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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1115–1116

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bedford-Strohm, Heinrich, Jähnichen, Traugott, Reuter, Hans-Richard, Reihs, Sigrid, u. Gerhard Wegner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Von der »Barmherzigkeit« zum »Sozial-Markt«. Zur Ökonomisierung der sozialdiakonischen Dienste.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. 256 S. gr.8° = Jahrbuch Sozialer Protestantismus, 2. Kart. EUR 29,95. ISBN 978-3-579-08051-2.

Rezensent:

Arnd Götzelmann

Hatte sich der erste Band der Reihe »Jahrbuch Sozialer Protestantismus« im Jahr 2007 mit dem wirtschafts- und sozialethischen Thema »Kontinuität und Umbruch im deutschen Wirtschafts- und Sozialmodell« befasst, so steht im zweiten Band von 2008 nun das schon einige Zeit aktuelle diakoniewissenschaftliche Thema der »Ökonomisierung sozialdiakonischer Dienste« im Fokus des Interesses der Herausgeber.
Der Band besteht aus vier Teilen: 1. »Beiträge zum Schwerpunktthema«, die im Folgenden genauer besprochen werden sollen, 2. »Dokumentationen« zur Tagung der »Stiftung Sozialer Protes­tantismus« im Mai 2007 und der Stellungnahme »›Gerechte Ansprüche‹ – Schaffung und Sicherung gerechter Teilhabe durch Gewerkschaften« einer vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD eingesetzten Projektgruppe, 3. »Berichte« zu »The Changing Relationship between Government and Faith-based Initiatives: A German-American Comparison« und zum »Europäischen Kongress ›Kirchen gegen Armut und Ausgrenzung‹« vom März 2008 in Heidelberg, sowie 4. zwei »Rezensionen«.
Das Schwerpunktthema im Hauptteil des Jahresbandes (11–203) bietet ein vielfältiges Mosaik aus diakonietheologischen, sozial-ökonomischen, pflege- und gesundheitsethischen Beiträgen, die Traugott Jähnichen, dem die Redaktion des Bandes oblag, in seinem Einführungsaufsatz (11–18) in eine systematischen Ordnung zu bringen sucht. Alle Beiträge haben mit dem Spannungsfeld von ökonomischer Effizienz bzw. Konkurrenz und theologisch-ethischem Profil diakonischer Praxis zu tun. Ausgangspunkt ist nach Jähnichen die »Ökonomisierung des Sozialen«, die sich seit gut zehn Jahren in der »Herausbildung marktähnlicher Strukturen für soziale Dienste« repräsentiere und diese zur Neuorientierung nötige. In fast allen Beiträgen wird dabei der Begriff »Ökonomisierung« in abgrenzender Weise kritisch bis polemisch gegen die Einführung von marktwirtschaftlichen Prinzipien und Methoden in das deutsche Sozial- und Gesundheitswesen verwendet. Dabei wird das Problem des Ökonomismus, d. h. der Überformung aller gesellschaftlichen Bereiche durch ökonomische Prinzipien, relevant, das sich bezüglich der sozial-diakonischen Dienste in der Einführung von Wettbewerbsstrukturen und der Implementierung betriebswirtschaftlicher Management- und Steuerungsmodelle bis hin zur Wegrationalisierung von christlicher Tradition und Spiritualität auspräge.
Die zehn Aufsätze des Schwerpunktthemas sind im Blick auf den fachlichen Hintergrund, die thematische Ausrichtung und den kontextuellen Anlass sehr unterschiedlich, bilden in ihrer Vielfalt jedoch ein buntes Bild der aktuellen Einschätzungen und Deutungen der Lage.
