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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1077–1079

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Teubner, Martin

Titel/Untertitel:

Historismus und Kirchengeschichtsschreibung. Leben und Werk Albert Haucks (1845–1918) bis zu seinem Wechsel nach Leipzig 1889.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 426 S. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 94. Geb. EUR 79,90. ISBN 978-3-525-55205-6.

Rezensent:

Matthias A. Deuschle

Der Titel des Buches ist hoch gegriffen. Nimmt man den Begriff ›Historismus‹ in seiner nicht wertenden, neutralen Bedeutung, dann bezeichnet er in der Regel jene Ausprägung historischen Denkens, welche sich im 19. Jh. im Rahmen der Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft entwickelt hat. Auftretend mit dem Pathos empirischer Forschung und dem Anspruch, Deutungskompetenz für alle Bereiche menschlichen Lebens zu besitzen, hat der Historismus seine Gestalt nicht zuletzt in Emanzipation von phi­losophischer und theologischer Geschichtsschau angenommen; daher erscheint es als ein lohnendes Unterfangen, die sich als theologische Disziplin verstehende Kirchengeschichtsschreibung zu jener Art historischen Denkens ins Verhältnis zu setzen. Martin Teubner wählt für den Titel seiner in Leipzig begonnenen und in Göttingen abgeschlossenen Dissertation also eine weite Perspektive, behandelt jedoch nur einen Protagonisten. Man tut daher gut daran, die Studie zunächst an ihrem Untertitel zu messen: Leben und Werk Albert Haucks werden in neun Kapiteln (Kapitel 2–10) biographisch und werkgeschichtlich erschlossen. Zuvor wird in das Thema eingeführt, am Ende der Ertrag resümiert (Kapitel 1 und 11). T. ist nicht der Erste, der Haucks Werk wissenschaftlich untersucht (vgl. den Forschungsüberblick, 39–57). Im Unterschied zu seinen Vorgängern legt T. jedoch besonderes Augenmerk auf die Genese von Haucks historiographischem Konzept. Darum lässt er die Darstellung mit Haucks Übersiedlung von Erlangen nach Leipzig 1889 enden; mit dem Erscheinen des ersten Bandes seines viel beachteten und bis heute gerne gelesenen Hauptwerkes »Kirchengeschichte Deutschlands« sei die Entwicklung von Haucks Konzeption abgeschlossen (15) – eine vertretbare, wenn auch unbelegte und daher nicht völlig überzeugende These. Bewusst wird dadurch auch die sog. Krise des Historismus im Wesentlichen ausgeblendet (15).
Die Darstellung folgt Haucks Lebensstationen: Die Kindheit und Jugend in Franken (Kapitel 2) sowie das Theologiestudium in Erlangen und Berlin (Kapitel 3) werden als »Prozess der Selbstfindung« (65) verstanden; darauf folgt die als Phase der »Selbstdeutung« (65) bezeichnete praktische Tätigkeit im Dienst der Kirche (Kapitel 4 und 5) und der Universität (Kapitel 7 und 10). Die dazwischengeschalteten Kapitel zu Haucks Erstlingswerk »Tertullian’s Leben und Schriften« (Kapitel 6), zu den kirchengeschichtlichen Forschungen in seiner Erlanger Zeit (Kapitel 8) und zum ersten Band der »Kirchengeschichte Deutschlands« (Kapitel 9) beleuchten unter dem Stichwort »Selbstdarstellung« (65) Entstehung und Eigenart seines frühen Werkes. So lernt man Hauck als einen aus erwecktem Milieu stammenden Lutheraner Erlanger Prägung kennen, der durch von Hofmann, Thomasius u. a. bleibende Einflüsse empfangen hat. Man begegnet ihm als engagiertem Vikar und Landpfarrer, der eine Art Erwachsenenbildung ins Leben ruft (14 2f.) und sich schließlich, »durch die Routine des Pfarramtes ermüdet« (159), die Aufgabe stellt, eine patristische Monographie zu verfassen. Man erfährt, wie Hauck zunächst beteuert, keine Lust zu haben, »mein ganze Leben lang wiederzukauen, was andere Leute vor mir Kluges u[nd] Unkluges, Abstraktes und Konkretes gedacht haben u[nd] was sie Knappes u[nd] Breites geschrieben haben« (122), sich dann aber doch 1878 auf eine außerordentliche Professur in Erlangen berufen lässt (159). Die davor stattfindende Hochzeit verschwindet allerdings in einer Fußnote (159, Anm. 63). Schließlich wird Hauck als Universitätslehrer und (Mit-)Herausgeber der RE 2 vor Augen geführt.
