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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1088–1089

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dahill, Lisa E.

Titel/Untertitel:

Reading from the Underside of Selfhood. Bonhoeffer and Spiritual Formation. With a Foreword by H. M. Rumscheidt.

Verlag:

Eugene: Pickwick (Wipf & Stock) 2009. XV, 268 S. gr.8° = Princeton Theological Monograph Series, 95. Kart. US$ 33,00. ISBN 978-1-55635-425-0.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Die in der renommierten Reihe »Princeton Theological Monographs« erschienene Studie der amerikanischen Bonhoeffer-Expertin Lisa Dahill kontextualisiert Dietrich Bonhoeffers Spiritualität. Der Kontext, in dem vor allem die »Nachfolge« sowie »Gemeinsames Leben« gelesen werden, ist der der Unterdrückung und des Missbrauchs in menschlichen Beziehungen, besonders der Frauen. Im theologischen Kern handelt es sich um einen Beitrag zu dem, was im angelsächsischen Raum »constructive Theology« oder »ap­plied ethics« genannt wird. Der Rahmen einer werkimmanent-analytischen Untersuchung wird gesprengt und die Frage aufgeworfen, wie sich Bonhoeffers Spiritualität in konkrete Kontexte, hier der Missbrauchserfahrungen von Frauen, übersetzt – in D.s eigenen Worten: »whether and how the heart of Bonhoeffer’s spirituality (that is, ›confirmation‹ with Jesus Christ self-sacrificially active in human life, in community, and in the world) may speak to those of very different social-psychological locations from his own« (6). In diesem Bezugsfeld ergeben sich Berührungspunkte zur feministischen Theologie oder generell zu Genderfragen. Diesen Zusam­menhang reflektiert D. gründlich.
Methodisch hat dies Auswirkungen u. a. auf die Gewichtung der Fragestellung sowie auf die Anlage der Gesamtuntersuchung. Die Genderfrage ist »Fallstudie« (»Test-case«) für die breitere Anwendbarkeit von Bonhoeffers Denken, bildet also gewissermaßen den »Sitz im Leben« von D.s Bonhoeffer-Interpretation und wird – wie bei Fallstudienarbeiten üblich – dezidiert unterschieden von der werkimmanenten Analyse der theologischen Quellen (hier Bonhoeffers Schriften zur Spiritualität). Normativ ist die Bonhoeffer-Analyse (und nicht die feministische Psychologie). Entsprechend zerfällt die Gesamtuntersuchung in drei große Abschnitte: Zu­nächst werden die Schriften Bonhoeffers, von Sanctorum Communio über Akt und Sein, die Christologievorlesung, Nachfolge und Gemeinsames Leben bis hin zu Ethik und Widerstand und Ergebung auf Bonhoeffers »Sense of self« (20–70) sowie seine »spiritual formation« (71–109) untersucht. Auf die in sich geschlossene Bonhoeffer-Betrachtung folgt eine große Fallstudie zu »Gender, Selfhood, and Abuse« (110–164). In einem dritten Schritt wird die Fallstudie mit den aus der Bonhoeffer-Betrachtung gewonnenen Einsichten konstruktiv ins Gespräch gebracht: »Conversation between Bonhoeffer and Fe­m­inist Psychology« (165–222). Zusammenfassende Überlegungen und Erwägungen bilden den Abschluss der sehr gut lesbaren und inspirierenden Studie.
Die ersten 100 Seiten des Buches bieten eine fundierte Einführung in Bonhoeffers theologisches Denken im Allgemeinen und seine Spiritualität im Besonderen. Die Konturen seiner Spiritualität umfassen nach D.: »His love of Christian community and insight into the fundamental sociality of the human person evidenced in Sanctorum Communio; his great respect for the mystery of human individuality; his insistence on the essential particularity and concreteness of truth; and his longing for a christocentric liber­ation from the loneliness and illusion of distorted selfhood« (108). Diese Konturen werden getragen von der durchgehend christologischen Bestimmung seiner Spiritualität. Ein zentrales Motiv wird z.B. aus Bonhoeffers Ethik gewonnen, nämlich das der gestaltethischen Figur vom Christus, der in uns, den Christen, Gestalt gewinnen möchte. D. zeigt (92–100) Bonhoeffers spirituelle Dimension anhand seines Verständnisses von Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi auf und stellt dieses später in konstruktiven Zusammenhang zu den drei Dimensionen oder auch Stufen (»stages«, 160 f.) feministisch-psychologischer Heilung, nämlich »safety, remembrance and mourning, and reconnection« (160). Menschen, besonders Frauen, die in emotionalen Missbrauchssituationen leben, brauchen zunächst »Sicherheit«, einen Raum, in dem sie sich selbst angstfrei wahrnehmen und entwickeln dürfen. Missbrauchserfahrung habe immer zu tun mit Selbstleugnung und ganzer Ausrichtung auf den dominanten »anderen«. Heilung bedeute deshalb zunächst Wahrnehmung des Selbst. Das führe dazu, dass unterdrückte Erinnerungen überhaupt »erinnert« und »beklagt/betrauert« werden. Das sei die zweite Stufe von Heilung. »The survivor, beginning with the frozen, fragmentary, or fully repressed memories typical of trauma victims, only gradually be­gins to be able to put words on shattering and surreal-seeming events.« (161) Dieses Erinnern führe dann im Heilungsprozess zu einer »reconnection« mit dem eigenen, wahren Selbst.
Im dritten Teil ihrer Studie bemüht sich D., diese feministisch-psychologische Fallanalyse mit Bonhoeffers christologisch fundierter Spiritualität in Beziehung zu bringen.

