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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1101–1103

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schröder, Tilman Matthias

Titel/Untertitel:

Naturwissenschaften und Protes­tantismus im Deutschen Kaiserreich. Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evangelische Theologie.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2008. XI, 561 S. u. 2 Taf. gr.8° = Contubernium, 67. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-515-09222-7.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

Diese Tübinger Habilitationsschrift gibt einen fesselnden Einblick in die Geschichte der Naturwissenschaften und erweitert und profiliert die evangelische Theologiegeschichtskenntnis der Kaiserzeit, indem sie bekannte Theologen unter einer neuen Perspektive betrachtet und bislang unbeachtete Theologen ins Blickfeld rückt.
Der erste Hauptteil untersucht die »weltanschauliche und religiöse Einstellung von Naturwissenschaftlern« (19–175) anhand der Protokolle der jährlichen Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Diese erstrangigen Quellen wurden bislang nicht systematisch ausgewertet. Sch. verfolgt die Geschichte der Gesellschaft von ihrer Gründung 1822 bis 1913. Auch in den Naturwissenschaften musste die (naturphilosophische) Metaphysik des Idealismus durch einen empirischen Zugang zum Gegenstand des Wissens überwunden werden. Dies führte auf den mechanischen Materialismus und auf den Materialismusstreit zu (57–78). Differenzierter argumentierend als die »Vulgärmaterialisten« Ludwig Büchner und Karl Vogt reduzierten Rudolf Virchow und Helmut von Helmholtz den weltanschaulichen Materialismus auf einen methodischen Materialismus. Doch auch bei Virchow war die Naturwissenschaft die »Einheitswissenschaft«, die die Gesamtkultur tragen und bestimmen sollte (87–89). Im Kulturkampf bezog sich Virchow positiv auf den Protestantismus als Verbündeten gegen den rück­wärtsgewandten Katholizismus (90–103.114).
1872 hielt der Berliner Physiologe Emil Du Bois-Reymond seine berühmte »Ignoramus-Rede« Über die Grenzen des Naturerkennens (117–123). In Übereinstimmung mit Helmholtz und anderen sah er die Aufgabe der Naturwissenschaften darin, alle natürlichen Vorgänge auf die Mechanik der Atome zurückzuführen. Die gesamte Natur sei vollständig determiniert und daher prinzipiell – wenn auch nicht praktisch – prognostizierbar. Zwei Grenzen jedoch bleiben der Naturwissenschaft dauerhaft verschlossen: Sie könne weder das Wesen von Materie und Kraft deduzieren noch die Entstehung von Bewusstsein erklären. Daher bleibe außerhalb der Naturwissenschaft Raum für Philosophie (etwa zum Thema Willensfreiheit). Die Grenzziehung Du Bois-Reymonds wurde durch Ernst Haeckels Ausbau der Theorien Darwins zu einer monistischen Weltanschauung bestritten. Der Jenaer Zoologe sah sich durch Du Bois-Reymond von einem tyrannischen Gottesbild be­freit, begriff nun aber – wie Spinoza – die Natur selbst als göttlich (127). Die Kulturentwicklung sei durch dieselbe monistische Dynamik bestimmt wie die Biologie. Hier widersprach sehr schnell auch Virchow, weil er die Grenzen der Naturwissenschaft überschritten sah und befürchtete, dass Haeckels Sozialdarwinismus zur Revolution führen könnte, während Virchow die Naturwissenschaft »als ein Vehikel des bürgerlichen Fortschritts« betrachtete (131).

Bei der Versammlung von 1877 kam es zu einer fulminanten Auseinandersetzung zwischen Haeckel und Virchow (134–142). Seine monistische Position behauptete Haeckel in dem oft aufgelegten Buch Die Welträthsel (1899), in welchem er die von Du Bois-Reymond in seinen Sieben Welträtseln (1880) als prinzipiell unlösbar erklärten Probleme als gelöst bzw. irrelevant vorstellte (287–289).

Sch.s Darstellung der Geschichte der Naturwissenschaft endet mit der »Krise des mechanistischen Weltbildes«. Ein neuer Vitalismus nahm in der Natur teleologische Elemente an, nachdem Hans Driesch gezeigt hatte, dass aus einzelnen abgetrennten Zellen eines Seeigel-Embryos ein vollständiges Tier heranwuchs (149). Ernst Mach trug einen positivistischen Einspruch gegen das mechanistische Weltbild vor und erklärte etwa das Kausalitätsprinzip für überflüssig. Die Naturwissenschaft bestehe in einer phänomenologischen Beschreibung beobachteter Vorgänge, und theoretische Prinzipien seien nichts anderes als nützliche Abkürzungen für die Beschreibungen ähnlicher Vorgänge. Ein Kausalitätsprinzip als solches existiere jedoch nicht. Genauso könne man auf die Atomtheorie verzichten (153 f.). Mach beeinflusste Einsteins frühes Denken. Auf Mach folgte der Energismus Wilhelm Ostwalds, für den die Unumkehrbarkeit von mechanisch als reversibel denkbaren Vorgängen entscheidend war.

