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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1154–1156

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klauck, Hans-Josef

Titel/Untertitel:

Die religiöse Umwelt des Urchristentums I. Stadt- und Hausreligion, Mysterienkulte, Volksglaube

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1995. 207 S. gr.8° = Kohlhammer Studienbücher, Theologie, 9,1. Kart. DM 34,­. ISBN 3-17-010312-1

Rezensent:

Dieter Sänger

Mit diesem Teilband, dem in Kürze ein zweiter folgen soll, eröffnet H.-J. Klauck seine Darstellung der religiösen Umwelt des Urchristentums. Die weit gespannte Thematik und der Umfang des Stoffes haben die Hgg. des Reihenwerkes bewogen, für das Judentum einen eigenen Band vorzusehen, so daß sich K. ganz auf den griechisch-römischen Bereich konzentrieren kann.

Seiner Absicht und Anlage nach wendet sich das Buch in erster Linie an Studierende der Theologie (Lehramtsstudiengänge wohl eingeschlossen), um ihnen die notwendigen Basisinformationen zu vermitteln (5). Entsprechend dieser Zielsetzung hat K. bewußt auf kompendienhafte Vollständigkeit verzichtet und sich für eine exemplarische, problem- und textorientierte Vorgehensweise entschieden. Die Auswahl der Sachgebiete richtet sich danach, "was vom Neuen Testament her und für das Verständnis von ntl. Texten besonders informativ erscheint" (25, vgl. 27.129). Daß dabei manches fragmentarisch bleiben muß, anderes gar nicht angeschnitten oder nur am Rande gestreift werden kann, liegt auf der Hand. Diese Selbstbeschränkung kommt jedoch dem Bedürfnis entgegen, präzise und instruktiv, aber ohne den Ballast enzyklopädischer Breite über zentrale religionsgeschichtliche Zusammenhänge unterrichtet zu werden.

Daß der Grundsatz non multa, sed multum die Darstellung bestimmt, läßt bereits ihre Gliederung erkennen. Auf die Einleitung (19-26), in der zunächst die Aufgabe umrissen, dann das eigene Konzept positioniert und schließlich mit wenigen Strichen eine systemtheoretisch fundierte Beschreibung religiöser Phänomene gegeben wird, folgen drei thematische Schwerpunkte. Im ersten ("Alltagsleben und Grenzerfahrungen: Religion in Stadt und Haus" [27-76]) geht es darum, wo und in welchen Formen sich die pagane Religiosität in der Öffentlichkeit (Opfer, Tempel, Fest, Priesterschaft), in Gruppen und Vereinen, im Haus und im persönlichen Bereich manifestiert. Der zweite (77-128) behandelt die antiken Mysterienkulte. In ihm gilt das Hauptaugenmerk den eleusinischen und dionysischen Mysterien, dem Attis- und Isiskult sowie den Mithrasmysterien. Der dritte Teil (129-197) beschäftigt sich mit Heilungswundern und -orten (z.B. Epidauros) und stellt u.a. den bekannten Thaumaturgen Apollonius von Tyana etwas genauer vor. In weiteren Abschnitten gibt K. einen Überblick über magische und okkulte Praktiken (Wahrsagerei, Zeichendeutung, Zauberwesen) und charakterisiert am Schluß das weit verbreitete Phänomen der Astrologie.

Innerhalb seiner Darbietung macht K. es vom Thema abhängig, ob er chronologisch vorgeht oder aber so, daß vergleichbare Sachverhalte phänotypisch erfaßt und nebeneinander gestellt werden. Dabei wechseln sich allgemeiner gehaltene Übersichten mit ins Detail gehenden Ausführungen ab, die stets anhand konkreter Textbeispiele überprüft werden können. Zumeist bewegt sich K. im Rahmen des (relativen) Forschungskonsensus, referiert aber auch abweichende Positionen, sofern sie ihm wichtig erscheinen oder der gegenwärtige Stand der Diskussion ein näheres Eingehen auf sie erfordert (46-48.88.92.95.116 u. ö.). Daneben weist er immer wieder auf noch offene Fragen hin und deutet an, in welcher Richtung eine vertiefende Weiterarbeit möglich und wünschenswert ist.

