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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1090–1092

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hund, Johannes

Titel/Untertitel:

Das Wort ward Fleisch. Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre in den Jahren 1567 und 1574.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 744 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 114. Geb. EUR 112,00. ISBN 978-3-525-56344-1.

Rezensent:

Ernst Koch

Das anzuzeigende Buch widmet sich sieben Jahren spätreformatorischer Theologiegeschichte, die für den Weg der Wittenberger Reformation entscheidend waren: Im Spätjahr 1564 begann offenkundig zu werden, dass man in Württemberg und in Kursachsen im Begriff war, unterschiedliche Wege in der Entfaltung der chris­tologischen Ansätze der Wittenberger Theologie einzuschlagen, wie sie speziell auf Martin Luther selbst zurückgingen und wie sie aktuell in der Diskussion mit der Zürcher und Genfer Theologie zur Debatte standen.
Diese Differenzierung war Ausdruck der Position der in Wittenberg lehrenden Theologen im Zusammenspiel mit den im Gange befindlichen Verschiebungen innerhalb der kursächsischen Religions- und Theologiepolitik und wurde, durch Information vermutlich aus Kursachsen vermittelt, zunächst in­tern durch die Württemberger Johannes Brenz und Jakob Andreae bemerkt. Der zwischen 1560 und 1567 sich allmählich vollziehende Generationenwechsel innerhalb der Wittenberger Universität, verknüpft mit den Namen von Caspar Cruciger d. J., Christoph Pezel und Caspar Peucer, brachte um die Jahreswende die Spannungen in Wittenberg selbst zum Ausbruch und überschnitt sich mit den von Württemberg ausgehenden frühen Verhandlungen um eine Konkordie zwischen den der Confessio Augustana verpflichteten Kirchen. Gegenstand der Untersuchung von H. sind die mit den folgenden Ereignissen zwischen 1567 und 1574 verbundenen theologischen Auseinandersetzungen und Klärungen.
Zu den Stärken der Arbeit gehört eine mit pointierten Urteilen versehene Geschichte der Erforschung der Auseinandersetzungen, denen sich die Untersuchung widmet (14–42). Als eigenes Ziel wird die lückenlose Heranziehung der Quellen des Streits um Christologie und Abendmahl vorgestellt, um den Ertrag der Sachdebatte dieser Jahre angemessen würdigen zu können. Erstmals möchte H. die erhaltenen Akten des Sächsischen Staatsarchivs Dresden, den Sel­necker-Nachlass in Göttingen, den Pezel-Nachlass in Detmold und einzelne Briefe der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel ge­meinsam darstellen und auswerten.
In bestimmter Hinsicht stehen im Mittelpunkt der Darstellung die Person Nikolaus Selneckers und ihre Rolle. In geduldiger und konzentrierter Lektüre der Quellen gelingt es H., seine Position als in sich konsistent und folgerichtig zu schildern. Dazu trägt auch und besonders eine genaue Untersuchung der Stellungnahmen Selneckers im Jahre 1571 bei, die so bisher kaum je geleistet worden ist. Im Blick auf die kontroverse Deutung dieses Theologen ist dies hoch zu bewerten. Flankiert wird die Darstellung Selneckers durch die gründliche Analyse des Wittenberger Katechismus, der »Grundfest« als »christologisches Manifest« der Wittenberger Theologen, des Consensus Dresdensis sowie der breiten Diskussion dieser Texte als Zeugnisse für die Dynamik der Auseinandersetzung. Eine intensive Betrachtung erfährt ebenfalls die berühmt-berüchtigte Exegesis perspicua des schlesischen Mediziners Joachim Cureus (»Naturwissenschaft als Theologie«). Bemerkt wird das späte Eingreifen der Württemberger Theologen (1572) in den in und um Wittenberg ausgebrochenen Streit.
Diese breiten Analysen H.s werden unterbaut und verknüpft durch die Schilderung der Entwicklungen in Kursachsen: die Konkordienangebote aus Heidelberg und Genf (Theodor Beza), personelle Umgruppierungen und die allmählich wachsenden Spannungen am Hof, die sich schließlich in dem viel besprochenen Ende des manchmal so bezeichneten kursächsischen Kryptocalvinismus und der Entlassung von vier Wittenberger Theologen im Frühjahr 1574 entluden. Damit schließt die Arbeit ab, um in einer knappen Zusammenfassung noch einmal ihren Ertrag zu bündeln.
Es ist ganz unmöglich, in einer knappen Rezension die Fülle von neuen und unbekannten Aspekten der Untersuchung zu würdigen, die durch klare und präzise Sprache nicht nur historisches Verstehen ermöglicht, sondern auch ein hohes Maß von systematisch denkerischer Fähigkeit erweist und die Lektüre fördert.
