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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1110–1113

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Huber, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Der christliche Glaube. Eine evangelische Orientierung.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. 286 S. 8°. Geb. EUR 19,95. ISBN 978-3-579-06449-9.

Rezensent:

Wilfried Härle

Für die Verlautbarungen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, dessen Vorsitzender der Autor dieses Buches ist, hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten eine grobe Klassifikation eingebürgert: Denkschriften, Orientierungshilfen, Argumentationshilfen. Die Erstgenannten werden in einer der jüngsten Veröffentlichungen des Rates der EKD (Das rechte Wort zur rechten Zeit, Gütersloh 2008, 54) selbst wie folgt charakterisiert: »Ziel und Anspruch von Denkschriften ist, gedankenstark, wissenschaftlich informiert, auf der Höhe der gesellschaftlichen Diskussion, umfassend, kompetent in der Analyse und klar argumentierend in den Schlussfolgerungen zu sein«. Die zuletzt genannten Argumentationshilfen erscheinen hingegen dann, wenn die Meinungs- und Urteilsbildung innerhalb der EKD (noch) nicht zu einer Überein stimmung im Grundsätzlichen vorgedrungen ist. Ihr Ziel und An­spruch ist es, die unterschiedlichen, kontroversen Positionen möglichst klar, fair und durchsichtig darzustellen, einander ge­genüberzustellen, auf vorhandene Differenzen und mögliche Gemeinsamkeiten hin durchsichtig zu machen und so die öffentliche Diskussion und Urteilsbildung innerhalb und außerhalb der EKD zu befördern. Dazwischen stehen die Orientierungshilfen, die – darin den Denkschriften vergleichbar – eine profilierte evangelische Position vertreten und damit eine Richtungsangabe machen wollen, aber anders als diese nicht unter dem Anspruch stehen, »in Stein gemeißelt« (ebd.) zu sein, weil sie weniger durch wissenschaftliche Information und analytische Schärfe als durch gedankliche Anregungen, Überzeugungskraft und Anschaulichkeit die Leser für sich gewinnen wollen.
Das neue Buch von H. nennt sich im Untertitel »Eine evangelische Orientierung« und nähert sich damit in Form einer Selbstkennzeichnung dem zuletzt genannten Typus kirchlicher Äußerungen an – und es wird diesem Anspruch meines Erachtens auch gerecht. Dabei ist natürlich sofort darauf hinzuweisen, dass es sich bei dieser Veröffentlichung nicht um einen kirchenamtlichen Text des Rates der EKD, auch nicht seines amtierenden Vorsitzenden handelt. Aber den Bezug zur Tatsache, dass H. dieses kirchenleitende Amt innehat, kann und will die Schrift ganz offensichtlich ebenfalls nicht verleugnen. Symptomatisch hierfür ist der Schutzumschlag mit dem Porträt des Ratsvorsitzenden in Amtstracht, ob­wohl der Inhalt doch »Der christliche Glaube« ist, und für den steht vielleicht eher das schlichte, schmucklose Cover, das sichtbar wird, wenn man den Schutzumschlag entfernt.
Das Buch mit seinen knapp 300 Seiten ist sehr übersichtlich anhand der paulinischen Trias Glaube, Hoffnung, Liebe aufgebaut, wobei die Teile sehr unterschiedlich lang sind. Mit dem Glauben beschäftigen sich knapp 200 Seiten in trinitarischer Abfolge (Gott – Schöpfer der Welt; Christus – Gott bei den Menschen; Der Heilige Geist – ein Geist der Freiheit), während 40 Seiten der Hoffnung und 30 Seiten der Liebe gewidmet sind. Ein ca. 100 Titel umfassendes Literaturverzeichnis, in dem die im Buch erwähnte Literatur aufgelistet wird, und ein Bibelstellenverzeichnis schließen das Buch ab.
Nach einer kurzen Einleitung, von der noch zu reden sein wird, beginnt H. mit den Fragen der Schöpfungslehre, wie sie heute viele Menschen unter den Stichworten Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube, Schöpfungsverantwortung und Theodizee beschäftigen. Geschickt und sachgemäß werden diese Fragen unter die zwei Teilüberschriften »Gott sei gelobt« (17) und »Gott sei’s geklagt« (53) gruppiert und damit zugleich zwei Grundformen des Betens zugeordnet. Unter dem Stichwort »Klage« wird dann – theologisch ganz überzeugend – die Thematik von Sünde und Schuld verhandelt.
