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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1097–1098

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Clayton, Philip

Titel/Untertitel:

Emergenz und Bewusstsein. Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus. Aus d. Engl. v. G. Schenke Robinson.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 242 S. m. Abb. gr.8° = Religion, Theologie und Naturwissenschaft. Religion, Theology, and Natural Science, 16. Geb. EUR 59,90. ISBN 978-3-525-56985-6.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Das Buch des bekannten Autors, der in Clare­mont (Kalifornien) lehrt, argumentiert dafür, dass das menschliche Bewusstsein ers­tens im Sinn der Emergenztheorie zu verstehen ist und dies zweitens den Raum für eine theistische Deutung eröffnet. Insofern ist das Buch grundsätzlich zweiteilig (vgl. 221).
Im ersten Teil tritt C. den Nachweis für seine Theorie der starken Emergenz an (11–166). Er führt die Einsicht der Emergenztheorie zunächst geschichtlich ein (11–47): Seit etwa 100 Jahren nötigt die Einsicht in die Evolution dazu, die Welt und den Menschen neu zu interpretieren. Angesichts dieser Herausforderung lassen sich grundsätzlich drei Positionen unterscheiden: der Physikalismus, der Dualismus und die Emergenztheorie. Nach dem Physikalismus besteht letztlich alles aus physikalisch erfassbaren Teilchen. Der die abendländische Geschichte weithin bestimmende Dualismus hingegen meint, dass zumindest Menschen substantiell und irreduzibel auch Geist sind. Die Emergenztheorie besagt, dass auf natürliche Weise neue Phänomene unerwartet entstehen können. Diese neuen Phänomene können nicht gänzlich auf die Untersysteme zurückgeführt werden, aus denen sie hervorgehen. Vielmehr können diese neuen, emergenten Phänomene nach ihrer Entstehung ihrerseits diese Untersysteme beeinflussen. Auf das menschliche Bewusstsein bezogen: Es geht aus komplexen Vorgängen der Natur hervor, es ist davon abhängig und geht doch darin nicht auf. Vielmehr bestimmt das menschliche Bewusstsein auch seinerseits seine Lebensgrundlagen. Die Theorie der starken Emergenz besagt: Die neuen, emergenten Phänomene wie etwa das menschliche Be­wusstsein können kausal, eigenständig und aktiv auf die zu Grunde liegenden Untersysteme wirken (»Abwärtskausalität«). Dieser Kausaleinfluss der höheren, emergenten Struktur drückt nicht lediglich unser erkenntnistheoretisches Unverständnis der zu Grunde liegenden Untersysteme und ihrer wahren Kräfte aus, wie die Theorie der schwachen Emergenz behauptet. Wenn man die Merkmale der starken Emergenz systematisch aufschlüsselt (48–75), sind neben dem soeben dargestellten Muster der Emergenz – und der damit verbundenen Abwärtskausalität und dem grundlegenden Monismus – besonders noch die hierachische Komplexität und der temporale Aspekt zu nennen: Die evolutive Entwicklung geht von einfacheren Teilen zu komplexeren Einheiten und er­streckt sich über erhebliche Zeiträume. Ferner tritt Emergenz in ganz unterschiedlichen Varianten auf. Von Emergenz sollte man daher im Sinn einer Familienähnlichkeit sprechen.
Konsequenterweise wendet sich C. danach den emergenten Phänomenen in den Naturwissenschaften zu (76–117). Die Untersuchung zeigt: Emergenz lässt sich nicht leugnen. Allerdings sind die naturwissenschaftlichen Ergebnisse im Blick auf die Emergenz deutungsoffen: Man kann sie sowohl im Sinn der schwachen als auch der starken Theorie der Emergenz begreifen. Nach C. erfordert jedoch spätestens die Deutung mentaler Vorgänge des Menschen die starke Theorie der Emergenz (118–166): Nach derzeitigem Wissensstand ist das menschliche Gehirn mit 10 14 Nervenverbindungen das komplexeste System im Universum. Es weist besondere Eigenarten wie etwa die Hoffnung auf den Weltfrieden oder die Angst vor der Weltwirtschaftskrise auf, die »mental« zu nennen sind und die Menschen als Personen auszeichnen. Dieses Personsein lässt sich rein naturwissenschaftlich nicht angemessen darstellen: Die Phänomenologie menschlicher Handlungskausalität führt über die Naturwissenschaften hinaus.
Der zweite, kürzere Teil argumentiert für einen Theismus (167–223). Seinem Selbstverständnis nach ist dieser zweite Teil im besten Wortsinn »metaphysisch«: Die gegenwärtige Kosmologie drängt über die physikalische Naturwissenschaft hinaus zur Frage, ob es eine emergente Ebene über dem menschlichen Bewusstsein gibt. C. stellt diese aktuelle, kontroverse und spannende Debatte dar. Nach einer möglichen und stark diskutierten Lesart entsteht Gott erst im Kosmos. Dies erscheint C. pantheistisch und unwahrscheinlich: Innerweltliche Phänomene der Emergenz für göttlich zu halten, ist wenig überzeugend. Überzeugender ist für C. vielmehr die Einsicht, dass die Gottheit den Kosmos transzendiert und zugleich in sich begreift. Damit kommt ein dualistisches Moment ins Spiel, das die Emergenztheorie erweitert. Seine Einführung hat C. zu­folge am Typ der personalen Ursache menschlichen Handelns An­halt.
C. legt eine wegweisende Studie vor, die glänzend geschrieben und sprichwörtlich inspirierend ist: Sie eröffnet angesichts der gegenwärtigen Naturwissenschaft den Raum für ein im besten Sinn metaphysisches Denken. Gerade deswegen überrascht es, dass C. die sachlich affine Spätphilosophie Schellings nicht miteinbezieht: Letztere weiß den Kosmos als die Natur Gottes in die trinitarische Beziehung von Gottes weltumfassender Alleinheit und weltdistanzierter Alleinigkeit im Sinn einer Theorie göttlicher Freiheit eingezeichnet. Über Register und Abbildungen ist das sehr empfehlenswerte Buch benutzerfreundlich eingerichtet.