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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1075–1077

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Köster, Norbert

Titel/Untertitel:

Der Fall Hirscher. Ein »Spätaufklärer« im Konflikt mit Rom?

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2007. 467 S. gr.8° = Römische Inquisition und Indexkongregation, 8. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-506-75732-6.

Rezensent:

Christopher Spehr

Ein zweifelhaftes, aber durchaus probates Mittel römisch-katholischer Kirchenpolitik der Neuzeit bildete die Denunziation. Sobald der römischen Kurie ein Anfangsverdacht auf eine theologisch-»unorthodoxe« Position vorlag, befasste sich der kuriale Apparat mit der Angelegenheit. In der Regel wurde der Fall an eine päpstliche Kommission überwiesen, dort begutachtet, beurteilt und gegen die inkriminierte Person je nach Bewertung vorgegangen. Obgleich dieses aus den unterschiedlichsten Motiven initiierte Verfahren in der Forschung allgemein bekannt war, konnten erst seit der Öffnung des Archivs der Glaubenskongregation im Jahr 1998 vertiefende Erkenntnisse über die Tätigkeit der römischen Inquisition und Indexkongregation gewonnen, spektakuläre Zusammenhänge aufgedeckt und Denunzianten enttarnt werden.
In welcher Weise die katholische Theologie in der ersten Hälfte des 19. Jh.s durch Denunziationen, Bücherindizierungen und ge­heime wie publizistische Stimmungsmache beeinflusst wurde, veranschaulicht in vorbildlicher Weise die kirchengeschichtliche Studie von Norbert Köster über den Theologen Johann Baptist Hirscher (1788–1865). Hirscher, 1817 auf den Lehrstuhl für Moral- und Pastoraltheologie an die neu gegründete Katholisch-theologische Fakultät Tübingen und 1837 an die Universität Freiburg berufen, zählt zu den bekanntesten und umstrittensten katholischen Theologen Deutschlands in der ersten Hälfte des 19. Jh.s. Zeitlebens stand der reformorientierte Professor unter dem Verdikt, »heterodox« zu sein, welches durch die Indizierung zweier Schriften – die »Missae Genuinam« (1821) sowie »Die kirchlichen Zustände der Ge­genwart« (1849) – anschaulich wurde.
Bei diesen Indizierungsverfahren setzt die von Hubert Wolf betreute Münsteraner Dissertation an. Auf Grund der Durchsicht der Archivbestände der Indexkongregation, Inquisition, des Staatssekretariats und der »Kongregation für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten« kommt K. zu dem überraschenden Ergebnis, dass neben den zwei bekannten sechs weitere Verfahren gegen Hirschers Werke u. a. gegen den in der Diözese Freiburg offiziell eingeführten »Katechismus« (1842) in Rom anhängig waren. Sie endeten mit der Genehmigung der Bücher. Diese in der Forschung bisher unbekannten kurialen Verfahren werden chronologisch in die Untersuchung mit einbezogen und – wie die teilweise lebhafte öffentliche Diskussion über die zwei Indizierungsprozesse – minutiös nachgezeichnet.
Bevor K. sich den denunzierten Schriften in einem Dreischritt aus kontextueller Einordnung (A), Analyse der Schrift und ihrer Rezeption mittels Rezensionen (B) und kurialem Verfahren (C) zu­wendet, problematisiert er einleitend die historischen Forschungsbeiträge, die Hirscher als »Bischofskandidat«, »Liturgiereformer«, »Kunstsammler«, »indizierten Autor« oder »politischen Schriftsteller« thematisieren und ihn nicht selten als »Spätaufklärer« charakterisieren. Mit dieser Beobachtung verknüpft er die theologiegeschichtlich relevante Fragestellung, inwiefern Hirscher der katholischen Spätaufklärung zuzuordnen ist. Zur Näherbestimmung der bereits im Untertitel der Studie anklingenden und somit zur Leitfrage avancierenden Problematik wendet sich K. den systematischen Forschungsbeiträgen über Hirschers Moraltheologie zu. Die dort erhobenen differenten Deutungsmodelle wie z. B. »Personalismus« (Eusebius Scharl), »Theozentrik« (Adolf Exeler), »anthropozentrischer Psychologismus« (Josef Georg Ziegler) oder »Wahrheit im Interesse der Freiheit« (Walter Fürst), die K. in der begrifflichen Unschärfe von Hirschers Theologie selbst angelegt sieht, interpretieren den Priester auf dem Hintergrund von Idealismus, Romantik oder Erweckungsbewegung. Weil in Hirschers dreibändigem Werk »Die christliche Moral« (1835/36 u. ö.) Grundzüge der Romantik aufscheinen, während seine Reformschriften eine Nähe zur Spätaufklärung nahelegen, ist für K. eine schematische Zuordnung zur katholischen Spätaufklärung zu Recht unhaltbar. Vielmehr sucht K. in seiner Studie, Hirscher zwischen Spätaufklärung und Romantik zu verorten, wofür er zwar Kriterien der katholischen Aufklärung benennt (52 f.), hinsichtlich der Einflüsse der Romantik (82 f.) und Erweckungsbewegung aber über Andeutungen (389) nicht hinauskommt.
