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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1122–1123

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Richter, Paul

Titel/Untertitel:

Der Beginn des Menschenlebens bei Thomas von Aquin.

Verlag:

Wien-Berlin: LIT 2008. 234 S. gr.8° = Studien der Moraltheologie, 38. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-8258-1116-7.

Rezensent:

Sibylle Rolf

Angesichts des biotechnischen Fortschritts seit dem zweiten Drittel des 20. Jh.s wächst der Orientierungsbedarf. Neben der Extension von Menschenwürde und der normativen Bedeutung von Personalität stehen die Grenzen des Lebens in Frage: Wann beginnt menschliches Leben und wann endet es? Etwa im Zusammenhang mit der Forschung an Embryonen werden diese Fragen unterschiedlich beantwortet – in der englischsprachigen Ethik etwa hat sich fast allgemein die Position durchgesetzt, menschliches Leben beginne mit dem 14. Tag nach der Befruchtung, mit dem zwischen »Prä-Embryo« und »Embryo« zu unterscheiden sei.
Die Dissertation von Paul Richter stellt einen Beitrag zur ethischen Urteilsbildung innerhalb der bioethischen Debatte dar, indem sie den Beginn des menschlichen Lebens in der Philosophie von Thomas von Aquin darstellt. Diese Darstellung ist insofern von großem Nutzen, als Vertreter unterschiedlicher Positionen sich auf die Konzeption des Thomas stützen, nach der innerhalb der embryonalen Entwicklung die vegetative, sensitive und vernünftige Seele einander ablösen. Die Annahme der »Sukzessiv-Beseelung« (für männliche Embryonen nach 40, für weibliche nach 90 Tagen) war über Jahrhunderte offizielle Lehre der katholischen Kirche; erst 1869 ist von Papst Pius IX. die Unterscheidung von beseelten und unbeseelten bzw. geformten und ungeformten Embryonen aufgehoben worden.
Gegenwärtig sind drei Gruppierungen auszumachen: diejenige (vor allem utilitaristische) Position, die vertritt, es sei zwischen Personen und Nicht-Personen auf Grund von aktuellem Vernunftgebrauch zu unterscheiden (1.), diejenige (gradualistische) Position, die von einer graduellen Entwicklung des Menschseins ausgeht (2.), und schließlich die Position, nach der Menschsein mit der Kernverschmelzung beginnt (3.). Sowohl die zweite als auch die dritte Position rekurrieren zur Begründung auf die Konzeption des Thomas. Darüber hinaus wird zur Begründung vor allem der dritten Position häufig unter Rekurs auf Thomas eine Gruppe von Argumenten herangezogen, die nach ihren Anfangsbuchstaben als SKIP-Argumente benannt werden: das Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument.
R. versucht angesichts dieser Sachlage, in einer Analyse aller relevanten Stellen im thomanischen Werk zu einem Ergebnis dessen zu kommen, wie in der Vorstellung des Thomas die »Sukzessiv-Beseelung« zu verstehen ist und welche Konsequenzen sich für die bioethische Debatte aus diesem Verständnis ergeben. Das besondere Verdienst der Arbeit liegt darin, die relevanten Belege (auch ta­bellarisch) zusammengestellt zu haben, so dass der Rückgriff auf die Position des Aquinaten ein wichtiges Hilfsmittel erhält. Es werden darüber hinaus die Zusammenhänge erhellt, denen die Stellen entnommen sind und die überraschenderweise nicht nur über den Beginn des Menschenlebens handeln, sondern auch in dezidiert theologischen Kontexten wie der Anthropologie und der Christologie stehen.
Nach einer eingehenden Analyse der in Frage kommenden Stellen werden diese zusammenfassend interpretiert. An diesem Punkt zeigt sich die Relevanz der Arbeit für die gegenwärtige Debatte hinsichtlich des menschlichen Lebensbeginns. Das Fazit lautet – eher bescheiden: »Ein Blick auf das Gesamtwerk des Thomas ergibt folgenden Befund: Den Beginn des Menschenlebens für sich genommen zu untersuchen und zu erklären, ist sicherlich kein Hauptanliegen seines Denkens, sondern eine Fragestellung von geringerer Bedeutung. Dennoch kommt Thomas immer wieder auf dieses Thema zu sprechen, weil es mit zentralen Fragestellungen seines Denkens (Anthropologie und hier insbesondere die Seelenlehre) in einem engen Zusammenhang steht.« (173) Die naturwissenschaftlichen Grundannahmen, auf die Thomas die Konzeption der Sukzessivbeseelung aufbaut, entsprechen nicht mehr gegenwärtigem Kenntnisstand (188 f.). Dennoch verfolgt er mit seiner Konzeption nach Ansicht R.s »mehrere Anliegen, die auch für heutige Theologie von Bedeutung sind« (189): Neben der Kooperation der Eltern mit Gott im Geschehen der Zeugung hält er an einer Autonomie der Eltern auf der einen und einer Gottunmittelbarkeit des Embryos auf der anderen Seit fest, wobei die letztere auf der Beseelung mit der Geistseele beruht, die Würde des Menschen ausmacht und in ihrer Zuordnung auf Gott den Embryo dem direkten Zugriff der Eltern entzieht. Darüber hinaus könne Thomas die leibseelische Einheit des Menschen wertschätzen.
Auf Grund der gegenwärtig nicht mehr nachzuvollziehenden na­turwissenschaftlichen Voraussetzungen, von denen Thomas aus­gegangen war, kann seine Konzeption nicht direkt für die Argumentation hinsichtlich des Beginns des Menschenlebens herangezogen werden. Sie wird in der Debatte zwar rezipiert, aber unterschiedlich interpretiert, indem mit ihr sowohl eine absolute als auch eine gradualistische Position begründet werden. In diesem Zusammenhang hätte über das einleitende Kapitel hinaus eine breitere Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen bioethischen Debattenlage klärend für die ethische Urteilsbildung gewirkt. Vor allem die abschließende Würdigung der sog. SKIP-Argumente (222–224), die eine Kongruenz der KIP-Argumente mit der thomasischen Position festhält und diese für das S-Argument offen lässt, bleibt knapp und unbefriedigend. Eine hermeneutische Überlegung hinsichtlich des Rekurses auf naturwissenschaftliche Forschung wäre in diesem Zusammenhang m. E. hilfreich gewesen, ebenso eine eigene begründete Stellungnahme R.s zur strittigen Frage nach dem Beginn des Menschseins innerhalb des thomanischen Systems und – Thomas entsprechend – im Rückgriff auf theologische Anthropologie und in Auseinandersetzung mit neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.