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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1079–1081

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wolf, Hubert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Verbotene Bücher. Zur Geschichte des Index im 18. und 19. Jahrhundert.

Verlag:

Paderborn: Schöningh 2008. 453 S. 8° = Römische Inquisition und Indexkongregation, 11. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-506-76326-6.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Hinter dem lapidaren Titel verbirgt sich die imposante Zwischenbilanz eines »Leuchtturmprojekts« der kirchenhistorischen Forschung. 1999, nur ein Jahr nach der Öffnung der einschlägigen Archive, begann das von Hubert Wolf initiierte Forschungsprojekt »Römische Inquisition und Indexkongregation«, das sich insbesondere die Erforschung der römischen Buchzensur von 1542 bis 1966 – von der Einrichtung der römischen Inquisition bis zur Abschaffung des Index Librorum Prohibitorum – zum Ziel gesetzt hat. Zunächst Teil des Frankfurter Sonderforschungsbereichs 435, ist das Projekt seit 2000 in Münster ansässig und wird seit 2002 im Langfristprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft ge­fördert (www.buchzensur.de [16.3.2009]).
In den ersten sechs Jahren konnten die Arbeiten für das »lange 19. Jahrhundert« von 1814 bis 1917 abgeschlossen und die Ergebnisse in fünf Bänden der projekteigenen Veröffentlichungsreihe publiziert werden. Der öffentlichen Präsentation dieser Bände, der wissenschaftlichen Würdigung der Projektarbeit und der Anzeige neuer Forschungsmöglichkeiten und -desiderate diente eine internationale Forschungstagung, die 2005 in Münster stattfand und deren Beiträge in diesem Sammelband dokumentiert sind.
In seinem ersten Teil ist die Eröffnung des Symposiums mit dem Hauptvortrag von Hubert Wolf und sechs Grußworten, u. a. von dem als Schirmherrn fungierenden Vertreter der Glaubenskongregation Kardinal Bertone, dem damaligen DFG-Präsidenten Winnacker und dem nordrhein-westfälischen Wissenschaftsmi­nister Pinkwart, dokumentiert. Im zweiten Teil stellen die beteiligten Projektmitarbeiter die drei Arbeitsbereiche des Projekts, die Grundsätze und Ergebnisse der Arbeit und die daraus hervorgegangenen Publikationen vor. Ergänzt werden diese Berichte durch Stellungnahmen ausgewiesener Sachkenner, die die Publikationen des Projekts aus der Außenperspektive einer kritischen Würdigung unterziehen. Die dritte Sektion des Bandes bietet ein weites Spektrum von Forschungsbeiträgen zur Quellenüberlieferung und zur Praxis der kirchlichen Buchzensur. Von den insgesamt 29 Beiträgen des Sammelbandes sind sechs auf Italienisch, zwei auf Englisch verfasst. Den eigentlich wissenschaftlichen Beiträgen sind Abstracts in deutscher, italienischer und englischer Sprache beigegeben, die allerdings häufig ungeschickt formuliert bzw. übersetzt sind; nach dem Beitrag von A. Cifres (227) fehlen sie.
Aus der Fülle an anregenden Beiträgen können nur einige herausgegriffen werden. Dabei ist zunächst der Eröffnungsvortrag von Hubert Wolf (»Bücher vor dem Tribunal der römischen Glaubenswächter«, 47–59) zu nennen. Anhand von drei spektakulären Fällen, in denen letztlich keine Indizierung erfolgte und die deshalb der bisherigen Forschung unbekannt waren – »Onkel Toms Hütte«, Knigges »Über den Umgang mit Menschen« und Hitlers »Mein Kampf« –, zeigt er, wie sich anhand der jetzt möglichen Quellenforschungen ein vertieftes Verständnis des Funktionierens der beiden beteiligten Kongregationen und der Mechanismen der von ihnen praktizierten Medienkontrolle, aber auch der aktuellen kirchenpolitischen Konjunkturen gewinnen lässt.
