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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1098–1100

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hunziker, Andreas

Titel/Untertitel:

Das Wagnis des Gewöhnlichen. Ein Versuch über den Glauben im Gespräch mit Ludwig Wittgenstein und Stanley Cavell.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. IX, 333 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 32. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-149591-5.

Rezensent:

Michael Wladika

Andreas Hunziker beschäftigt sich dem Untertitel entsprechend speziell mit religionsphilosophischen Aspekten von Ludwig Wittgenstein und Stanley Cavell, breitet dabei aber gleichzeitig viele in­teressante kulturphilosophische Diskussionen prominenter Sprach­philosophen und Phänomenologen des 20. Jh.s aus. Vor diesem Hintergrund werden dann evangelisch-theologische Versuche seit Rudolf Bultmann betrachtet. Schließlich sieht H. Desiderata in den gegenwärtigen Beschreibungen des Glaubens und macht Vorschläge, sie zu beheben. Schauen wir näher hin.
H. interessiert sich für den späten Wittgenstein, jenen, der Lebenswelt, Lebensform, gewöhnliches Leben für wichtige Dinge hält – für so wichtige, dass wir von ihnen her Worte, ja die Sprache insgesamt, die selbst eine außerordentlich hochstufige Angelegenheit ist, zu verstehen haben. Für H. ist dabei das folgende Witt­genstein-Zitat wichtig: »Das Hinzunehmende, Gegebene – könnte man sagen – seien Lebensformen.« Man sieht daran auch schön die Stelle des späten Unternehmens Wittgensteins: Der Relativismus des Tractatus ist bewusst geworden und wird affirmiert. Man kann das mutatis mutandis genauso in der Heidegger-Schule lesen: Bei der Endlichkeit soll es bleiben; auch Lebensphilosophisch-Emphatisches ist enthalten, von da aus beschreiben wir. Das sind wichtige Bewegungen der Philosophiegeschichte des 20. Jh.s. Und diesbezüglich geben H.s Beschreibungen gute Anleitungen, auch seine Beschreibungen des Beschreibens. Wittgenstein: »Philosophie ist wirklich ›rein deskriptiv‹.« Das ist für eine Kulturphilosophie, wie sie hier unternommen wird, entscheidend.
Nun ist aber der späte Wittgenstein nicht einfach Kulturtheo­retiker, sondern partizipiert, wie minimalisiert auch immer, an Transzendentalphilosophischem. Unter anderem wohl um diesen Aspekt herabzustufen, ist Stanley Cavell für H.s Wittgenstein-Auffassung und -Fortschreibung entscheidend. Er will, den späten Wittgenstein mit Cavell weiterschreibend, einen »Beitrag zu einer Hermeneutik der Formen unseres lebensweltlichen Realitätszugangs« (77) leisten. Intendiert und durchgeführt ist bei H. durchgehend eine beschreibende Form: Phänomenologisches. (Hier gibt es Anklänge an Martin Heidegger.) Ebenfalls eng an Wittgenstein angelehnt ist das ausgeprägte psychologische Fassen philosophischer Lehren. Das Heranziehen von Cora Diamonds Wittgenstein-Interpretationen (The Realistic Spirit. Wittgenstein, Philosophy, and the Mind u. a.) muss erwähnt werden. Wir haben immer wieder diese Form subjektivistischen Fragens: Was für ein Wunsch drückt sich in einer Fragerichtung, einem Denkstil usf. aus (besonders etwa 46)? Damit verknüpft ist die therapeutische Ausrichtung. Philosophie qua Sprachphänomenologie wird als Therapie aufgefasst (64 besonders stark). Das geht bis in den Bereich der Psycho­analyse hinein. Also etwa: Traditionelles ›Philosophieren‹ soll sich einem gewissen ›Wünschen‹ verdanken, wobei wir »die motiva­tionalen (anthropologischen und kulturgeschichtlichen) Hintergründe solchen Wünschens« (78) feststellen. Traditionelles ›Phi­losophieren‹ bewirkt nun auch Beunruhigung, Unzufriedenheit. Wittgenstein: »Die Sprache interessiert uns nur insoweit, als sie uns beunruhigt. Den faktischen Gebrauch eines Wortes beschreibe ich nur, wenn dies nötig ist, um ein Problem zu beseitigen.« H.: »Unsere Unzufriedenheit soll ja gerade verschwinden.« (38) Natürlich kann Sprachphilosophie im Sinn der betrachteten Autoren Beruhigungsfunktion haben; und natürlich kann man die Tatsache wiederum, dass sie diese Funktion hat, als eine kulturgeschichtlich wichtige Vorfallenheit auffassen und beschreiben, wie H. es tut.