»Using Bonhoeffer’s three-fold framework of spiritual formation, I assert that the experience of confirmation with, first, the Incarnate One includes the psychological dimensions of movement into the healing relationship and self-acceptance as the person one truly is. Second, the experience of confirmation with the Crucified One includes the psychological dimensions of truth-telling about oneself and one’s life (facing sin, brokenness, and woundedness) … Finally, the experience of confirmation with the Risen One includes the psychological dimensions of the birth and the true self, healing of old wounds, joy, and the creation of new connections in the real world« (168).
Um einen Gesichtspunkt zu vertiefen: In der Wahrnehmung des Selbst, also der ersten, inkarnationstheologischen Dimension, kritisiert D. einerseits Bonhoeffers Rede vom »Dasein für andere«, die bei Bonhoeffer ekklesiologisch eine »Kirche für andere« zur Folge hat. Die Konzentration auf ›den anderen‹ enthalte wenig heilendes Potential für traumatisierte Menschen, die die häufig angstbesetzte Fokussierung auf ›den anderen‹ überwinden müssen, um zum eigenen, wahren Selbst zu finden. Andererseits kann D. auch Bonhoeffer-Belege beibringen, die geeignet scheinen, aufzuzeigen, dass die Bedeutung des Selbstbezugs nicht völlig fehlt. Hier wird etwa auf Bonhoeffers Rede vom »Selbstprüfen« (DBWE 6,326) rekurriert sowie auf sein Manuskript »Ethik als Gestaltung«: »God loves the real human being.«


Auch wenn manche Analogien zwischen Bonhoeffers Spiritualität und feministischer Psychologie in allzu direkte Entsprechungen münden und Äquivokationen die Folge sind, handelt es sich insgesamt um eine hinreichend differenzierte, gut systematisierte und sehr sensible Studie, die nicht unreflektiert feministische Positionen (und Stereotypen) übernimmt, sondern konstruktiv Bonhoeffer ins Gespräch zu bringen sucht mit einer auch für die politische Ethik generell zentralen Frage, nämlich der nach den Möglichkeiten und Grenzen der Heilung von Traumata in religiös-christlicher Perspektive.