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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1120–1122

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ohly, Lukas

Titel/Untertitel:

Der gentechnische Mensch von morgen und die Skrupel von heute. Menschliche Leibkonstitution und Selbstwerdung in den prinzipiellen Einwänden an Keimbahntherapie und reproduktivem Klonen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 269 S. gr.8° = Forum Systematik, 33. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-17-020564-2.

Rezensent:

Herbert Schlögel

Bei dieser Arbeit handelt es sich um die Habilitationsschrift von Lukas Ohly, die 2007 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde.
Der etwas widerständig formulierte Untertitel »Menschliche Leibkonstitution und Selbstwerdung in den prinzipiellen Einwänden an Keimbahntherapie und reproduktivem Klonen« deutet be­reits an, dass die Untersuchung leitend von anthropologischen Perspektiven geprägt ist. O. geht von der Frage aus, »was es für das Menschsein bedeutet, gentechnisch manipuliert worden zu sein bzw. einige Mitglieder der Gattung entsprechend zu manipulieren. Bei dieser Frage geht es stärker um die Grundlagen unseres menschlichen Selbstverständnisses. Diese besser zu verstehen, hat auch dann einen Erkenntniswert, wenn die fraglichen Techniken nie einsatzfähig sein werden« (12). Weiter sieht sich die Untersuchung in der Linie der Naturrechtstradition, wobei sie darauf hinweist, dass die naturalen Bedingungen sozial gewachsen sind. Dies hat zur Folge, dass auch die Sprache in diesen Prozess mit einzubeziehen ist. »Natur ist keine vorgeordnete Dimension der Sprache, des Denkens und des moralischen Denkens insbesondere. Vielmehr begründen sich Sprache, Natur und Subjektivität wechselseitig. Dies ist eine der zentralen Thesen dieser Arbeit: dass sich das je eigene menschliche Selbstverständnis in eine interdependente Be­ziehung zur Natur, zur menschlichen Gattung und auch zu einer religiös zu interpretierenden Macht aufbaut und erhält« (13).
Teil I der Publikation mit dem Titel »Hermeneutische Rekonstruktion prinzipieller Einwände an gentechnischen Maßnahmen des menschlichen Erbguts« (15–150) bildet das Hauptgewicht der Arbeit. Nachdem O. darauf hingewiesen hat, dass aus seiner Sicht der Begriff »Menschenwürde« nicht geeignet ist, das menschliche Individuum vor gentechnischen Maßnahmen zu schützen (vgl. 25), behandelt er prinzipielle Einwände wie: die Irreversibilität der Maßnahmen, die Selbstwerdung des Menschen, die gehemmt wird. Die Begriffe Selbst, Gattung und Natur sind eng miteinander verbunden.
In verschiedenen Angängen wird der Naturbegriff dabei näher umschrieben: »Die Rede von der Natur des Menschen bezieht sich auf eine unausschöpfliche Unbestimmtheit des betrachteten Menschen zu einem Gesamtpanorama, ohne dass dabei die Rede davon selbst ein solcher Zugang sein muss« (49). Auch die religiöse Seite der Natur wie der Solidarität wird näher betrachtet. »Solidarität wird hier nicht verstanden als eine strategische Partnerschaft der Verbrüderung zur funktionalen Aufhebung von Differenzen in einer gesellschaftlichen Einheit, sondern als transzendentale Be­dingung für die Kommunikation unter Selbsten, die sich genealogisch aus der Wahrnehmung gleicher natürlicher Grundbezogenheit ergibt« (59). O. kommt in diesem Zusammenhang auf die »römisch-katholische Naturgesetzlehre« (65) zu sprechen. An ihr kritisiert er, dass das religiöse Bewusstsein zwar durch die Offenbarung und die konkrete Religion im Sinne einer Zwei-Stufen-Ethik vorhanden sei, aber »das Religiöse ursprünglich unthematisch (sei). Daher betreffen die Einwände gegen gentechnische Eingriffe am menschlichen Genom nur in einem abgeleiteten Sinne religiöse Bezogenheiten des Menschen; unmittelbar ist nur die Moralentwicklung des Menschen gefährdet« (70). Ohne eine ganzheitliche Erfahrung, zu der die religiöse Dimension wie aber auch die Gefühle gehören, kann die Natur »nicht zwingend binden« (79). Die Arbeit bringt dann als eine evangelische Interpretation Friedrich Schleiermachers Beitrag zur Natur mit