H. vertritt mit seinen Hauptautoren schließlich einen zeit- und auffassungsrelativen common sense, einen Na­turalismus, der den Menschen zuerst einmal als Tier auffasst, von einer »Naturgeschichte« (86 u. 108) des menschlichen Lebens spricht und von Endlichkeit und Kontingenz der Bedingungen unserer Er­kenntnis (76 f.). Also auch hier schmiegt sich H. eng an Wittgenstein und Cavell an. Das ist insofern gut, als wir kongeniale Darlegungen bekommen. Auf der anderen Seite bewirkt diese Nähe, dass Probleme, die die ganze Strömung der Philosophie des 20. Jh.s, mit der H. sich beschäftigt, belasten, nicht gesehen werden.
Inwiefern ist diese Form von Kulturtheorie, die wir hier inter­essant vorgeführt bekommen, theologisch relevant? Da sind in re­ligionsphilosophischem Zusammenhang fideistisch-dezisionis­tische Mo­mente bei Wittgenstein. Vor allem aber geht es um die ›Einstellung‹ – Glaube an Gott als eine Einstellung. Diese Einstellung ist für H. nicht eine intellektuelle, sondern eine »existen­-ziell-praktische« (283). Auch in diesem Zusammenhang führt H. Wittgenstein mit Cavell weiter und vereindeutigt ihn. Beide Bewegungen haben wir immer wieder: Weiterführung und Vereindeutigung Wittgensteinscher Gedanken durch Cavellsche. Religion tritt als ge­wählte Weltanschauung auf, die unsere spezielleren Einstellungen zu einzelnen mundanen Bereichen hinterfängt.
Dabei wird »Gottes Transzendenz« (283) von H. so extrem dis­tanziert, dass der Eindruck entsteht, als würden christliche Inhalte ›naturalisiert‹. Gewiss kann man hinter christlichen Denkmustern heidnisch-naturreligiöse Parallelen finden und beschreiben. H. aber trägt das als geradezu ›eigentliche‹ Wirklichkeit des Christlichen vor (s. z.B. 283–287). Eine solche Ausweitung des bei Wittgenstein Deskriptiven ins Normative hält der Rezensent für problematisch. Verbunden ist dieser Ansatz mit einer radikalen Ablehnung aller ›Metaphysik‹, was sich etwa in der hier einschlägigen Kritik an Augustin zeigt.
Sieht man auf die Stärken und Schwächen des Buches, stellt man fest, dass sie übersichtlich verteilt sind: Eine Form des Denkens, eine Linie der Philosophie des 20. Jh.s, ist kenntnis- und hilfreich dargestellt – zum Teil unter so neuen Perspektiven, dass H.s Diskurse im deutschsprachigen Raum als Novum betrachtet werden können (hinsichtlich bestimmter Punkte bei Cavell; auch in Bezug auf weitere Autoren – Jacques Derrida, Richard Rorty, Hilary Putnam, James Conant, Charles Taylor – haben wir viele kluge Bemerkungen). Auf der anderen Seite überfrachtet H. sein Buch mit mancherlei Argumentationslasten. So spricht er von »christlichem Glaubensverständnis«, wo eine Form von extrem subjektivistischem Glaubensverständnis gemeint ist, das von »endlich-menschlichen Lebensformen« usf. ausgeht. Das alles hat innerhalb der genannten Linie seinen guten Sinn, entschränkt aber wird es fraglich. Warum soll es theologisch interessant sein, sich von metaphysischen und transzendentalphilosophischen Denkformen zu distanzieren? Das muss man doch nicht so sehen. (Diese Verallgemeinerung einer Linie des Denkens belastet die Auseinandersetzungen mit Eberhard Jüngel, Wilfried Härle, Eilert Herms u. a.)
Abschließend: Das Buch hat grundsätzlich narrativen Charakter. Es wäre besser gewesen, ihm diesen gänzlich zu lassen. Dessen ungeachtet ist H.s Wagnis des Gewöhnlichen ein hinsichtlich der kulturphilosophischen Ausrichtungen Wittgensteins und Cavells wichtiges, interessantes und äußerst informatives Buch.