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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1083–1085

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bendel, Rainer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vertriebene finden Heimat in der Kirche. Integrationsprozesse im geteilten Deutschland nach 1945.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2008. X, 670 S. gr.8° = Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, 38. Geb. EUR 79,90. ISBN 978-3-412-20142-5.

Rezensent:

Jörg Seiler

Es ist das Verdienst von Rainer Bendel, dass der Komplex »Vertriebene und Kirchen« seit einigen Jahren (kirchen-)historisch seriös aufgearbeitet wird. Nunmehr legt er seinen dritten größeren Tagungsband zur Thematik vor, die er auch in seiner Habilitationsschrift behandelte (2003). Die Forschungen wurden zeitgleich durch weitere Studien vorangetrieben. Zu nennen sind etwa die Arbeiten von Dietmar Meder (2000), Michael Hirschfeld (2002), Christoph Holzapfel/Gabriele Vogt (2002), Martin Holz (2003), Robert Zurek (2005) und Sabine Voßkamp (2007). Im Bereich der evangelischen Kirche hatte Hartmut Rudolph bereits 1984/85 ein zweibändiges Grundlagenwerk vorgelegt. Die Aktualität dieser neueren Forschungen liegt angesichts der gesellschaftlichen Dis­kussionen auf der Hand. Sie profitieren von der Zugänglichkeit bislang nur schwer oder gar nicht verfügbarer Quellen.
Einen Überblick über Archivbestände liefern im vorliegenden Band die Beiträge von Maria Dębowska (»Die Archivsituation für die Vertriebenen aus den polnischen Ostgebieten«) und Otfrid Pustejovsky (»Vertreibung und Vertriebene in tschechischen Archiven«). Thomas Scharf-Wrede erhellt die organisatorischen Rahmenbedingungen bezüglich der Eingliederung der Archive katholischer Vertriebenenverbände in Diözesanarchive. Das Archiv der Ackermann-Gemeinde wird von Benita Berning beschrieben. Der zweite Teil des Bandes umfasst eine knapp 350-seitige Quellenedition von Winfried Töpler mit Texten aus dem Görlitzer Bistumsarchiv und aus dem Archiv der Pfarrei St. Maria Friedenskönigin in Cottbus. Ediert sind hauptsächlich die Berichte und Korrespondenzen zwischen Seelsorgern und den Ordinariatsbeamten des Erzbischöflichen Amtes Görlitz bzw. dem Kapitelsvikar Ferdinand Piontek. Der Schwerpunkt liegt auf den Jahren 1945–1948. Hier begegnet der grausame Alltag des Kriegsendes, der russischen Besatzung und der verschiedenen Flüchtlingswellen aus katholisch-binnenkirchlicher Perspektive. Der Aufbau der Caritas war auch auf Grund innerkirchlicher »Desorganisation« schwierig und offenbart Spannungen zwischen den Verantwortlichen. Auch der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, Heinrich Wienken, und der Papst, von dem man eine eindeutige Verurteilung der Vertreibungen erwartete, geraten in die Kritik. Zuweilen stolpert man über eine fragwürdige Semantik wie etwa »Belassung deutschen Lebensraumes im Osten« (406) oder »Halbjud?« (574). Neben statistischen Angaben über die Flüchtlingsströme in den Berichten der Bahnhofsmissionen finden sich Initiativen zur Förderung der sich im Aufbau befindenden CDU. Die Quellenedition eröffnet vielfältige Zugriffsmöglichkeiten.