den Problemen der Gentechnik in Verbindung, ebenso die Kritik von Eilert Herms an Keimbahntherapie und reproduktivem Klonen. Der erste Teil wird abgeschlossen mit phänomenologischen Ansätzen im Anschluss an Schleiermacher. Vor allem die Störung des Selbstvollzugs durch gentechnologische Manipulation kristallisiert sich als Problem heraus. »Die prinzipiellen Einwände an gentechnischer Manipulation des menschlichen Erbguts behaupten eine Verschränkung unseres Sozialverhaltens mit dem Selbstwerdungsprozess jedes Menschen, die durch gentechnische Maßnahmen gestört wird« (149). In den prinzipiellen Einwänden kommt »ein Geflecht von begrifflichen Verweisen« zum Tragen, »in denen auch Religion ein fundamentales Gewicht für die Selbstwerdung zukommt« (150).
Teil II »Diskussion um die prinzipiellen Einwände in theologisch-anthropologischer und -phänomenologischer Perspektive« (151–238) geht auf kritische Ansätze ein. O. wählt hierzu Volker Gerhardt, Hermann Schmitz, Ingolf U. Dalferth und Jean-Paul Sartre aus.
Als Ergebnis sieht er die prinzipiellen Einwände nicht im Kern betroffen, auch nicht durch einen methodischen Atheismus in der Phänomenologie. Die prinzipiellen Einwände sind gerade »durch ihre religiöse Bezugnahme auf eine dritte Dimension zwischen mir und dem Anderen, zwischen Selbstwahrnehmung und Weltwahrnehmung charakterisiert« (238). Zum Schluss fragt die Arbeit III. »Welche Art von Gentechnik ist legitim?« (239–255). Bei der somatischen Gentherapie, bei der keine Auswirkungen auf zukünftige Generationen vorliegen, werden in der theologisch-ethischen Diskussion in der Regel keine Bedenken erhoben. Allerdings müssen auch hier noch weitere Kriterien beachtet werden, wie z. B. die Auswirkungen auf den gesamten Organismus. Während das reproduktive Klonen abgelehnt wird, sieht O. die genannten Probleme beim therapeutischen Klonen nicht. Dies gilt auch für die extrakorporale Befruchtung, weil sie nicht in die genetische Struktur künftiger Generationen eingreift.
Die Arbeit zeigt, dass es lohnend ist, in die Debatte um Keimbahntherapie und reproduktives Klonen phänomenologische Ansätze einzubringen, um die anthropologischen Konsequenzen der Gentechnologie zu verdeutlichen. Aus moraltheologischer Sicht ist zu begrüßen, dass das Naturrechtsargument in diesem Zusammenhang – auch mit Rückgriff auf katholische Literatur – behandelt wird. Aber gerade hier muss man zu bedenken geben, dass die Naturrechtstradition unzureichend charakterisiert ist, wenn sie als »Zwei-Stufen-Ethik« bezeichnet wird, die das Religiöse unthematisch lässt. Eher ist es doch so, dass das Naturrecht in einen Rahmen von Schöpfung und Erlösung eingebettet ist. Ob man deshalb das, wie O. es nennt, »religiöse Bewusstsein qua Offenbahrung und konkrete Religion« und »das Religiöse« (70), das unthematisch sei, so voneinander trennen kann, scheint mir nicht überzeugend. Ein Argument, das mit der Naturrechtstradition zusammenhängt, wird in der Arbeit nicht angesprochen: dass durch die Klontechnik der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird, der die Einheit der Menschen untereinander begründet. Es beinhaltet das Bewusstsein, sich das Leben nicht selbst gegeben und das Leben des Anderen auch in seiner genetischen Ausstattung nicht determiniert zu haben. Die Untersuchung beschäftigt sich fast ausschließlich mit dem reproduktiven Klonen, auch dort, wo sie vom »sogenannten therapeutischen Klonen« (243–246) spricht. O. hält das therapeutischen Klonen für möglich und spricht auch davon, dass der Embryo kein individueller Mensch sei (vgl. 246). Diese Auffassung hätte nun doch stärker diskutiert werden müssen und ist aus meiner Sicht auch aus dem Ansatz der Arbeit nicht ganz schlüssig. Denn selbst unter dieser Prämisse, die ich für falsch halte, müss­te doch gefragt werden, ob die im Embryo angelegte Potenzialität, wenn ich sie zerstöre, nicht dennoch Rückwirkungen auf das Selbstverständnis, ja auf die Selbstwerdung der Menschen, die dies tun und zulassen, hat.
Diese Anfragen schmälern nicht den Ertrag der phänomenologisch-anthropologischen Aussagen für die genannten Themen.