T. zeichnet Haucks Werdegang zum einen anhand zahlreicher archivalischer Quellen, allen voran von Haucks Briefwechsel mit seiner Mutter und den Akten der zuständigen Institutionen nach. Hierfür hat er eine Menge Material zusammengetragen (vgl. nur das Quellenverzeichnis, 371–379); das ermöglicht eine anschauliche Darstellung und stellt die Forschungen zu Hauck auf ein solides Fundament. Zum anderen bemüht sich T., Hauck – in gut historisierender Manier – im größeren Kontext seiner Zeit zu verstehen. Die hierfür vorgenommenen Kontextualisierungen bleiben aber zumeist sehr abstrakt und unscharf. In geringerem Maß gilt dies für die Schilderungen des politischen und gesellschaftlichen Um­feldes (89–95.197–200; vgl. dazu Haucks Zeitdeutungen, 108–113). Wirklich problematisch sind hingegen die Passagen, in denen Hauck in den theologie- und historiographiegeschichtlichen Kontext eingezeichnet wird. Hier werden verwirrend viele Ab­hän­gigkeiten postuliert. Die in Anspruch genommenen Ahnherren für Haucks Position – von Schleiermacher, Humboldt und Neander bis hin zu Droysen, Rothe, von Hofmann u. a. ist eine Vielzahl von Größen des 19. Jh.s vertreten (vgl. nur als Beispiele S. 274–282 und 337–342) – werden dabei so knapp und grob charakterisiert, dass die behaupteten Bezüge nur selten überzeugen. Es stellt sich hier ein methodisches Problem: Einflüsse sind nur dann plausibel nachgewiesen, wenn sie sich an spezifischen Merkmalen, literarischen Bezügen oder biographischen Begegnungen festmachen lassen. Da im 19. Jh. bestimmte Begriffe und Vorstellungen (wie ›Entwick­lung‹, ›Organismus‹, ›Idee‹, ›Kultur‹ und vieles mehr) durch die verschiedensten Konzeptionen geistern und sich viele Positionen nur mit Mühe trennscharf voneinander abheben lassen, ist hier größte Vorsicht geboten.
Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Üblicherweise wird Hauck als unter dem Einfluss Rankes stehend betrachtet (vgl. 42.44 f.47), bei ihm studierte er in Berlin (116), über ihn äußerte er sich mit Hochachtung, wie er übrigens auch den Berliner Kirchenhistoriker Neander für den bedeutendsten Vertreter seiner Zunft im 19. Jh. hielt (vgl. 219). T. bestreitet das nicht, doch macht er in stärkerem Maße den Einfluss Droysens geltend (177.181.195 u. ö.; vgl. 34 f.). Dies belegt er durch zahlreiche Zitate aus Droysens Historikvorlesungen in den Fußnoten. Abgesehen davon, dass dieses Verfahren schon allein deshalb problematisch ist, weil dem Leser auf diese Weise Droysens Konzeption nicht in sich erschlossen wird, wird dabei nicht beachtet, dass Droysens Vorlesungen erst im 20. Jh. und dann in ihrer letzten Gestalt (von 1881) veröffentlich wurden. Hauck hätte also, wenn überhaupt, auf den gedruckten, sehr kurzen und ohne die Vorlesung schwer verständlichen »Grundriß der Historik« zurück­greifen müssen. Das wird aber an keiner Stelle gezeigt; bei Droysen studiert hat Hauck offensichtlich auch nicht. So stellt sich die Frage, ob beispielsweise das, was T. als »psychologische Interpretation« auf Droysen zurückführt (181–191), sich nicht vielmehr Einflüssen von Neander verdankt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Einleitung, welche den Leser mit dem Historismus vertraut machen soll (17–39), aus einer kaleidoskopartigen Zusammenschau verschiedener Historismusbeschreibungen aus dem 20. Jh. besteht. Es fehlt daher im Grunde das Raster, innerhalb dessen Hauck positioniert werden soll.
Die im Titel der Arbeit geweckten Erwartungen werden somit nicht erfüllt. Man kann sich hierfür noch am ehesten an jene Ab­schnitte halten, in denen Haucks eigenes Konzept z. B. anhand seiner Vorlesungen nachgezeichnet wird (vgl. 215–220); daneben ist Haucks Artikel »Kirchengeschichte« in der RE2, auf den verschiedentlich zurückgegriffen wird (vgl. 15 f.; 268–282 leider von der Fülle anderer Positionen erdrückt), sehr erhellend. Die dort gebotenen Hinweise – das Nebeneinander von Welt- und Kirchengeschichte, der Stellenwert der die Epochen prägenden Ideen, die Frage nach dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Wirken in der Geschichte u. a. – werden jedoch nicht befriedigend vertieft.
Gewinnbringend sind indes jene Kapitel, die sich ganz konkret mit Haucks äußerem Werdegang beschäftigen. Die Stärke der Arbeit liegt also nicht in der Beleuchtung und Evaluierung von Theoriekonzepten, sondern im Bereich biographischer und werkgeschichtlicher Darstellung. T.s Verdienst ist, hierfür eine Vielzahl von Quellen erschlossen und gleichzeitig an einen Kirchengeschichtler erinnert zu haben, der das öffentliche Interesse zwar nicht in einem Maße wie sein Zeitgenosse Adolf von Harnack auf sich zog, der aber durch seine solide, unspektakuläre Arbeit an den Quellen bis heute zu überzeugen vermag. Nicht zuletzt daran sollte man sich bei der Beschäftigung mit Hauck ein Beispiel nehmen.