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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

209–212

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Mau, Rudolf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere Theologische Erklärungen. Teilband 1 u. 2. Im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche der Union.

Verlag:

Bielefeld: Luther 1997. 355 S. u. 358 S. gr.8. Lw. je DM 58,-. ISBN 3-7858-0386-9 u. 3-7858-0397-4.

Rezensent:

Gunther Wenz

Um möglichen Fehlerwartungen und etwaigen Mißverständnissen zu begegnen, hat der Herausgeber auf erfolgte Nachfragen hin in einem Nachwort, das vorweg zitiert werden soll, zum Charakter und zur Zielsetzung vorliegender Edition folgendes geäußert: Sie "beansprucht nicht, mit den bisher maßgeblichen wissenschaftlichen Ausgaben der lutherischen und der reformierten Bekenntnisschriften, in denen die ursprüngliche Textgestalt dokumentiert und erläutert wird, in Konkurrenz zu treten oder diese zu verdrängen. Sie will vielmehr die im Bereich der Evangelischen Kirche der Union und darüber hinaus geltenden Bekenntnisse und Theologischen Erklärungen einem möglichst weiten Leserkreis ’in einer heute verständlichen Sprache zugänglich machen’ (Geleitwort des Ratsvorsitzenden der EKU). Das war die Zielstellung, unter der die lateinischen bzw. französischen Texte des 16. Jh.s übersetzt und die deutschen Texte mit ihrer von Fall zu Fall recht unterschiedlichen sprachlichen Eigenart behutsam modernisiert wurden" (Bd. 2, 357).

Bevor auf systematische Implikationen dieser Zielsetzung und auf den mit der Gesamtkonzeption verbundenen Geltungsanspruch Bezug genommen werden soll, seien zunächst die in der Sammlung vereinten Bekenntnisschriften in der Reihenfolge benannt, in der sie - jeweils mit einer kurzen Einleitung versehen - dargeboten werden. Der erste Teilband enthält neben den altkirchlichen Symbolen, nämlich dem apostolischen und nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis sowie dem sogenannten Athanasianum (Gerhard Ruhbach) das Augsburger Bekenntnis (Rudolf Mau), dessen (nach Maßgabe seiner lateinischen Version wiedergegebenen) Fassung von 1530/31 die "veränderte" von 1540 synoptisch beigeordnet wird. Die lateinische "Variata" war nicht nur Grundlage für damalige Religionsgespräche zwischen Protestanten und Katholiken im Reich, sondern auch Basistext für die reichsrechtliche Anerkennung der "Augsburger Konfessionsverwandten" durch den Religionsfrieden von 1555. Durch parallele Dokumentation beider Texte soll sichtbar werden, "was von der ursprünglichen Fassung auch in der späteren beibehalten, was verändert wurde und wo eine völlige Neubearbeitung ganzer Artikel erfolgte. Von daher fällt", wie es ferner heißt, "auch ein Licht auf das Verständnis des ursprünglichen Textes seitens des Vf.s selbst aus einer zeitlichen Distanz - in bleibender aktueller Bekenntnissituation" (Bd. 1, 28). In Erinnerung gebracht werden soll überdies, daß die "Variata" einst jene Augustana-Interpretation darstellte, welche im 16. Jh. die Gesamtheit protestantischer Landeskirchen geraume Zeit miteinander verband.

Die deutsche Übersetzung der Apologie der Confessio Augustana (Christian Peters) schließt analog zur Reihung der Bekenntnistexte im Konkordienbuch an. Die Textgrundlage bietet allerdings nicht die in den "Bekenntnisschriften der evangelisch- lutherischen Kirche" wiedergegebene Quartausgabe der Apologie, sondern der gründlich überarbeitete Oktavtext vom September 1531, dessen Bedeutung als ursprünglich autorisierte Apologiefassung lange Zeit in Vergessenheit geraten war. Es handelt sich dabei "um einen insgesamt kürzeren und klarer strukturierten Text als die erst seit 1584 in Geltung gekommene und seither stets weiter überlieferte Erstfassung der Apologie, die Melanchthon selbst sofort nach ihrer unter Zeitdruck erfolgten Veröffentlichung durch eine gründliche Überarbeitung besonders wichtiger Textabschnitte ersetzt hatte. Dieser erst jüngst durch Forschungen des Bearbeiters klar erwiesene Sachverhalt bot", wie im Vorwort des Hg.s zu lesen ist, "den Anlaß, den aus geschichtlichen und ebenso aus inhaltlichen Gründen zu bevorzugenden Text in unserer Ausgabe wieder bekannt zu machen" (Bd. 1, 10; vgl. Chr. Peters, Apologia Confessionis Augustanae. Untersuchungen zur Textgeschichte einer lutherischen Bekenntnisschrift [1530-1584], Stuttgart 1997). Die Übertragung der Schmalkaldischen Artikel (Helmar Junghans), die auf der Basis von Luthers 1538 veröffentlichtem Text erfolgt, sowie die dem lateinischen Originaltext entsprechende "Abhandlung über die Amtsgewalt und den Vorrang des Papstes" (Heinz Scheible), die besser "Abhandlung über die Amtsgewalt des Papstes und der Bischöfe" genannt werden sollte (vgl. Bd. 2, 358), vervollständigen den ersten Teilband, der zugleich als ein Beitrag zum 500. Geburtstag Philipp Melanchthons verstanden sein will.