Als Einführung profiliert sich die Arbeit auch dadurch, daß sie ausgesprochen benutzerfreundlich gestaltet ist. K. schreibt in einem erfreulich unprätentiösen Stil und vermeidet weitgehend den oft beklagten Fachjargon, so daß er auch Leser erreichen dürfte, bei denen keinerlei spezielle Vorkenntnisse zu erwarten sind. Allen griechisch- bzw. lateinischsprachigen Begriffen und Zitaten ist eine Übersetzung beigegeben, die leicht zugänglichen Quellenwerken und Anthologien entnommen ist. Die Anmerkungen beschränken sich in der Regel auf den Nachweis der Belege und enthalten ansonsten nur knappe Erläuterungen zum Text. Jedem Kapitel und Unterabschnitt ist eine repräsentative Auswahl der klassischen älteren Literatur vorangestellt, ergänzt um wichtige neuere und neueste Titel. Von Fall zu Fall eingefügte Hintergrundinformationen ­ etwa zu Daten, Funktionsträgern, Göttern, Festen, Realien (42 f. 51 f. 61.81.179.186) ­ dienen der Anschaulichkeit und erleichtern die Orientierung im dargebotenen Stoff.

Trotz oder gerade wegen dieses stets präsenten Adressatenbezugs verliert K. nie sein eigentliches Ziel aus den Augen. Durch seine zahlreichen Querverweise auf neutestamentliche Berichte (besonders aus der Apostelgeschichte), einzelne Theologumena und Formulierungen (25 f.57.76.79 f.94.110 f.127 f.139.145f. 172.179.184 u. ö.) gelingt es ihm, deutlich zu machen, in welch starkem Maße die frühe Christenheit die Denkvoraussetzungen der griechisch-römischen Welt teilte, welche Integrationskraft der christliche Glaube bei der Aufnahme und Verarbeitung von Fremdeinflüssen besaß und wie sich das Evangelium in der frühesten Phase seiner Geschichte in den von heterogenen religiösen Strömungen durchdrungenen Mittelmeeraum inkulturierte. Auf diese Weise entsteht ein plastisches Bild einer Umwelt, die ­ um zwei heute vieldiskutierte Schlagworte zu gebrauchen ­ ebenso multikulturell wie multireligiös geprägt war. Die wesentlichen Konturen dieses nichtjüdischen Rezeptionshorizontes des Urchristentums zu kennen, gehört darum "zu den unverzichtbaren Voraussetzungen für ein sachgerechtes Verständnis seines schriftlichen Erbes" (5). Dies um so mehr, als Elemente der zeitgenössischen paganen Religiosität gegenwärtig eine Renaissance erleben und sie abermals, wenngleich modisch gewandet und bedürfnisgerecht transformiert, mit dem christlichen Glauben konkurrieren.

Insgesamt gesehen ist das Buch ein leider allzu selten gewordenes Musterbeispiel dafür, daß Verständlichkeit und wissenschaftliche Solidität sich nicht ausschließen müssen. Seine didaktische Konzeption überzeugt auch besonders deshalb, weil es K. gelingt, die auf den ersten Blick unterschiedlichsten Ausprägungen religiöser Selbst- und Weltdeutung mitsamt ihren inhaltlichen Konsequenzen (innerweltliche/postmortale Heilshoffnung, Schuldbewältigung, ethische Entwürfe u. a.) aufeinander zu beziehen. Zudem begnügt er sich nicht damit, die einschlägigen literarischen Zeugnisse, Inschriften, Epigramme oder auch archäologischen Befunde rein ideengeschichtlich zu interpretieren, sondern versucht stets, ihren transpersonalen, d.h. soziokulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontext nachzuzeichnen und sie darin einzuordnen.

Angesichts der Fülle des zu bewältigenden Stoffes kann es natürlich nicht ausbleiben, daß die Argumentation an manchen Punkten auf historischen Vermutungen basiert und gewisse Unschärfen zu beobachten sind. So erscheint es mir z. B. äußerst unwahrscheinlich, daß in Eleusis die Myesis ­ gemeint ist die Erstlingsweihe innerhalb des mehrstufigen Initiationsritus ­ am Hauptheiligtum selbst vollzogen wurde (89). Denn alle Texte, in denen der Prozessionsweg von Athen nach Eleusis geschildert wird, stimmen darin überein, daß es ein Zug von mystai sei, also von bereits Eingeweihten. Doch solche und andere Differenzen sind eher positioneller Art und ändern nichts an dem ausgezeichneten Eindruck, den die Darstellung als Ganze hinterläßt.

Es ist zu wünschen, daß K. den angekündigten zweiten Teilband, in dem der Herrscher- und Kaiserkult, die religiöse Dimension der Philosophie im frühen Prinzipat sowie die Gnosis behandelt werden sollen, möglichst bald fertigstellen kann. Alle an der religiösen Umwelt des Urchristentums interessierten Leserinnen und Leser werden es ihm danken.