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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1108–1110

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hasselhoff, Görge K. u. Michael Meyer-Blanck [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Rationalität.

Verlag:

Würzburg: Ergon 2008. 371 S. gr.8° = Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft, 4. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-89913-639-5.

Rezensent:

Klaus von Stosch

Inspiriert durch die Regensburger Rede des Papstes Benedikt XVI. legt der Sammelband eine Reihe von Beiträgen vor, die sich alle mit der vom Papst aufgerissenen Frage nach der Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft bzw. Religion und Rationalität beschäftigen. Der Kern dieser Beiträge geht auf eine im Sommersemester 2007 vom Bonner Zentrum für Religion und Gesellschaft veranstaltete Ringvorlesung zurück. In weiten Strecken stellt er eine harsche Kritik an der Position des Papstes dar, die überwiegend von protestantischen Autoren meist lutherischer Prägung vorgetragen wird. Diese kritische Auseinandersetzung gibt vielen der Aufsätze ein gemeinsames Anliegen, das dem Band in seiner Kohärenz guttut und ihn lesenswert und streitbar macht. Freilich hätte man sich etwas mehr Raum für katholische Stimmen gewünscht, die eine differenziertere Debatte um die Anliegen des Papstes ermöglicht hätten.
Vermutlich um diesen fehlenden Raum in der Wahrnehmung des Bandes etwas auszugleichen, erhält der einzige katholische Verteidiger des Papstes, der in dem Band zu Wort kommt, die Ehre den Band zu eröffnen. Leider ist dieser Beitrag des Bonner Dogmatikers Michael Schulz (15–42) allerdings so konfiguriert, dass er primär innerkatholische Debatten im Auge hat und gar nicht oder völlig unzureichend auf die vielen Anfragen aus anderen Richtungen eingeht. Schulz würdigt in seinem Beitrag ausführlich die Anliegen des Papstes und listet eine Reihe von Antworten auf den Papst auf, die überwiegend in wohlwollendem Ton verfasst sind (15–22). Die einzige Kritik, mit der er sich ausführlich auseinandersetzt, ist die des katholischen Fundamentaltheologen Hansjürgen Verweyen, die in ähnlicher Weise vom Bonner katholischen Kollegen von Schulz, Karl-Heinz Menke, und Klaus Müller aus Münster vorgetragen wird (23–41). Diese Kritik hinterfragt zwar in bedenkenswerter Weise, ob Ratzingers Position nicht aus einer Verweigerung be­stimmter Entwicklungen der Moderne resultiert, steigert die An­sprüche autonomer Vernunft aber in solche Höhen, dass es leicht ist, Ratzingers Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft dagegen zu verteidigen. Trotzdem fällt es einem schwer, in die von Schulz vorgetragene Apologetik Ratzingers einzustimmen. Zum einen wirkt die von ihm referierte Dichotomie zwischen materialistischer und idealistischer bzw. voluntaristischer Weltsicht (30) ein wenig zu grob angelegt, um überzeugen zu können (wenn die Welt doch so einfach wäre!). Zum anderen ist seine vom Papst inspirierte vehemente Kantkritik zu undifferenziert und erinnert an erklärtermaßen antimoderne Zeiten katholischer Apologetik, die der Rezensent in der universitären deutschsprachigen katholischen Theologie eigentlich für überwunden hielt. Kant wird von Schulz nicht nur als Grund des angeblichen postmodernen Schwächeanfalls der Vernunft identifiziert (33), sondern auch als Denker, der – anders als Fichte (!) – die Bedeutung von Intersubjektivität nicht angemessen einzuholen vermag (39) – offenbar ein (philosophisch nur schwer nachvollziehbares) Friedensangebot, an die so­eben genannten katholischen Kritiker des Papstes.