Ein Glas kann nach den Gesetzten der Mechanik nicht nur zu Boden fallen und zerspringen, sondern auch die Scherben können sich vom Boden erheben und wieder zusammenfügen. Da solche Umkehrungen aber nicht zu beobachten seien, könne die Natur nicht vollständig durch eine Mechanik der Atome gedeutet werden (156). Endgültig obsolet wurde das mechanistische Weltbild durch die Quanten- und Relativitätstheorie. Sowohl der Determinismus als auch die absoluten Bezugsgrößen Raum und Zeit wurden hinfällig (160 f.).

Der zweite Hauptteil (177–380) stellt »die herausgeforderte Theologie« vor. 1871 erschien Darwins Descent of Man, was – anders als das frühere Buch Origin of Species – zu einer Darwin-Diskussion in der Theologie führte. Diese hatte bisher nur den Materialismus abgewehrt und meinte, dass wahre Naturwissenschaft ohnehin nicht materialistisch sei – ein kategoriales Missverständnis. Die Repristination der orthodoxen Schriftlehre ging so weit, dass im Berliner Kirchenstreit von 1867 Gustav Knak sich zum geozentrischen Weltbild der Bibel bekannte (185–190). Die Abwehr Darwins fand u. a. im Umkreis der AELKZ statt. Man griff nach Argumenten, um doch mit den ca. 6000 Jahren seit Erschaffung der Welt auszukommen (193), und hoffte, dass der Darwinimus bald verebben werde. Man zeigte sich zufrieden, wenn Naturforscher auf ihren Versammlungen theologische Themen gar nicht mehr berührten. »Dass ... auch die Kirche und Theologie für viele Naturwissenschaftler keine Rolle mehr spielten, wurde als eher erleichternd empfunden« (195).
Der Greifswalder Theologe Otto Zöckler suchte die Synthese von Theologie und Naturwissenschaft (200–220). 27-jährig hatte er 1860 einen Band Theologia naturalis. Entwurf einer systematischen Naturtheologie vom offenbarungsgläubigen Standpunkt aus veröffentlicht. Naturtheologie sei »spekulativ begründete ... Eschatologie«. Zöcklers Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft (1877/79), seine Zeitschrift Beweis des Glaubens waren dem theologisch-naturwissenschaftlichen Dialog verpflichtet. Doch sei Zöckler zu einer wirklichen Synthese nicht vorgedrungen (220).
Grenzen zwischen Naturwissenschaft und Theologie ziehen Ritschl und seine Schüler, vor allem Herrmann (221–243), der die Naturwissenschaft erkenntnistheoretisch auf den geistigen Willen zurückführt, die Natur zu beherrschen. Menschliche Subjektivität richtet sich aber auch auf das sittliche Handeln. Hier siedelt Herrmann die von Naturwissenschaft ganz unabhängige Religion an.
Entwicklungslinien zwischen Naturwissenschaft und Theologie werden von anderen Ritschlianern und von modern-positiven Theologen ausgezogen. »Entwicklung« wird zu einem die Biologie, die Offenbarungsgeschichte und die Lebensführung umfassenden Systembegriff. Bei Karl Beth kommt es geradezu zu einer »Evolutionisierung der Theologie«. Beths Werk enthält fruchtbare Impulse für den naturwissenschaftlich-theologischen Dialog der Gegenwart. Er findet etwa einen theologischen Sinn von Schöpfung durch Evolution, der dem Menschen eine hohe Sonderstellung einräumt und gleichzeitig der nichtmenschlichen Schöpfung einen Eigenwert zuspricht (273–287). Auch Arthur Titius wird von Sch. ausführlich vorgestellt (300–314). Der als Religionswissenschaftler bekannte R. Otto veröffentlichte in seiner Frühzeit umfangreiche Arbeiten zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie. In diesen Werken liegen auch die bisher verborgenen Wurzeln von Das Heilige, indem Otto die Natur als Kosmos (als Gegenstand der Naturwissenschaft) und als Ort des Geheimnisses (als Gegenstand der Frömmigkeit) begreift (314–332; 324). – Karl Heim wird mit seinem Frühwerk behandelt, als die Theorien Einsteins noch nicht vorlagen. Doch schon im späten Kaiserreich ahnte er, dass die klassische Physik vor einem Paradigmenwechsel stand (332–345).
Der dritte Hauptteil handelt von der Popularisierung des naturwissenschaftlichen Monismus (Monistenbund), von einer entsprechenden populären christlichen Apologetik (Keplerbund) und von ihren Hauptakteuren. Als akademischer Theologe wird Georg Wobbermin vorgestellt (464–469).
Nicht nur den Wissenschafts- und Theologiehistorikern, auch den Dogmatikern sei das Buch angelegentlich empfohlen. Es ist so ästhetisch, gedankenklar und anschaulich, dass auch Studierende einen fascinosen Einblick in die Geistesgeschichte der Zeit gewinnen können.