Im Anschluss an diesen ersten, schöpfungstheologischen Ab­schnitt folgt eine ebenso verständliche wie substantielle Behandlung von Grundfragen der Christologie, in deren Zentrum der Satz steht: »Jesus bringt den Menschen Gott« (97 ff.). Es ist die Kategorie der »Gottesgegenwart«, mit der H. hier anschaulich und gut nachvollziehbar operiert, wobei er diesen Zentralbegriff sowohl am »kirchlichen Bildprogramm« (Altäre, Gemälde etc.) als auch an der Rede von den »Wahrnehmungsgestalten Jesu« verdeutlicht (86–97). Diese christologischen Überlegungen führen hin zur Frage nach der Rolle und Bedeutung Jesu im interreligiösen Gespräch (128–131). Dabei entsteht bedauerlicherweise der Eindruck, das islamische Pendant zu Jesus sei Mohammed, während man doch in Wirklichkeit Jesus mit dem Koran (als dem Mensch oder Buch gewordenen Wort Gottes) und Mohammed mit der Bibel (als dem Zeugen bzw. Zeugnis für dieses Wort) vergleichen muss. Aber diese kategoriale Verschiebung hindert nicht daran, dass die tatsächlich bestehenden Differenzpunkte und Dialognotwendigkeiten hinreichend deutlich zur Darstellung kommen.
Den Abschluss des Hauptteils über den Glauben bildet der pneu­matologische und zugleich ekklesiologische (133–200) Ab­schnitt, in dem am stärksten die kirchenleitende Funktion und das kirchenreformerische Interesse H.s – bis hin zu einer breiten Be­schäftigung mit den Themen »Zukunft der Kirche« und »Spiritualität« – zum Ausdruck kommen. Eine strukturbildende Funktion erhalten hier vor allem die vier Bilder von Kirche und Gemeinde, mit denen H. im Anschluss an das Neue Testament operiert: Ge­meinschaft, Leib Christi, Volk Gottes und Haus der lebendigen Steine (151–158). In diesem Teil kommt auch die Frage vor, die üblicherweise in einer Glaubenslehre schon in den Prolegomena verhandelt wird: das Verhältnis von Glauben und Vernunft, wobei H. hierbei eine Synthese von Anselm von Canterbury (»credo ut intelligam«) und Immanuel Kant (»das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«) anstrebt, die mich noch nicht restlos überzeugt hat.
Der zweite Hauptteil über die Hoffnung (201–242) ist nach meinem Dafürhalten der inhaltlich stärkste Teil des ganzen Buches, und das will angesichts einer verbreiteten – auch kirchlichen – Ratlosigkeit im Blick auf ein ermutigendes, redliches Sprechen von Zukunftshoffnung im Blick auf Zeit und Ewigkeit viel heißen. Hier erfüllt das Buch seinen Anspruch, Orientierung zu geben, am stärksten, weil es sich ehrlich den kritischen Fragen der Zeit stellt und nicht an ihnen vorbei, sondern durch sie hindurch einen Zugang zu den zentralen Antworten der biblischen Botschaft sucht – und weithin auch findet. Das gelingt meinem Eindruck nach vor allem durch die Ernsthaftigkeit, in der die drei Zukunftsgefährdungen »Ausweglosigkeit«, »Beziehungslosigkeit« und »Bedeutungslosigkeit« durchdacht werden, und durch die konsequent theozentrische Orientierung der Aussagen über die Auferstehung der Toten und das ewige Leben.
Der dritte und letzte Hauptteil, der dem Thema »Liebe« gewidmet ist, knüpft an die Aussagen zur »Evolution der Liebe« an, wie sie sich bei dem Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther finden, und führt von da in knappen Schritten zu den neutestamentlichen Aussagen über die Bedeutung und den Gehalt des Liebesgebotes, das H. durchgängig als »Dreifachgebot der Liebe« (Gottesliebe, Selbstliebe, Nächstenliebe) interpretiert. Dass und inwiefern auch die Selbstliebe (im Gegensatz zur Selbstsucht) tatsächlich den Charakter eines Gebotes hat, hätte H. noch überzeugender begründen können durch Rückgriff auf die tiefgründige Einsicht Bernhards von Clairvaux, dass es die höchste und schwerste Form der Liebe ist, sich selbst um Gottes willen zu lieben. Verdienstvoll ist jedoch, dass H. in diesem Abschnitt den Unterschied zwischen Goldener Regel und Liebesgebot ebenso herausarbeitet, wie er die Entgegensetzung von Agape und Eros problematisiert. Dass Augustin nur als Konstrukteur der beiden Gebotstafeln gewürdigt wird, aber sein »Dilige, et quod vis fac« in diesem Abschnitt keine Erwähnung und – sei es kritische – Würdigung findet, stellt eine bedauerliche Lücke dar. Es hätte so nahe gelegen.