Der Jahrbuch-Mitherausgeber Heinrich Bedford-Strohm be­fasst sich in seinem Grundsatzbeitrag mit »Diakonie in der Perspektive ›öffentlicher Theologie‹« (19–32). Im dialektischen Sinne hebt er die beiden Diakoniemodelle der »Kontrastgesellschaft« und des »Gesellschaftsdienstes« auf in seinem eigenen dritten Ansatz einer »öffentlichen Diakonie« in der pluralistischen Gesellschaft. Sein Modell sieht er getragen von zugleich partnerschaftlicher Kooperation und kritischer Distanz zwischen Diakonie und Staat auf der Basis der biblischen Option für die Armen. Angesichts des In­no­vationsdrucks, den die sich ändernden sozialpolitischen Rahmenbedingungen auf die diakonischen Träger und Verbände aus­üben, plädiert Franz Segbers in seinem Aufsatz mit dem Titel »Sozialwirtschaft ist mehr als ein Sozialmarkt« (33–50) für das diako­nietheologisch basierte Engagement der kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen auf den Ebenen der »Wirtschaftsbürgerethik«, der Unternehmensethik und nicht zuletzt auch der Ordnungspolitik. Am Beispiel der Arbeitsmarktpolitik zeigt Uwe Be­cker die Problematik des aktivierenden Sozialstaatsmodells und die ökonomischen Ursachen der Arbeitslosigkeit auf. Wenn er, wie im Titel seines Beitrags, von der »Tabuisierung des Ökonomischen« (51–63) spricht, so wendet er sich gegen die Entkopplung der sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit von ihren wirtschaftlichen Wurzeln: »Die Folgen dieser Tabuisierung der ökonomischen Voraussetzungen der sozialen Misere sind zum einen, dass die Lösung der sozialen Frage … auf der Ebene der Sozialtechnik verortet wird, und zum anderen, dass … die vermeintlich defizitäre Humanqualität der Betroffenen als eigentliche Ursache der Misere identifiziert« (54) werde. Dieser Entwicklung, die er zugleich als »Indiz für die Verarmung der öffentlichen politischen Kultur« (63) versteht, müsse die Diakonie entgegenwirken. Der Veränderungsdruck auf diakonische Einrichtungen wird von Steffen Fleßa als Verpflichtung und Chance gesehen, denn er deutet die »Innovationspromotion als originäre Funktion diakonischer Sozialleistungsunternehmen« – so die Themenstellung seines Beitrages (64–87): »Gefragt sind deshalb neue Produkte, die alle bisherigen Systemlösungen in Frage stellen, ohne jedoch den Kern unseres Glaubens zu gefährden.« (86) Der Schlüssel dazu liege in der Besetzung von diakonischen Führungspositionen mit innovationsfreudigen Mitarbeitenden.
Die folgenden vier Beiträge beziehen sich im weiteren Sinn auf die Transformationsprozesse diakonischer Akteure und sozialpolitischer Strukturen im Gesundheitswesen. So thematisieren Eva Senghaas-Knobloch und Christel Kumbruck »Das Ethos fürsorglicher (Pflege-)Praxis in der modernen Dienstleistungsgesellschaft« (88–110), Gerhard Wegener die »Diakonie-/Sozialstation im Spannungsfeld christlicher Nächstenliebe und sozialpolitischer Entwicklungen« unter dem Titel »Ent-täuschte Begeisterung« (111–132), Cornelia Coenen-Marx »Pflegemarkt und Pflegeethos. Ein diakonischer Beruf zwischen Interaktion und Dienstleistung« (133–152) und Johannes Eurich »Liebende Sorgearbeit und sozialunternehmerisches Handeln: Zur Ökonomisierung der Sozialen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen« (153–171). – Etwas Besonderes stellt der Beitrag von Friedrich Vogelbusch dar, der sich als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater mit einem unmittelbar ökonomischen Thema auseinandersetzt, nämlich der ganz praktischen Frage nach den »Neue[n] Transparenzanforderungen im Finanzierungsmarkt – Die Einbindung der Diakonie in den Spendenmarkt« (172–203).
Das zweite Jahrbuch Sozialer Protestantismus bietet also – ohne dass man hohe Ansprüche an eine konzise Systematik oder ein einheitliches wissenschaftliches Genre legen darf – eine Fülle von unterschiedlichen Zugängen zum weiterhin aktuellen Thema der »Ökonomisierung« des Sozialen und Diakonischen. Jeder Aufsatz ist in seinem fachlichen Kontext eingebettet zu verstehen, wozu auch das Verzeichnis der Autorinnen und Autoren verhilft, und bringt seine Spezifika mit sich, die in den Überschriften meist gut repräsentiert werden. Das Buch kann von allen mit Gewinn gelesen werden, die sich für die spannungsreiche Beziehung von Diakonie und Ökonomie interessieren.