Die Hauptthesen des Buches lassen sich wie folgt zusammenfassen: Es ist nicht nötig, als theologische Deutung der Vorgänge einen wie auch immer gearteten kursächsischen Kryptocalvinis­mus zu bemühen, sondern es ist zwischen einem (ursprünglichen) »klassischen Philippismus« (der unmittelbaren Kollegen Melanchthons) und einem »konsequenten Philippismus« (der jüngeren Schüler Melanchthons) in Kursachsen zu unterscheiden (1.). In diesen beiden Profilen innerhalb der Wittenberger Theologie sind die Methodik der Theologie und von da aus das Verhältnis zwischen Christologie und Abendmahlslehre unterschiedlich entfaltet worden (2.): Der »klassische Philippismus« in der Nachfolge des späten Melanchthon legte Wert darauf, Christologie und Abendmahlstheologie zu unterscheiden und methodisch voneinander zu trennen (3.). Der »konsequente Philippismus« ist als weitgehend autonome Position der vorkonfessionellen Phase der theologischen Entwick­lung, also zunächst unabhängig von der Genfer Theologie zu verstehen, war aber einer Lehrkonkordie mit der Genfer Theologie »nicht abgeneigt«. Auch traditionsgeschichtlich gesehen lässt sich eine Übernahme melanchthonischer Theologie durch Genf nicht feststellen (4.). Darum sollte der Weg der Schüler des späten Me­lanchthon nicht als »Kryptocalvinismus« verstanden werden, sondern ist eher als »Kryptophilippismus« zu bezeichnen, da den Melanchthonschülern zunächst daran lag, ihre Position innerhalb Kursachsens nicht zu veröffentlichen (5.). Um 1600 erfolgte im lutherischen Bereich eine »Lutheranisierung Melanchthons«, verbunden mit der Abqualifizierung seiner späten Schüler als »Kryptocalvinisten« (6.). Die Spannungen zwischen Württembergern und Kursachsen in der Christologie beruhen auf unterschiedlicher Definition des Unterschieds zwischen konkreter und abstrakter Redeweise in der Beschreibung des Verhältnisses von Gottheit und Menschheit in der Person Jesu Christi (7.). Die Rolle der sog. Gne­siolutheraner in den Auseinandersetzungen besteht darin, auf die Folgen konsequent-philippistischer Argumentationen aufmerksam gemacht zu haben (8.). Als für die Zu­kunft entscheidend er­weist sich die in unlösbarer Verbindung von Christologie und Abendmahlstheologie entwickelte Position der Braunschweiger Theologen um Martin Chemnitz, die zwischen Wittenbergern und Württembergern zu vermitteln verstand (9.).
Zum kirchen- und theologiegeschichtlichen Zugewinn der Un­tersuchung gehört es, sowohl auf die Genfer Konkordienangebote an Kursachsen wie auch auf die personellen Umbesetzungen in diesem Territorium in den Jahren 1572/73 hingewiesen zu haben. Hier besteht weiterhin Forschungsbedarf. Für die Deutung der jeweiligen Position der in Spannung oder im Streit befindlichen Theologen zieht H. immer wieder deren soteriologische Konzeptionen heran. Das verleiht der Untersuchung, die ständig Kontakt mit den philosophischen Implikationen dieser Positionen hält, ihre auch systematisch-theologische Bedeutung. Die Relevanz der Darstellung für gegenwärtige verantwortbare theologische Rede sieht H. in ihrer theologiegeschichtlichen Perspektive, »aus der jedoch im kritischen Dialog aller christlichen Konfessionen miteinander … unter Beachtung des biblischen Befundes und der philosophiegeschichtlichen Herausforderungen der Gegenwart ein gemeinsames Anliegen, Konzept und Verständnis der Person Christi und der Abendmahlsgabe werden könnte, an dessen Ende die ganze christliche Kirche mit einstimmen kann in den evangelischen Jubel ›Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit‹ (Joh 1,14)« (703 f.).
Bemerkenswert ist die Aufmerksamkeit von H. bei der Erkundung der Quellen und ihrer Lektüre. So zieht er zur Klärung einzelner Vorgänge u. a. Valentin Ernst Löschers Historia motuum (1724) heran, wo verschollene bzw. verlorene Quellen inzwischen im Wortlaut überliefert sind (126–129.133–135). Hingewiesen wird auf zeitgenössische Randbemerkungen in einem Druck von 1570, die helfen, den historischen Hintergrund zu erhellen (159 f.). Für die Lektüre hilfreich sind der Nachweis und die teilweise geleistete Dokumentation der in den Primärquellen erwähnten Zitate bis hin zur Patristik. Auch die bisher kaum beachtete jesuitische Auseinandersetzung mit der Christologie Jakob Andreaes, auf die dann Andreaes Gegner zurückgriffen, erfährt gebührende Beachtung (390–392). Für die Aufhellung der Vorgänge in Kursachsen zwischen 1569 und 1574, denen in der auf der Reformation fußenden Theologiegeschichte eine Schlüsselstellung zukommt, schließt sich das Buch förderlich und differenzierend an die wichtige Untersuchung von Hans-Peter Hasse (Leipzig 2000) an.
Insgesamt hinterlässt die Lektüre den Eindruck einer Darstellung, die Hochachtung und Respekt verdient, zumal dann, wenn nicht vergessen wird, dass es sich bei ihr um eine Promotionsarbeit handelt. Ihr ist aufmerksame Beachtung zu wünschen.