Der zweite Teilband beginnt mit Luthers Kleinem und Grossem Katechismus von 1529 (Henning Schroer) und dem Heidelberger Katechismus von 1563 (J. F. Gerhard Goeters), der - ursprünglich im wesentlichen von Zacharias Ursinus als Katechismus der reformierten Landeskirche der Kurpfalz konzipiert - im Deutschland des 18. und besonders des 19. Jh.s "das reformierte Bekenntnisbuch schlechthin" (Bd. 2, 136) wurde. Es verdient bemerkt zu werden, daß die ökumenischen Erklärungen, welche das Moderamen des Reformierten Bundes zur Verwerfung der Messe als verfluchter Abgötterei (Frage 80) abgegeben haben, anmerkungsweise erwähnt werden. Mindestens ebenso bemerkenswert ist indes die Tatsache, daß in der Ausgabe Bekenntnisse der lutherischen und der reformierten Tradition nicht mehr - wie bisher - getrennt, sondern gemeinsam vorgelegt werden, so daß nun nicht nur die erwähnten Katechismen nebeneinander zu stehen kommen, sondern auch die drei nachfolgenden Texte, nämlich das entscheidend von Calvin geprägte Bekenntnis des Glaubens (Confession de foi [Goeters]) der reformierten Kirche von Frankreich, das weit über die französischen Protestantengemeinden hinaus einflußreich wurde, die von der Nationalsynode von Paris 1559 beschlossene kirchliche Ordnung (Discipline ecclésiastique [Goeters]) sowie die bündige Zusammenfassung strittiger Artikel genannte Epitome (Irene Dingel) der Konkordienformel von 1577. Die Brisanz der gemeinsamen Vorlage dieser Texte wird spätestens dann deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß die Formula Concordiae das charakteristische Dokument der - auf Abgrenzung zu Genf nicht minder entschieden als auf Abgrenzung zu Rom bedachten - Konfessionalisierung der Wittenberger Reformation darstellt.

Zwar ist es wahr, daß die Autoren der Konkordienformel "ihr Werk nicht als ein neues Bekenntnis verstanden wissen woll(t)en, sondern als eine erläuternde und klärende Wiederholung der Confessio Augustana von 1530 zur endgültigen Beilegung der vorangegangenen Streitigkeiten" (Bd. 2, 209). Aber das ändert nichts an der historischen Tatsache, daß die Formula concordiae ihr Einigungskonzept nicht nur durch Ausgrenzung tatsächlicher oder vermeintlicher römisch-katholischer, sondern auch durch entschiedene Ausgrenzung calvinistischer oder kryptocalvinistischer Tendenzen bestimmt sein ließ. Hinzuzufügen ist, daß auch die reformierte Bekenntnistradition der zweiten Hälfte des 16. Jh.s durch einen Konfessionalisierungstrend bestimmt wurde, der nach Maßgabe gegenwärtiger Frühneuzeithistoriographie demjenigen des Luthertums sowie des tridentinischen Katechismus weithin funktionsanalog war. Es ist also in der Tat ein mehr als bemerkenswerter Sachverhalt, daß heute Bekenntnistexte aus der Reformation hervorgegangener Konfessionen, die sich einst gegenseitig verwarfen, miteinander in einer gemeinsamen Bekenntnistextsammlung vorgelegt werden können.

Ermöglicht wurde das u. a. durch die Barmer Theologische Erklärung (Wilhelm Hüffmeier) und namentlich durch die Leuenberger Konkordie (Wilhelm Hüffmeier), welche beiden Texte den zweiten Teilband und dementsprechend das Gesamtwerk beschließen. Der Herausgeber hat dazu in seinem Vorwort folgendes vermerkt: "Außer den Bekenntnisschriften des 16. Jh.s und den vorangestellten altkirchlichen Bekenntnissen, die vor allem den ökumenischen Konsens des trinitarischen Glaubens bekunden, bringt unsere Ausgabe auch die wichtigsten kirchlichen Entscheidungen zu den Bekenntnisfragen des 20. Jh.s, auf die sich die Grundordnungen mehrerer Gliedkirchen der EKU gleichfalls beziehen: Die ’Theologische Erklärung’ der Barmer Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche von 1934, mit der lutherische, reformierte und unierte Kirchen in der Abwehr deutsch-christlicher Irrlehren den Glauben im Sinne der Reformation bezeugten, und die ’Leuenberger Konkordie’ von 1973, als Dokument der erklärten, theologisch begründeten Gemeinschaft von Kirchen der beiden reformatorischen Traditionen" (Bd. 1, 11).

