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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1119–1120

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kreß, Hartmut

Titel/Untertitel:

Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz – Selbstbestimmungsrechte – heutige Wertkonflikte. 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 326 S. gr.8° = Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder, 2. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-17-019915-6.

Rezensent:

Reiner Marquard

Dass innerhalb von sechs Jahren eine völlig überarbeitete und erweitere Auflage notwendig wurde (zur vergriffenen 1. Auf. vgl. ThLZ 130 [2005], 993), zeigt an, in welcher Rasanz sich die wissenschaftlichen und politischen Bewertungen der Problemstände »im Licht neuerer ethischer, rechts- und gesundheitspolitischer Dis­kussionen« (11) verändert haben und verändern. K.s Medizinethik bedient nicht ohne Weiteres das von den beiden großen Konfessionen in offiziellen Verlautbarungen gerne bemühte Fürsorgeparadigma, sondern setzt entschieden auf die persönliche Entscheidungskompetenz von Patientinnen und Patienten. Gegenüber der ersten Auflage entfaltet K. mit programmatischer Leidenschaft den Gedanken der Partizipationsgerechtigkeit. Im Motivzusammenhang zwischen Gesundheit und Gerechtigkeit verschränken sich beide Güter dergestalt, dass Gerechtigkeit der innere Grund eines durch sie zu Tage tretenden Gesundheitsschutzes ist (80–104). Staat und Gesellschaft müssen die Individuen befähigen, möglichst eigenverantwortlich und selbstbestimmt mit gesundheitlichen Entscheidungsproblemen umgehen zu können (105–116).
Die Kapitel zur Stammzellforschung und zur Reproduktionsmedizin sind stark erweitert und aktualisiert. Im Rahmen einer grundsätzlichen Erörterung der sog. SKIP-Argumente plädiert K. für einen abgestuften Schutz früher Embryonen (169 ff.). Als An­schlussfrage an die PID trägt er Erwägungen vor, ob eine PID aus Anlass der Lebensrettung eines Dritten ethisch möglich sei (198 ff.). Auch die Debatte um Spätabbrüche hat in aktualisierter Form in das Buch Eingang gefunden. Ebenfalls durchgängig überarbeitet worden ist das Kapitel über Sterbehilfe/Sterbebegleitung (vgl. etwa die zusammenfassenden Punkte zu Patientenverfügungen, 265 ff.). Im Spiegel der letztjährigen Debatten sind verschiedene Fragestellungen neu aufgegriffen worden (z. B. medizinisch assistierter Suizid [278 ff.]). Palliativmedizinisch erhellend sind die von K. geforderten Kriterien zur Durchführung einer palliativen/terminalen Sedierung (282 f.). Das Kapitel zur Organtransplantation (217 ff.) wurde überarbeitet und der Sache nach fortentwickelt. Anders als noch in der ersten Auflage plädiert K. unter den Gesichtspunkten des Gesundheitsschutzes und der moralischen Pflicht zur Hilfeleistung, die erst recht zu Gunsten von Todkranken gilt, für eine Änderung des deutschen Gesetzes, d. h. für eine Widerspruchslösung (230).
K. kommt das Verdienst zu, sich nicht nur mit den Grenzen des Lebens vor oder im Umkreis der Geburt, bei schwerster Krankheit, beim Sterben oder der Organentnahme befasst zu haben; seine ethisch-normativen Urteilsfindungen geschehen selbst auf einer Grenze. Es gibt wenige Ethiken, die im Rekurs auf bergendes Sinnwissen so dicht an den Leidenden wie an den Helfenden geschrieben sind. K.s Ethik ist eine advokatorische Ethik (wie ein Silberfaden durchwebt das Buch z. B. die Frage nach dem Recht des Kindes und des Kindeswohls).
Der Ethiker ist Anwalt der Güte des Lebens. In der Anwaltschaft riskiert sich der Ethiker, indem er Würdekollisionen konstatieren muss. Das macht das Buch ehrlich, pluralitäts- und dialogfähig. Wer in den Grundfragen momentaner ethischer Diskurse besser verstehen (es gibt wenige Ethiker, die derartig seriös in das medizinische Faktenwissen eingearbeitet sind!) und womöglich mitreden möchte, kommt an dieser Ethik nicht vorbei.