Als störend empfinde ich den Einstieg unter der Überschrift »Rückwärts be­ten– oder: Wo stehen wir heute?« (7–14). Ein wohlmeinender Mensch habe ihm ungefragt geraten, wenn er nicht schlafen könne, solle er (z. B. das Vater­unser) rückwärts beten, berichtet H. und gibt diesen Rat nun, da er bei ihm wirkte, offenbar an die Leser weiter. Ich will ja gar nicht bestreiten, dass eine solche unübliche Form der Textmeditation auch neue Zugänge zu Texten erschließen kann. Aber ich habe doch den Eindruck gewonnen, dass es nicht empfehlenswert ist, solche hermeneutischen Erwägungen oder Erfahrungen mit Methoden zur Überwindung von Einschlafstörungen in eine allzu enge Verbindung zu bringen. Gelegentlich gleitet das Buch in Schilderungen oder Erwägungen klischeehafter Art ab, z. B. über das frühere Ständeabendmahl (73) oder Zarah Leanders »Kann denn Liebe Sünde sein?« (265), die ich nicht vermisst hätte, wenn sie fehlen würden.
Als sehr missverständlich empfinde ich die Aussage über Leibniz’ Theodizee: »Die Vorstellung von einem ›metaphysischen Übel‹, auf welches das physische oder moralische Übel zurückgeführt werden könne, lehnte er also ab« (59). Dass es Leibniz war, der das metaphysische Übel ganz zu Recht als Grundform des Übels eingeführt hat (die alsbald von Kant wieder eliminiert wurde), kann man dieser Aussage H.s nicht entnehmen. Ebenso wird die kurze Erwähnung von (Nietzsches) »Fernstenliebe« (254) dem nicht gerecht, was Nietzsche damit in positiv-kritischer Absicht der christlichen Nächstenliebe entgegensetzen wollte.
Dem Anspruch und der Zielsetzung des Buches ist es wohl geschuldet, dass Begriffe (auch Grundbegriffe wie »Gott«, »Glaube« oder »Hoffnung«) nicht terminologisch klar eingeführt, sondern in unterschiedlichen Bedeutungsnuancen gebraucht werden. Ob das der Orientierung dient, kann man fragen. Aber die Einführung analytisch scharfer Definitionen, soweit sie denn überhaupt möglich und angemessen sind, würde man in einem solchen Buch wohl eher als einen Fremdkörper empfinden. Dieser Hinweis ist deshalb nicht als Kritik gemeint, sondern nennt nur ein Charakteristikum des Buches.
Ausgesprochen gut gelungen ist meines Erachtens die Einbeziehung »großer« biblischer, theologie- und frömmigkeitsgeschichtlicher Texte in den Band. So wird jeder Abschnitt mit einem ausführlichen Zitat eröffnet, das nicht nur als Vorspann dient, sondern selbst orientierenden Charakter hat. Aber weit darüber hinaus kommen in diesem Buch so viele zentrale biblische, theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Texte (im vollen Wortlaut) vor, dass die Leser, denen die Bibel und die Geschichte von Kirche und Theologie fremd (geworden) sind, auf eine ganz unaufdringliche, aber informative und verlässliche Weise an diese Sprach- und Gedankenwelt herangeführt werden. Lediglich die irrtümliche Aussage, dass (auch) im Markusevangelium Jesus »als Kind auftritt« (90), sollte in einer Neuauflage nicht stehen bleiben. Insgesamt habe ich jedoch den Eindruck, dass das Fehlen einer theologischen Reflexion über die Bedeutung von Bibel und Bekenntnis (und Gesangbuch) für den christlichen Glauben durch die ansprechende und überzeugende Art, wie solche Texte in diesem Band vorkommen, bei Weitem ausgeglichen wird.
H. wendet sich mit seinem Buch an Menschen, die mit der Frage nach dem christlichen Glauben – so oder so – »nicht fertig sind«. Ihnen legt er seine »Klärungsversuche und Klärungsvorschläge« (12 f.) vor – und zwar in einladender Absicht. Das ist ihm gelungen.
»Der christliche Glaube« ist keine Laiendogmatik im strengen Sinn und keine Apologetik des christlichen Glaubens für das 21. Jh. Beides werden wir in Zukunft wohl noch vermehrt brauchen. Beides will das Buch aber auch nicht sein, sondern eben eine evangelische Orientierung(shilfe). Und diesen Anspruch erfüllt es in beeindruckender Weise. Mit einem von der großen Schwesterkirche entliehenen Terminus könnte man es als umfassendes und ge­haltvolles evangelisches Hirtenwort bezeichnen, das seine Überzeugungskraft freilich nicht aus dem Amt gewinnen will, das H. innehat, sondern aus der Sache, von der er aus Überzeugung redet.