes 46,1–4 begegnen. Solches Sinnen, Trachten und Reden ist für einen Beitrag zum interdisziplinären Dialog eher ungewöhnlich und offenbart ein Theologieverständnis, das innerhalb der eigenen Reihen nicht unumstritten ist. Der Rezensent ist der Meinung, dass eine Ethik mit einem solchen theologischen Profil auch bei den anderen Gesprächspartnern gefragt ist, gerade weil sie die tragende Gottesbeziehung als Perspektive des Glaubens profiliert ins Gespräch einbringt und nicht nur bessere (oder besserwisserische) Religionswissenschaft sein will. Die Frage »wer trägt wen?«, um die R. in dieser Meditation kreist, ist nicht nur ein erbauliches oder frommes Schwänzchen, sondern die Frage, die viele alternde Menschen beschäftigt. Warum nicht auch ein paar Alternswissenschaftler?