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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1117–1119

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hermanns, Manfred

Titel/Untertitel:

Sozialethik im Wandel der Zeit. Persönlichkeiten – Forschungen – Wirkungen des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre und des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster 1893–1997. M. e. Geleitwort v. R. Lettmann

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2006. XVI, 541 S. gr.8° = Abhandlungen zur Sozialethik, 49. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-506-72989-7.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

Im Jahr 1893 wurde der dem Zentrum zugehörige Sozialpolitiker und Kaplan Franz Hitze auf ein Extraordinariat der Katholisch-Theologischen Fakultät an die Königliche Akademie Münster berufen. Damit begann die Geschichte des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der (1902 in der Nachfolge der Akademie wiederbegründeten) Universität Münster, für lange Jahre der einzige seiner Art in Deutschland. H. erzählt die ersten gut 100 Jahre dieser Geschichte. Er orientiert sich dabei an den Lehrstuhlinhabern, die jeder auf seine Art der Arbeit am Lehrstuhl ein besonderes Gepräge gaben. »Die Spurensuche ermöglicht an dem Beispiel eines einflußreichen Lehrstuhls der Geschichte des Sozialkatholizismus und der in ihm wirksamen Soziallehre während eines Jahrhunderts nachzugehen und so einen Beitrag zur Kirchen- und Sozialgeschichte der Neuzeit, aber auch zur Wissenschaftsgeschichte zu leis­ten« (21).
Franz Hitze (1851–1921; 23–116) war ein Quereinsteiger in die akademische Arbeit (er erhielt den Dr. h.c. erst im Frühjahr 1893 durch die katholisch-theologische Fakultät in Münster, an der er wenige Monate später seine Stelle antrat). Hitze hatte sich einen Namen als sozialpolitisch engagierter Reichstagsabgeordneter gemacht und verdankte seine Berufung letztlich dem Interesse an einer Eindämmung des Einflusses der Sozialdemokratie auf die katholischen Theologiestudenten. Er behielt sein Reichstagsmandat parallel zur Professur bei, und Themen wie die Arbeiter-, die Handwerker- und die Agrarfrage beherrschten seine Lehr- und Publikationstätigkeit.
Sein Nachfolger Heinrich Weber (1888–1946; 117–225) gab dem Lehrstuhl in doppelter Hinsicht eine besondere Prägung. Zum einen war er in Theologie und Wirtschaftswissenschaften promoviert und konnte deshalb 1924 parallel zum theologischen Lehrstuhl eine Professur an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät übernehmen, mit der die Leitung des Instituts für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften verknüpft war. Zum anderen war er stark im Deutschen Caritasverband engagiert, was zu einem relativen Schwerpunkt auf Fragen der Caritas in Forschung und Lehre führte. 1935 von den Nazis nach Breslau strafversetzt, kehrte Weber erst 1945 wieder nach Münster zurück.
Auf Weber folgte 1951 der spätere Kardinal Joseph Höffner (1906–1987; 227–308). Die Jahre unter seiner Leitung werden von H. als die Blütezeit von Lehrstuhl und Institut beschrieben. Höffner gelang es in der allgemeinen Aufbruchstimmung der Adenauerzeit, die Infrastruktur des Lehrstuhls (nunmehr als Institut für Christliche Sozialwissenschaften) erheblich zu vergrößern, eine vielfältige Schülerschaft um sich zu sammeln und eine erhebliche Breitenwirkung bis in die Politikberatung der Bundesregierung zu entfalten.
Nachdem Höffner 1962 zum Bischof von Münster ernannt worden war, wurde 1964 sein ehemaliger Assistent Wilhelm Weber (1925–1983; 309–388) zu seinem Nachfolger berufen. Weber führte Lehrstuhl und Institut im Geiste Höffners fort und blieb wie dieser als Berater dem Bund Katholischer Unternehmer (BKU) verbunden. Von H. besonders hervorgehoben werden die innerfakultären Konflikte in der Münsteraner Katholisch-Theologischen Fakultät im Zuge der in den 70er Jahren populär werdenden »Politischen Theologie«, von der Weber sich distanzierte. Nachdem er 1981 einen die sandinistische Revolution kritisierenden »Reisebericht aus Nicaragua« veröffentlicht hatte, wurden seine Lehrveranstaltungen von Studierenden gestört. Seine Krankheit und sein früher Tod werden von H. letztlich auf diese langjährige Auseinandersetzung zurückgeführt, und er lässt Weber als konsequenten »Verteidiger der katholischen Soziallehre und der sozialen Marktwirtschaft« (309) erscheinen.