Einen schnellen Zugang zu den Problemen und Ergebnissen der drei Teilprojekte bieten deren Vorstellungen durch die beteiligten Mitarbeiter. Judith Schepers und Christian Wiesneth (»›Der Papst macht Reklame‹?«, 63–74) erläutern die Edition der Bandi, jener Sammelplakate, auf denen die von Inquisition und Indexkongre­gation ausgesprochenen Bücherverbote publiziert wurden und die gegenüber dem in unregelmäßigen Abständen aktualisierten ge­druckten Index die Primärquellen darstellen; anders als in diesem wird aus ihnen auch der Verbotskontext erkennbar. Als Schlüssel zu den einzelnen Verfahren dient das Systematische Repertorium, das von Jan Dirk Busemann und Sabine Schratz (»Examinata fuerunt opera sequentia …«, 93–114) vorgestellt wird. Konnten für die Indexkongregation die einzelnen Sitzungen zu Grunde gelegt werden, so folgt das Repertorium für die Inquisition dem Aufbau der Buchzensurserie aus deren Archiv. Das dritte Teilprojekt, die von Herman H. Schwedt begonnene Prosopographie beider Kongregationen, ermöglicht über die Identifizierung der beteiligten Referenten und Gutachter hinaus Einblicke in die Arbeitsverteilung und Funktionsweise der Kongregationen, ihre spezifischen Rekrutierungs- und Karrieremuster sowie ihre personellen Interdependenzen (H. Schwedt, »Zur Prosopographie«, 129–137; Tobias Lagatz, »Die Prosopographie von römischer Inquisition und Indexkongregation«, 139–151).
Eine Einführung in die Behörden- und Archivgeschichte der beiden Kongregationen gibt Francesco Beretta (»Die frühneuzeitlichen Bestände des Archivs der Glaubenskongregation«, 181–208). Marco Pizzo (»La Stanza Storica dell’Archivio des Sant’Uffizio«, 209–218) und Alejandro Cifres (»Il Progetto di Censimento degli Archivi in quisitoriali in Italia«, 219–227) berichten über die laufenden, von der Glaubenskongregation und dem italienischen Kulturministerium finanzierten Arbeiten zur Erschließung und elektronischen Inventarisierung der neu zugänglichen Archivalien. Wertvolles Quellenmaterial enthält auch die casanatensische Dominikaner­bibliothek (Margherita Palumbo, »Inquisition und Indexkongregation in der Sammlung ›Editti e Bandi‹ der Biblioteca Casanatense«, 229–244). Über das seit 1996 laufende, von der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften und der Glaubenskongregation betriebene Projekt einer Quellenedition zum Verhältnis von katholischer Kirche und moderner Wissenschaft berichten Ugo Baldini und Leen Spruit (»Catholic Church and Modern Science«, 391–425).
Überblicke über Grundsätze und Praxis kirchlicher Buchzensur seit 1478 geben die Beiträge von Mariano Delgado zu Spanien (»›Am besten mit allen zum Fenster hinaus in den Hof‹?«, 245–273), von Claus Arnold über »Die Indexkongregation in der Frühphase ihres Bestehens – Das Beispiel der Cajetan-Expurgation« (275–297) und von Bernward Schmidt über die Konstitution »Sollicita ac provida vigilantia« Benedikts XIV. von 1753 (345–360) – ein überschätztes Do­kument, das, abgesehen von der Einführung eines Vorverfahrens, im Wesentlichen nur den schon praktizierten Usus festschrieb.
Zahlreiche exemplarische Fallstudien, die teils noch vor der Öffnung der Archive begonnen, teils schon mit Hilfe der neu erarbeiteten Findmittel und Instrumente durchgeführt wurden, de­monstrieren Möglichkeiten – und Grenzen – der Forschung zur kirchlichen Medienkontrolle. Genannt seien nur die Aufsätze von Johan Ickx über die drei Löwener Zensurfälle von 1843 (159–177), von Dominik Burkard über die »Causa Isenbiehl« (299–316), von Luciano Malusa über die Prozesse gegen die Philosophen Antonio Rosmini und Vincenzo Gioberti (317–343) und von Maria Pia Lorenz-Filograno über die Verurteilung der Werke des Kriminologen und Sozialisten Enrico Ferri (361–389).
Der Sammelband demonstriert eindrücklich die Erschließungsleistung der bisher vorliegenden Arbeitsinstrumente des Müns­teraner Forschungsprojekts. Man darf auf die Folgebände für die Frühe Neuzeit und auf viele weitere Einzelstudien gespannt sein.