Den durch die Kantkritik ins Feld geworfenen Fehdehandschuh nimmt Michael Meyer-Blanck in seiner Replik auf Ratzinger auf (43–62). Er stellt die Kritik Ratzingers an der neuzeitlichen Vernunft in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die dabei von Ratzinger behauptete Rückführung von Subjektivismus, Ethisierung und Historismus auf die Traditionslinie Reformation – Kant – Harnack weist er entschieden zurück und zeigt, dass die reformatorische Neubesinnung auf die Schrift es war, die die Unterscheidung von Glaube und Vernunft ebenso begünstigte wie die von Religion, Wissenschaft und Politik (51). Besonders hilfreich ist seine Differenzierung zwischen Kants Kritik der reinen Vernunft und dessen weniger überzeugender Religionsschrift. In der von Ratzinger zitierten Vorrede der Kritik der reinen Vernunft gehe es Kant gerade nicht um die »Reduktion Gottes auf das Moralische, sondern um die Kritik einer naiven Metaphysik, die ihre eigenen Voraussetzungen leugnet und so zu einem dogmatischen Unglauben oder Indifferentismus wird« (54). Es gehe Kant also – so Meyer-Blanck zu Recht – ebenso wie Luther um die von der Vernunft vollzogene Einsicht in die eigene Begrenztheit, die die von der Neuzeit vollzogene, rational begründete Kunst der Unterscheidung von Glaube und Vernunft ermögliche (55). Wenn bei Ratzinger Kant ebenso wie die Reformation und die liberale Theologie um 1900 mit ihrer Enthellenisierungsthese undifferenziert an den Pranger gestellt werde, so sei dies historisch ungerecht und weise auf das Bedürfnis des Papstes hin, mit Hilfe einer plausiblen Negativfolie »hermeneutisch simple und gefährliche Strömungen in der eigenen Kirche zu kritisieren« (59). Dennoch speise sich die Kritik Ratzingers nicht nur aus einer historisch einseitigen Sichtweise, sondern aus einer grundlegenden Differenz zum Hauptstrom protestantischer Theologie in der Wahrnehmung der Moderne. Während Ratzinger an dem Ideal eines harmonischen Ineinanders von Glaube und Vernunft festhalte, bringe die Neuzeit aus protestantischer Sicht so viele Brüche und Differenzierungen in der Wirklichkeitswahrnehmung mit sich, dass die traditionelle harmonische Synthese zerbrochen sei (60). Die hierbei festgestellte Differenz ist in der Tat grundlegend. Sie markiert nach Ansicht des Rezensenten aber keine Differenz zwischen Protestantismus und Katholizismus, sondern eine Differenz zwischen einem Denken, das die durch die Moderne einge­tretenen Brüche und Differenzierungsmöglichkeiten als positiv erlebt, und einem Denken, das der Moderne mit ihren Unklarheiten, Anfragen und Ambivalenzen zu entkommen versucht. Die in Letzterem zu diagnostizierende Fluchtbewegung scheint dem Rezensenten nun aber nicht nur im Katholizismus beobachtbar.
Im Band gibt es noch eine ganze Reihe von protestantischen Stellungnahmen zum Programm Ratzingers. An­dreas Pangritz zeigt die Ambivalenz des Verhältnisses von Glaube und Vernunft in evangelischer Tradition und bemüht sich, Luthers Polemik gegen die Hure Vernunft als Warnung vor einer Selbstüberschätzung der Vernunft verständlich zu machen (99–116). Matthias Schmoeckel zeigt die von Ratzinger nicht gewürdigte er­heb­liche Rehellenisierungswirkung auf, die die Reformation durch Me­­lanch­thon ge­rade für die neuzeitliche Rückbesinnung auf das Naturrecht hatte (179–220). Äußerst anregend ist die spannende Darstellung der Offen­barungstheologie Lessings bei Frank Surall (221–250), die dieser am Ende seines Beitrags in Anknüpfung an Gedanken von Ernst Troeltsch gegen Ratzinger ins Feld führt. Besonders bedenkenswert sind dabei sein Plädoyer zur Anerkennung der Vieldeutigkeit und Unabgeschlossenheit des religiösen Diskurses und sein Eintreten für eine Theologie, die sich bemüht, »mit den Köpfen aller Beteiligten zu denken« (Franz Rosenzweig, zit. n. 250). Reiner Anselm schließlich sieht in der durch die Theologie selbst be­gründeten Selbstrelativierung der eigenen Wahrheitsansprüche eine der entscheidenden Stärken der Theologie (253–266). Es ist bei all diesen Beiträgen viel von »dem Protestantismus« die Rede, der immer wieder gegen die Position des Papstes abgegrenzt wird. Die inhaltliche Abgrenzung ist oft verständlich, warum zu ihrer Hilfe »der Protestantismus« bemüht wird, ist zwar angesichts