Am Ende der Reihe der dargestellten Porträts steht Franz Furger (1935–1997; 389–446). Mit ihm erhält der Lehrstuhl ein stärker theologisches Profil. Neben einer stärkeren Einbeziehung fundamentaltheologischer Fragen gehört dazu auch ein – in Ergänzung zu der die Lehrstuhltradition fortführenden Thematisierung von Wirtschaft und Arbeit – neuer Schwerpunkt auf Themen der Bio­ethik. In die Zeit Furgers fällt auch ein nach einer ersten Verkleinerung 1973 nochmaliger Umzug. »Für alle, die noch die Institutsräume in der Johannisstraße aus der Höffner-Zeit kannten, war diese abermalige Verschlechterung der räumlichen Institutssituation eine schmerzliche Erfahrung, zeigte sie doch, daß die gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen für die Christliche Gesellschaftslehre trotz ihrer Modernisierung ungünstiger geworden waren« (417). Hinzu kommt, dass bei Furgers Berufung die Anbindung an die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät weggefallen war, was in H.s Augen einen »Traditionsbruch« darstellt, »denn von Franz Hitze an war der Münsteraner Lehrstuhl bei aller theologischen Verankerung eindeutig wirtschaftswissenschaftlich orientiert« (391 – eine starke These).
Damit sind wir schon bei H.s Urteil über die von ihm beschriebene Geschichte. Nicht ohne Wehmut wird der Verlust der unter Höffner erreichten Breitenwirkung attestiert. »Die Jahre seines [Höffners] wissenschaftlichen Wirkens in Münster waren gleichzeitig auch die Höhepunkte in der fünfzigjährigen Geschichte des von ihm gegründeten Instituts für Christliche Sozialwissenschaften und des hundertjährigen Lehrstuhls« (448). Furger hingegen ist der erste der Lehrstuhlinhaber, an dem H. wenigstens zarte Kritik übt. Ihm habe der induktive, an der konkreten gesellschaftlichen Entwicklung orientierte Zug seiner Vorgänger gefehlt, was zwar wissenschaftsgeschichtlich im Rahmen der fortschreitenden Differenzierung verständlich, jedoch für die »Außenwirkung der Christlichen Sozialwissenschaften« nachteilig gewesen sei (444). Wenigs­tens eine fundamentale Gemeinsamkeit wird von H. gleichwohl attestiert: »Aus den Impulsen des Glaubens haben sich alle fünf Lehrstuhlinhaber eingesetzt für die humane und gerechte Gestaltung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens« (445).
Insgesamt wird die Geschichte des Lehrstuhls von H. als Erfolgsgeschichte geschildert, und für dieses Urteil spricht schon die Vorbildfunktion: Im Laufe der Jahre wurden an deutschen Universi­täten – nicht zuletzt an evangelisch-theologischen Fakultäten – meh­rere Lehrstühle und Institute begründet, die ähnlich wie seinerzeit in Münster an der Schnittstelle von Theologie und Sozialwissenschaften angesiedelt sind und so eine wichtige Brückenfunktion einnehmen. »Der Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften in Münster hat in mehr als 100 Jahren maßgebend an der Geschichte der deutschen Gesellschaft und Kirche und zum Teil darüber hinaus mitgewirkt« (450). Auch wird man H. darin gerne Recht geben, dass die wechselvolle Geschichte des Münsteraner Lehrstuhls in hohem Maße den Zeitlauf widerspiegelt. Insofern kann sein Buch das gesteckte Ziel, mit der Lehrstuhl- zugleich Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, durchaus erfüllen. Für dieses Ziel hat H. akribisch und detailorientiert gearbeitet – bis hin zu den biographischen Fußnoten, die allen im Verlauf der Schilderung auftauchenden wichtigen Gesprächspartnern der Lehrstuhlinhaber gewidmet sind.
H. hat ein lehrreiches Buch geschrieben, in dem die Geschichte der Theologie im 20. Jh. samt der Wechsel in ihrer institutionellen Anbindung und gesellschaftlichen Stellung exemplarisch und plas­tisch deutlich wird. Dass dabei die Darstellung der Lehrstuhlinhaber quasi kritiklos erfolgt (auch die oben erwähnte Kritik an Furger ergibt sich ja erst durch den Vergleich mit seinen Vorgängern), mag man der Leidenschaft des Chronisten für seinen Gegenstand nachsehen. Die wiederholte Polemik gegen die »Reideologisierung der Gesellschaft« (450) und den »revolutionäre[n] Spuk der siebziger Jahre« (3) hingegen ist viel zu undifferenziert und trübt das Bild einer soliden Forschungsarbeit.