Zu ergänzen ist, daß die Barmer Theologische Erklärung zusammen mit dem Einbringungsreferat von Hans Assmussen abgedruckt ist. Was hinwiederum die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa betrifft, so wird mit Recht gesagt: "Zwar hat es schon im 19. und 20. Jahrhundert Kirchengemeinschaften und -vereinigungen verschiedener Art zwischen reformierten und lutherischen Kirchen gegeben, nämlich in der Form von administrativen und Konsens-Union; im deutschen Kirchenkampf fanden in der Barmer Theologischen Erklärung überdies beide Bekenntnisse zu einer Bekenntnisgemeinschaft zusammen. Zu einer europaweiten Überwindung der lutherisch-reformierten Lehrunterschiede im Verständnis des Abendmahls, der Christologie sowie der Prädestination und einer positiven Neubestimmung des Verhältnisses dieser Konfessionen zueinander hat erst die Leuenberger Konkordie geführt. Sie ist deshalb eine der wichtigsten Grundlagen für das Miteinander der reformatorischen Kirchen in Europa und darüber hinaus" (Bd. 2, 283).

Des weiteren wird betont, daß der durch die Leuenberger Konkordie eingeleitete Prozeß "sowohl auf lokaler wie auf regionaler und europäischer Ebene erst teilweise realisiert worden" (Bd. 2, 285) ist. In Zukunft wird daher einerseits auf die Vertiefung der bereits erreichten Leuenberger Kirchengemeinschaft, andererseits aber zugleich auf deren ökumenische Öffnung als der Bedingung weitergehender kirchlicher Integration zu achten sein. Um solche Aufgeschlossenheit für andere ohne Gefahr des Selbstverlustes realisieren zu können, ist die Einsicht in hohem Maße bedeutsam, daß protestantische Identität ohne Bewußtsein eigener Differenziertheit nicht zu haben ist. Zu dieser Einsicht kann vorliegende Sammlung einen entscheidenden Beitrag leisten: Denn aus ihr geht hervor, daß jene protestantische Identität, wie sie durch die vereinten Bekenntnistexte dokumentiert werden soll, gerade kein einfachhin gegebenes und uranfänglich evidentes Datum ist, welches in der Logizität der Substanzkategorie erfaßt und mit Kategorien des Habens und Besitzens verwaltet werden könnte, sondern eine vermittelte und reflexive Größe, zu deren interner Komplexität das Bewußtsein gehört, daß von Einheit des Protestantismus sinnvollerweise nicht die Rede sein kann ohne Erinnerung der binnenreformatorischen Differenzen und Gegensätze, die spätestens in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s manifest wurden.

Kurzum: Protestantische Identität läßt sich ohne reflektiertes Bewußtsein eigener Differenziertheit, wie es nachgerade durch die Kenntnis der reformatorischen Bekenntnistraditionen vermittelt wird, aktuell nicht erlangen. Gelangt der Protestantismus indes zu einem entwickelten Bewußtsein seiner selbst, dann ermöglicht ihm ebendies eine Identität, welche zum produktiven Umgang mit Differenzen bereit und in der Lage ist. Während ein seiner differenzierten Herkunftsgeschichte uneingedenker Protestantismus geneigt sein wird, geschichtliche Selbstvergessenheit dadurch zu kompensieren, daß er sein gegenwärtiges Wesen primär durch äußere Gegensätze zu bestimmen sucht, um auf diese Weise interne Unterschiede um so besser nivellieren zu können, wird ein seiner Genese und damit recht eigentlich seiner selbst bewußter Protestantismus seine Identität gerade im Vollzug von Selbstunterscheidungsleistungen und im differenzierten Umgang mit Differenzen zu realisieren bestrebt sein. Der Begriff der "Union", wie er für das Selbstverständnis der Kirche, im Auftrag von deren Rat die zweibändige Bekenntnissammlung vorgelegt wurde, ekklesiologisch kennzeichnend ist, wäre unter den Bedingungen einer solchermaßen in sich differenzierten protestantischen Identität als Kürzel einer - auf ökumenische Universalität und in diesem Sinne auf Katholizität hin angelegten - Einheit zu lesen, in der die Verschiedenen als Verschiedene eins sein können, weil Verschiedenheit, ohne aufzuhören, ihren trennenden Charakter verloren hat.