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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1104–1106

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Ernst, Christoph, Sparn, Walter, u. Hedwig Wagner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kulturhermeneutik. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit kultureller Differenz.

Verlag:

München: Fink 2008. 554 S. gr.8°. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-7705-4716-6.

Rezensent:

Andreas Kubik

»Kulturhermeneutik« ist ein Ausdruck, der derzeit in aller Munde ist. Gemessen daran muss es erstaunen, wie wenige Arbeiten es bislang gibt, welche sich theoretisch mit diesem Konzept auseinandersetzen. Darüber hinaus sind es überraschenderweise vorwiegend Theologen, welche sich den Begriff zu eigen machen. Scheinbar trifft dies auch auf den zu besprechenden Band zu, welcher von dem Erlangener Systematiker Walter Sparn (mit-)herausgegeben wurde, der auch die gehaltvolle Einleitung (11–22) beisteuert. In Wahrheit liegt aber ein interdisziplinärer, theoretisch anspruchsvoller und erst mittelbar wieder für die Theologie hochinteressanter Sammelband vor, welcher einen tiefen Einblick in die Arbeit des – demnächst auslaufenden – Erlangener Graduiertenkollegs »Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« gewährt.
Fünf Sektionen vereinigt der Band, deren gemeinsamer Bezugspunkt das Phänomen der »Alterität« (11) ist, welche hier vor allem als die Erfahrung des ›kulturell Fremden‹ verstanden wird. Die interkulturelle Begegnung – friedlich oder gewaltförmig – ist der Ort, von dem die Beiträge ihren Ausgangspunkt nehmen. Die fünf Aufsätze der ersten Sektion: »Unterschiede (nicht) verstehen – Interkulturelle Hermeneutik auf dem Weg zur Kulturhermeneutik« (23–115) stellen grundlegende, vorwiegend philosophische Überlegungen im Sinne einer Terrainsondierung an. Der zweite Abschnitt: »Inszenierte Lesarten – Kulturelle Begegnungen in und mit anglophonen Texten« (117–249) behandelt den in einer globalisierten Welt wichtigsten Bereich von Sprach- und Kulturbegegnung in postkolonialer Theorieperspektive, nämlich den culture clash des Englischen/Amerikanischen und seiner Imperialmächte mit indigenen Kulturen, von den Indianern über die Karibik bis nach Australien. Die dritte Sektion: »Sinn und Realität. Praxis und Theorie sozialer Konstruktion sinnhafter Welten« (243–397) liest die zunächst an philosophischer Theoriebildung orientierten Debatten aus soziologischer und politologischer Perspektive gegen und bewährt ihr differenziertes Instrumentarium dann auch an ausgewählten materialen Themenfeldern (etwa der Analyse von aktuellen Antisemitismus-Semantiken oder der Konstruktion der DDR in Nach-Wende-Texten). Thematisch nicht weniger interessant, wenn auch weniger kohärent wirkt die vierte Abteilung: »Re ­ligion, Ethik, Medien: Kulturhermeneutik interdisziplinär« (399–487), die vorwiegend religionswissenschaftlich orientiert ist (mehr dazu unten). Der fünfte Teil schließlich beschäftigt sich mit einer institutionalisierten Form von Kulturaustausch: »Verschieden Übersetzen« (489–554) und erörtert höchst sensibel die kulturellen und diskursiven Klippen respektvollen Übersetzens.
Obwohl die einzelnen Beiträge thematisch extrem weit ge­spannt sind, werden sie dennoch von einem gemeinsamen konzeptionellen Interesse getragen: dem Fragen danach, was der Begriff der »Kulturhermeneutik« inhaltlich eigentlich aussagt und ob er sich als kulturwissenschaftlicher Grundbegriff eignet. Wissenschaftsgeschichtlicher Ausgangspunkt ist die Debatte zwischen Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida, welche in dem Band »Text und Interpretation« (hrsg. von Philippe Forget, München 1984) dokumentiert ist. Es gehörte – so die Wahrnehmung des Standes der Dinge durch das Graduiertenkolleg – bislang in den cultural studies zur kaum noch hinterfragten Meinung, dass »die Hermeneutik ... als Theorie zur Explikation kultureller Differenz versagt« (Chris­toph Ernst/Hedwig Wagner, 25) und man sich stattdessen an die Diskurstheorie halten müsse. Das Graduiertenkolleg erhebt nun seinerseits »Einspruch gegen den konstruktivistischen Mainstream gegenwärtiger ›posthermeneutischer‹ Dogmen« (Joachim Renn, 269): Das hermeneutische Anliegen wurde zu vorschnell entsorgt, wodurch unabgegoltene kulturwissenschaftliche Potentiale brach liegen blieben. Der Band dokumentiert, wenn man so will, eine Apostasie von der United Church of Derrida’s Disciples.

Man könnte anfragen, ob diese Korrektur weit genug geht. Ge­wisse ›Altlasten‹ schleppen die Beiträge immer noch mit: So wird ›Fremdheit‹ gelegentlich selbst zu einer quasi ontologischen Kategorie. Ferner wird der Begriff des ›Subjekts‹ weiterhin geflissentlich kritisiert, allerdings immer dann ganz ungeniert verwendet, wenn es um die im Diskurs Benachteiligten geht.