der Polemik Ratzingers verständlich, wird der differenzierten Diskussionslage in allen christlichen Konfessionen aber nicht zureichend gerecht. Hier hätte dem Band die Einbeziehung anderer katholischer Stimmen gutgetan – wie auch eine stärkere Differenzierung des protestantischen Spektrums. Vielleicht hätte man dafür auf den einen oder anderen Beitrag am Ende des Bandes verzichten können, die in recht losem Verhältnis zum Hauptthema stehen und teilweise etwas ausfransen – ob Manuel Joel wirklich eine so ausführliche Würdigung verdient, bleibt dem Rezensenten auch nach Lektüre der 22 Seiten von Görge K. Hasselhoff plus dem acht (!) Seiten langen Schriftenverzeichnis von Manuel Joel verborgen (285–313).
Nicht verzichtbar scheinen dem Rezensenten dagegen die Wahrnehmungen der Rede Ratzingers aus der Perspektive des Islam und des Buddhismus zu sein, die der Band bietet. Im Blick auf die heftigen muslimischen Reaktionen auf die Rede des Papstes ist der Beitrag von Wessam A. Farag außerordentlich erhellend (63–77). Farag weist nach, dass das von Ratzinger verwendete Zitat des byzantinischen Kaisers »in einer der dunkelsten Stunden der Geschichte von Byzanz« abgefasst wurde und entsprechend von heftiger, sonst in dieser Schärfe nicht üblicher Polemik geprägt ist (70). Die Größe der muslimischen Empörung sei zwar vorwiegend aus medialer Steuerung zu erklären, habe in dieser kaum erklärbaren Auswahl des Zitats durch den Papst aber ihren berechtigten Grund (71 f.). Farag weist auf die friedliebenden Seiten des Islam hin und auf die Bedeutung muslimischen Denkens in der Entwicklung der griechisch-abendländischen Geschichte und fordert, dass Europa zu lernen habe, »sich mit der Diversität seiner Vergangenheit auszusöhnen, um seinen zukünftigen Pluralismus zu meistern« (75) – eine Forderung, der man sich nur anschließen kann, wobei man hier zur Ehrenrettung des Papstes stärker als Farag die Äußerungen des Papstes nach seiner Rede würdigen müsste. Nach der muslimischen Stimme bringt Konrad Klaus (79–97) buddhistische Perspektiven zu Gehör und verdeutlicht, dass der Buddhismus der aufgeklärten Vernunft in gleicher Weise wie das Christentum Entscheidendes zu sagen habe. Im weiteren Verlauf des Bandes nimmt Harald Suemann (169–178) noch einmal das Thema der Rationalität des Islam auf und skizziert den rationalistischen Aufbruch im Abbasiden-Reich, um zu verdeutlichen, wie hier schon einmal Vernunft (in aristotelischer Ausprägung) als gemeinsame Plattform für die theologische Reflexion und ein vertieftes gegenseitiges Verstehen gewirkt hat.
Instruktiv ist der Band auch dadurch, dass sehr unterschiedliche theologische Disziplinen zu den Überlegungen des Papstes zu Wort kommen. Neben exegetischen Anmerkungen zum Jesus-Buch des Papstes von Günter Röhser (117–127) stehen liturgiewissenschaftliche Anregungen zur Vernünftigkeit des Gottesdienstes durch Albert Gerhards (131–145). Ulrich Volp schließlich weist aus historischer Sicht darauf hin, dass die antike pagane Kritik an der Irrationalität des Christentums eine wichtige Triebfeder für die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs durch das Christentum darstellt (147–168).
Blickt man insgesamt auf den Band, so hat er in weiten Teilen den Charakter einer Streitschrift, die sich erfrischend kritisch mit der Position Ratzingers auseinandersetzt und in weiten Strecken thematisch gut miteinander verzahnt ist. Angesichts der sonst weit verbreiteten, erst jüngst abebbenden Papstbegeisterung ist diese Kritik hilfreich und über weite Strecken auch aus einer liberalen katholischer Sicht zustimmungsfähig. An einigen Stellen hätte sich der Rezensent freilich mehr Raum für andere Stimmen und damit auch für eine differenziertere Wahrnehmung Ratzingers gewünscht. Nichtsdestotrotz verdient das Buch eine aufmerksame Lektüre durch alle, die sich vertieft mit dem Thema »Glaube und Vernunft« und der Position Ratzingers dazu auseinandersetzen wollen.