In den einzelnen Kapiteln analysiert K. zuerst die Reformschrift »Missae Genuinam« und ihr Indizierungsverfahren (II) und untersucht sodann die bahnbrechende »Katechetik« (1831) und die Diskussion um die Einführung des »Katechismus« (1842–1845) im Erzbistum Freiburg (III). Im umfangreichsten Kapitel (IV) wendet sich K. der Rolle Hirschers in der durch die 1848/49er Revolution im Großherzogtum Baden entstandene politisch bewegten und kirchlich brisanten Situation zu, auf deren Hintergrund er die 1849 in­dizierte Reformschrift »Die kirchlichen Zustände« liest. Dass und wie Hirscher im Januar 1850 zur Unterzeichnung der päpstlichen Unterwerfungserklärung gedrängt wurde, skizziert K. ebenfalls quellengesättigt. Während für die Kurie mit der Unterwerfungs­geste der »Fall Hirscher« erledigt war, mussten auf Grund anhaltender Denunziationen u. a. durch den Jesuiten und Neuscholas­tiker Joseph Kleutgen weitere Verfahren gegen Hirscher verfolgt werden, die aber für den Denunzierten nach seiner »Rechtgläubigkeitserklärung« keine Konsequenzen mehr hatten (V–VII).
Aus den zum Teil hochinteressanten Abschnitten sei hier lediglich auf Kapitel II hingewiesen. Erhellend ist die Rekonstruktion der Tübinger Antrittsvorlesung von 1817, in welcher der junge Hirscher das Miteinander der protestantischen und katholischen Fakultät als Weg zum Frieden zwischen den Konfessionen interpretierte (57–61). Auch wenn die ökumenisch ausgerichteten Überlegungen, die im irenischen Geist der katholischen Aufklärung wurzelten, unverkennbar dem Ziel dienten, die erzwungene Integration der katholischen Fakultät in das protestantisch geprägte Tübingen zu erleichtern, verfolgte Hirscher zeitlebens eine gewisse Sympathie für protestantische Ideen, die ihm nicht selten den Verdacht der Heterodoxie einhandelte. Diese Ideen ventilierte er z. B. wenige Jahre später in der Reformschrift »Missae Genuinam«, in der er nicht nur die Beteiligung der Gläubigen z. B. durch die Feier der Liturgie in der Muttersprache oder die Kommunion unter beiderlei Gestalt forderte, sondern auch hoffte, die von ihm vorgeschlagene Abendmahlsfeier für Protestanten akzeptabel zu ma­chen (69 f.). Obwohl die Vorschläge wie eine Fortsetzung aufklärerischer Liturgiereformen anmuten, kommt K. auf Grund Hirschers Eucharistietheologie zu dem Ergebnis, dass die Eucharistiefeier »ein Akt der Realwerdung des Reiches Gottes« in »mystischer Vereinigung« sei (80) und sowohl gegenüber der traditionell römischen Messopferlehre wie gegenüber aufklärerischer Pädagogisierung einen Neuansatz darstelle. Inwiefern dieser von protestantischer Seite schwerlich zu akzeptierende Ansatz innerhalb der evangelischen Theologie überhaupt wahrgenommen wurde, wird von K., der methodisch begründet nur die Rezensionen der katholisch-theologischen Zeitschriften auswertet, offen gelassen.
Insgesamt kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass Hirscher seit den 1830er Jahren weder in Deutschland noch in Rom als Vertreter der Aufklärung wahrgenommen wurde. Für K. bleibt Hirschers Theologie »im 19. Jahrhundert ohne Parallele« und sprengt die historischen Kategorisierungen wie »ultramontan« oder »liberal«, so dass der Freiburger Professor in der »konfessionellen und politischen Gemengelage Badens« eine wichtige Brückenfunktion einnimmt (389). Mit der aufgeworfenen, aber bewusst nicht beantworteten Frage, warum Hirscher in der kirchengeschichtlichen Forschung dennoch zum Spätaufklärer avancierte, lässt K. am Schluss seine Leser etwas ratlos zurück (390). Diese immerhin zum Nachdenken anregende Irritation hätte durch wenige orientierende Hinweise auf die Begriffsgeschichte der katholischen Aufklärungsforschung vermieden werden können. Dennoch bildet die Gesamtarbeit eine die Hirscherforschung innovativ bereichernde und das katholische Denunziationswesen des 19. Jh.s erhellende Studie, welche durch die angehängte Dokumentation der kurialen Gutachten aus dem Vatikanischen Geheimarchiv wohltuend abgerundet wird.