Mit diesem Abfall verbindet sich allerdings keineswegs eine einfache Rückkehr zu Gadamer. Das hermeneutische Anliegen muss, soll man es wieder ernst nehmen können, die Theoriedebatte der letzten Jahrzehnte in sich aufnehmen. Drei wichtige Erträge seien nur genannt: die bleibende Orientierung an einem reflektierten Begriff des ›Fremden‹ (konzeptualisiert vor allem mit Bernhard Waldenfels), die Berücksichtigung von Machtkonstellationen in hermeneutischen Prozessen sowie die mediale Überformtheit von Be­deutungstransfers. Solchermaßen könnte es möglich sein, »eine phänomenologisch und semiotisch justierte Hermeneutik mit der Sprachanalyse, der Systemtheorie und der Diskursanalyse zu verbinden.« (16) Die Beiträge bleiben fast durchgängig reserviert ge­genüber dem Begriff des Verstehens und bevorzugen stattdessen den Begriff des »Aushandelns« von Bedeutungen (16.95.121.476 u. ö.) Gleichwohl: Eine Orthodoxie des Nichtverstehens im Zeichen der Differenz wird beinahe durchgängig abgelehnt. Es sind »Phänomene der individuellen, vielleicht auch kollektiven Mehrfachzugehörigkeit, der Überlagerung, der relativen Unentschiedenheit, der vagen oder oszillierenden Zwischenbefindlichkeit« (13), welche ihrer gemeinsamen Struktur nach den Begriff der »Transdifferenz« (12 und passim) bevorzugen lassen. Diese Phänomene stehen gleichsam quer zu den eingespielten Grenzlinien von race, gender, religion usw., für die sich die Differenztheorie vorwiegend interessierte. Mit jenem Begriff lässt sich auch besser berücksichtigen, dass Kulturaustausch faktisch immer schon stattfindet, also »In­terkulturalität heute einen Regelzustand darstellt« (Vadim Zhdanov, 474, Anm. 5) und keineswegs vom reinen Nichtverstehen ge­prägt ist.
Sachlich kaum weniger gewichtig, aber doch eher am Rande wird die Auseinandersetzung mit dem anderen großen Denker der Spätmoderne geführt, welcher sich ›Differenz statt Identität‹ auf die Fahnen geschrieben hatte, nämlich Niklas Luhmann. Luhmanns Verabschiedung des Kulturbegriffs und seine Reserve gegenüber der Hermeneutik wird ausführlich und kritisch in dem Beitrag von Peter Isenbröck (337–356) untersucht.
Der sog. cultural turn der letzten Jahrzehnte bringt es mit sich, dass auch die Religion wieder verstärkt in den Blick der Kulturwissenschaften kommt. Als weitere Ausdifferenzierung jener Wende kann in den letzten Jahren auch geradezu von einem »religious turn« (hier 402) gesprochen werden. Was die gegenwärtige Debattenlage für die Religionswissenschaft bedeutet, wird grundsätzlich von Vadim Zhdanov diskutiert (473–487), der für eine »komplementäre Anwendung« (482) verschiedener Ansätze plädiert – er nennt vor allem Jacques Waardenburg, Hans Kippenberg und Ingolf Dalferth. Am konkreten Beispiel plädiert für das bleibende Recht der Diskursanalyse der Beitrag von Andreas Nehring (407–428), welcher den Diskurs um das sog. indische Milchwunder von 1995 (www.milkmiracle.com) einer eindringlichen Untersuchung un­terwirft. Ergebnis: Das Phänomen und seine Beschreibung lassen sich nicht voneinander trennen: »Analytisch gibt es keinen beobachtbaren Unterschied zwischen Wunder und special effect.« (426) Angesichts der – vor allem über die Verbreitung im Internet angestoßenen – Wiederholung des Wunders ergibt sich die zentrale Forderung, sich vermehrt der »technischen Reproduzierbarkeit« (426) von Religion in den Massenmedien zu widmen. (Es bleibt etwas unklar, was die stereotypen Seitenhiebe auf Rudolf Otto [412.422. 426] argumentativ austragen sollen. »Das Heilige« wird nach Otto keineswegs als »substantielle Kategorie« [426], sondern durchgängig als eine Deutungs- und Wertungskategorie entfaltet.)
Einen unerwarteten und originellen Seitentrieb am Stamm der Transdifferenz bildet der Beitrag des orthodoxen Theologen Mihai Grigore (455–472), welcher die ethischen Wertpräferenzen und die kollektive Ausrichtung an einem gemeinsam geteilten Guten als Voraussetzung kultureller Verstehensprozesse namhaft macht.
Fragt man im Lichte dieses Bandes zurück an das, was herkömmlich theologische Kulturhermeneutik heißt, so muss man konstatieren, dass dort gerade in begrifflicher Hinsicht durchaus noch Luft nach oben ist. Das Problem der Konstruktion des Gegenstandes in der Beschreibung bedarf ebenso noch genauerer Erörterung wie die Frage danach, welcher Begriff des ›Fremden‹ im Beschreiben massenmedialer Sinndeutungen (etwa im Kino) eigentlich vorausgesetzt wird und welche identitätstheoretischen Annahmen mitzuführen wären, wenn dies Fremde doch zugleich für an der Kultur teilnehmende religiöse Subjekte das Eigene ist. An dieser Stelle besteht massiver theologischer Forschungsbedarf – gerade wenn man das Projekt einer theologischen Kulturhermeneutik ansonsten unterschreibt.
Alles in allem liegt eine Band vor, der in seinem theoretischen Gewicht kaum zu überschätzen ist. Hinter den hier aufsummierten Forschungsstand kann niemand zurück, der sich mit (theo­logischer) Kulturhermeneutik befassen will. Dass dabei ihre in­trakulturelle Dimension ein wenig auf der Strecke bleibt, ist eine Lü­cke, die in Zukunft leicht geschlossen werden kann. Dringend erforderlich wären allerdings ein Sach- und Personenregister sowie ein Autorenverzeichnis gewesen, deren Fehlen die Benutzbarkeit dieses Bandes erheblich einschränkt.