Über das erzbischöfliche Amt Görlitz handeln auch die Beiträge von Beate Cwiertnia (über das Katechumenenseminar in Görlitz und das Katechetinnenseminar in Cottbus), Svenja Hecklau (»Aufbau der Seelsorge im Gebiet Görlitz 1945–1972«), Ulrike Winterstein (»Der vertriebene Klerus in der SBZ/DDR«) und Sebastian Holzbrecher (über Joseph Ferche). Letzterer weist anhand neuerer Quellen plausibel nach, dass die Übernahme des Amtes eines Kölner Weihbischofs wohl auf die Eigeninitiative Ferches zurückgeht. Zwei Aufsätze beschäftigen sich mit dem Ermländer Bischof Maximilian Kaller, der nach dem Krieg für die Vertriebenenseelsorge zuständig war: Hans-Jürgen Karp referiert den derzeitigen Forschungsstand zu Kaller, während Karolina Lang die ermländische Glaubensgemeinschaft in den ersten Jahren Nachkriegsdeutschlands in den Blick nimmt. Der theo­logische Trost, den Kaller angesichts des unwiederbringlichen Verlustes ihrer Heimat für die Ermländer hatte – die Verfluchten und Entrechteten seien die Auserwählten des Reiches Gottes –, begegnet ebenfalls in den Quellen, die Töpler ediert. Wie brüchig solcher Trost war, reflektieren die Beiträge, die sich mit der generationenübergreifenden Traumatisierung befassen. Christa Müller, Elisabeth Heidtmann und Michael Ermann stellen das Münchner Projekt »Europäische Kriegskindheit und ihre Folgen« vor. Otfrid Pustejovsky fordert in seinem Beitrag über »Individuelles Erinnern und kollektives Gedächtnis« eine Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft. Es gehe um »die auch wissenschaftskritische Miteinbeziehung des Redens, Mit­teilenwollens der Generation der bisher Schweigenden«. Dadurch werde die »dünne Nahtstelle zwischen Zeitzeugenschaft, Zeitgeschichte als historischer Disziplin und politischer Vergangenheitsaufarbeitung sowie politischer Zu­kunftsgestaltung« deutlich. Informativ sind die Hinweise auf die dem Kriegskindheitsprojekt verwandten Forschungen im Umkreis von Uwe Langendorf (Hamburg) oder Hartmut Radebold (Kassel). Pustejovskys Kritik an Theorie und Methodik der Geschichtswissenschaft ist jedoch nicht nachvollziehbar.

Einen Einblick in ein Forschungsprojekt am Collegium Carolinum in München gibt Martin Zückert (»Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder im 20. Jahrhundert«). Das konfessionsübergreifende Projekt untersucht unter anderem Bedeutung und Funktion der Kirchen in Phasen beschleunigten gesellschaftlichen Wandels. Auch Christian-Erdmann Schott thematisiert Positionen der evangelischen Kirche, konkret den Wandel in der Wahrnehmung der evangelischen Kirche bezüglich der Vertriebenen. Er bietet einen bis in das Jahr 2005 reichenden Überblick. In seiner Mikrostudie über »Die Gemeindebildung in St. Johannes Nürtingen« macht Marco Eberhard »eine Art konfessionellen Kampfes« aus. Dass die katholischen Sudentendeutschen den evangelischen Gottesdienst besuchten, erweise, so der zuständige Metzinger Stadtpfarrer Schmitt, dass sie nicht »diasporareif« seien. Die unterschiedlichen pastoralen Strömungen führten zur Spaltung der Gemeinde. Eine Diasporasituation ganz anderer Art thematisiert der Beitrag von Daniel Lorek (»Die Pastoral vor neuen Aufgaben. Katholische Ausbildungsstätten im Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg«). Für das Thema des Sammelbandes sind die quantitativen Aussagen zur Ausbildung vertriebener Personen in den entsprechenden Institutionen relevant. Josef Pilvousek und Elisabeth Preuß beschäftigen sich mit den katholischen Flüchtlingen und Vertriebenen in der SBZ/DDR. Diese Bestandsaufnahme plädiert dafür, den Begriff »Integration« gegebenenfalls durch »Heimat/Beheimatung« zu ersetzen. Zukünftige Forschungen be­träfen entsprechende Beheimatungsprozesse, müssten aber auch jurisdiktionelle Probleme der Anstellung von Geistlichen differenzierter betrachten.
In seiner Einführung weist Bendel darauf hin, dass es um die Erfahrungen gehe, »die man sammeln konnte im politischen, gesellschaftlichen, kirchlichen Leben vor der Vertreibung und die die Vertriebenen dann geprägt haben – und damit um die Vielfalt der Wechselwirkungen zwischen den Praktiken, Mentalitäten, Erfahrungsräumen der Vertriebenengruppen und der Einheimischen«. Dies spiegelt sich jedoch nicht in allen Beiträgen. Auch geht es nicht nur um das geteilte Deutschland. Einzelne Beiträge korrespondieren miteinander, doch ergibt sich, unbeschadet der Qualität der Einzelbeiträge, kein schlüssiges Gesamtbild. Die vom Herausgeber skizzierten Erfahrungsräume eröffnet noch am ehesten die Quellenedition. Interessant sind die Diskussionen um die Begriffe »Integration« und »Beheimatung«, die in verschiedenen Beiträgen geführt werden. Unter diesem Aspekt lohnt der Vergleich der Ansätze von Pilvousek/Preuß und Winterstein. Ein Regis­ter erschließt den Band.