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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1085–1087

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Diedrich, Hans-Christian

Titel/Untertitel:

»Wohin sollen wir gehen ...«. Der Weg der Christen durch die sowjetische Religionsverfolgung. Eine russische Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts in ökumenischer Perspektive.

Verlag:

Erlangen: Martin-Luther-Verlag 2007. 571 S. m. Abb. gr. 8º. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-87513-160-4.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Hans-Christian Diedrich (im Jahr 2008 verstorben) legte nach der Dissertation Ursprünge und Anfänge des russischen Freikirchentums (Erlangen 1985) und der Habilitation Reformationsgeschichte Weißrusslands (Erlangen 2005) sowie zahlreichen weiteren Veröffentlichungen wie Das Gute behaltet. Kirchen und religiöse Gemeinschaften in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten (Erlangen 1996) und Sie gehen von einer Kraft zur anderen. In memoriam Arthur Pfeiffer 2007 eine russische Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts in ökumenischer Perspektive vor.
Nach Vorwort und Einleitung entfaltet der Band sein Thema in zehn Kapiteln, wovon acht jeweils einem Zwölfjahresschritt ge­widmet sind, in dem die orthodoxe Kirche, die evangelisch-lutherische Kirche, die Freikirchen sowie die römisch-katholische Kirche betrachtet werden: 1905–1917: Von der Proklamation der Religionsfreiheit zum Landeskonzil der Orthodoxen Kirche in Russland; 1917–1929: Der Kampf der bolschewistischen Partei gegen die Kirchen bis zum Beginn der Kollektivierung; 1929–1941: Der Versuch Stalins, die Kirchen in der Sowjetunion zu vernichten; 1941–1953: Kirche und Sowjetstaat während des Zweiten Weltkriegs und bis zum Tod Stalins; 1953–1965: Die Entstalinisierung und der »zweite Kirchenkampf« unter Chrusˇcˇ ëv; 1965–1977: Die Jahre der Stagnation und des Atemholens; 1977–1989: Menetekel – die sowjetische Religionspolitik zwischen Brežnev-Verfassung und Perestrojka; 1989–2000: Religionsfreiheit und »Wiedergeburt«.
Das neunte Kapitel wendet sich anderen Gruppen zu: den Altgläubigen, kleineren Freikirchen und »Sekten«, das zehnte der Gottlosenbewegung. Einem Nachwort folgen Listen von Geistlichen, die unter der Sowjetherrschaft bzw. im Zusammenhang mit Kriegshandlungen gewaltsam ums Leben kamen oder verschollen sind, unterteilt in einen katholischen (A), einen evangelischen (B) und einen freikirchlichen Teil (C). Es folgen ein originalsprachlicher Dokumentenanhang mit deutschen Übersetzungen, Literatur, Register sowie ein Anhang, der die Tätigkeit des von 1970 bis 1996 bestanden habenden Arbeitskreises der Evangelischen Kirche der Union für russische Kirchengeschichte würdigt. Eine Erläuterung der wissenschaftlich-bibliothekarischen Umschrift kyrillischer Buchstaben sowie eine Karte schließen den Band ab.
Bestimmen auch nicht wenige ältere Arbeiten, wie jene von Erik Amburger und Wilhelm Kahle, sowie einige jüngere, wie etwa die von Olga Kurilo, Björn Mensing und Heinrich Rathke sowie Walter Graßmann, die Forschungslandschaft, so betritt D. doch in Art und Anlage der Studie Neuland. Mit seiner monumentalen Untersuchung legt er erstmals den Versuch einer Gesamtschau der Ge­schichte von Bekenntnissen auf dem Boden Russlands im 20. Jh. vor, eine Fundgrube für alle Interessierten.
Ausführliche Literatur- und Quellenstudien slawischer und westlicher Sprachen liegen der Arbeit zu Grunde, wodurch eine neue Ebene der Forschung erreicht wird. Ambivalent bleibt die Grundsatzentscheidung, keine Listen von Geistlichen der autochthonen orthodoxen Kirche aufzunehmen, die unter der Sowjetherrschaft bzw. im Zusammenhang mit Kriegshandlungen ge­waltsam ums Leben kamen oder verschollen sind. Als nachvollziehbarer Grund für diese Fehlstelle wird angegeben, dass die Toten aus der orthodoxen Kirche bislang auch nicht annähernd genannt werden können: »ihre Zahl ist so exorbitant hoch, daß eine Namensnennung, soweit sie überhaupt schon möglich wäre, den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen würde« (428). Einige horizontandeutende Hinweise hätten aber wohl den Rahmen des gegebenen Themas nicht gesprengt, dem Leser vielmehr weitere hilfreiche Instrumente für eigene Studien an die Hand gegeben. Umso nachdrücklicher stellt sich die Frage, ob im Untertitel statt von russischer Kirchengeschichte nicht doch richtiger von russländischer Kirchengeschichte hätte gesprochen werden sollen, auch wenn damit ein »sprachliche[s] Monstrum« entstanden wäre (15, Anm. 12). Keineswegs aber stellen diese Anfragen D.s großartiges Werk in Frage.
Seit den Zeiten der Alten Kirche steht das Märtyrergedenken auf Grund von Martyrologien und Opferlisten am Beginn der Kirchengeschichtsschreibung und bildet einen wesentlichen Teil des christlichen Gottesdienstes. Dies aufgezeigt und die Voraussetzung für liturgische Erinnerung in seinem Alterswerk maßgeblich mitgeschaffen sowie konfessionell entgrenzt zu haben, ist das große Verdienst von D.: »Es gehört zu unseren Visionen, dass es in dem Land, dessen Gläubige – Christen wie Menschen anderer Religionen – im Namen einer pervertierten Idee und einer verbrecherischen Praxis zu Hunderttausenden hingeschlachtet wurden, bald dazu kommt, dass die Kirchen gemeinsam trauern, gedenken, beten können. Denn die Toten kennen keine Konfessionen, Dogmen, Traditionen, Trennungen mehr. Sie umschlingt das große Band der Einheit und des Friedens derer, die vor Gott stehen.« (429 f.)
Möge dieser gewichtige Beitrag, in den u. a. englische, polnische und russische Literatur sowie Erfahrungen etwa als Bischöflicher Beauftragter des Erzbischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland und anderen Staaten für Weißrussland einflossen – und der so gleichsam D.s Vermächtnis darstellt –, von vielen Lehrenden und Lernenden wahrgenommen werden. Möge die grundlegende weitsichtige Zusammenschau der Wege der Kirchen in Russland neue Detail- und Überblicksstudien des noch immer zu großen Teilen im Dunkeln liegenden 20. Jh.s anregen und so ein besseres handlungsorientierendes Verstehen der Gegenwart ermöglichen.