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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1071–1072

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Juterczenka, Sünne

Titel/Untertitel:

Über Gott und die Welt. Endzeitvisionen, Reformdebatten und die europäische Quäkermission in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 367 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte, 143. Geb. EUR 58,90. ISBN 978-3-525-35458-2.

Rezensent:

Volker Leppin

Die Geschichte einer religiösen Bewegung jenseits der Großkirchen nicht als Marginalgeschichte zu erzählen, sondern als Teil einer europäischen Kommunikationsgeschichte – so etwa könnte man wohl das überzeugend vertretene Anliegen dieser Göttinger Dissertation beschreiben.
Die Arbeit ist nach der Einleitung in drei große Teile gegliedert, die Mission, Vernetzung und theologische Debatten der Quäker behandeln. Das Kapitel über die Mission widmet sich der ersten Phase der Quäkermission, die mit der ersten Missionsreise 1654 einsetzte und nach der Datierung von J. bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jh.s reichte. Für die theologische und spirituelle Motivation der Reisen muss J. dabei freilich zum Teil auf spätere Schriften zurückgreifen, da eine Sammlung und Publizierung der quäke­rischen Grundsätze erst in den letzten beiden Dritteln des 18. Jh.s erfolgte (41). Da man dies jedoch mit einzelnen früheren Zeugnissen verbinden kann, entsteht ein nachvollziehbares Gesamtbild, in dem insbesondere das apostolische Selbstverständnis der Missionare erkennbar wird. Dies betrifft wohl auch das von J. ausführlich behandelte Konzept der »Sufferings«, der Verfolgung, der die Missionare ausgesetzt waren. Bemerkenswert ist der weite Umfang der Missionstätigkeit – bis hin zum Mittelmeer –, wobei allerdings auffallend ist, dass katholische Territorien in der Regel gemieden wurden. Die Begründungen, die J. hierfür gibt – Besorgnis um Verfolgungen »und damit auch« die »geringeren Aussichten auf Missionserfolge« (75) –, laden jedoch zu der Frage ein, ob solche Deu­tungsmuster nicht, entgegen den eigenen Versuchen, theologischen und spirituellen Voraussetzungen gerecht zu werden, eine Verkürzung darstellen. Wenn die Verfolgungen als »Zeichen, Prüfung oder Bestärkung der Rechtgläubigkeit« (54) eigene spirituelle Dignität gewinnen können, ist es wenigstens problematisch, die Scheu davor als handlungsmotivierend anzusetzen. Hier wäre wohl stärker nach den positiven Zielen der Mission zu fragen. In äußerer Hinsicht ist der Unterschied zwischen der geographischen Weiträumigkeit der Mission und der begrenzten Entstehung dauerhafter Gemeinden vor allem im niederländischen und deutschen Raum (s. Karte, 77) bemerkenswert – die hier erfolgenden Gemeindegründungen werden detailliert nachgezeichnet.
Der interessanteste Teil der Studie ist der Abschnitt über die Vernetzung. J. nimmt die in den Kulturwissenschaften beliebte Netzwerkanalyse auf und zeichnet eine vielfältige Kommunikationsstruktur nach: Ausgehend von den Zentren der Quäkerbewegung, zunächst personalisiert in George Fox, untersucht sie insbesondere Maklerfiguren und Multiplikatoren. Erstere sind solche Persönlichkeiten, die die quäkerische Mission unterstützten, ohne selbst in ein formelles Zugehörigkeitsverhältnis zu den Quäkern zu treten – so kommt auch Elisabeth von der Pfalz (1618–1680) in diesem Abschnitt zur Geltung, die Äbtissin des Herforder Damenstiftes, die sich bei ihrem Bruder Karl Ludwig, dem pfälzischen Kurfürsten, wiederholt für die Quäker einsetzte, hierdurch auch in den Geruch mangelnder Rechtgläubigkeit geriet, ohne sich doch je tatsächlich den Quäkern anzuschließen. Unter den Multiplikatoren behandelt J. die Produktion quäkerischer Druckerzeugnisse, be­tont freilich zugleich den engen Zusammenhang dieser Kommunikationsform mit der mündlichen und handschriftlichen Kommunikation – die Eigenart der Mission lässt sich gerade durch diese komplexe mediale Vielfalt begreifen. Wie bedeutsam ein Blick auf diese Vorgänge für die Rekonstruktion der Christentumsgeschichte der Frühen Neuzeit insgesamt ist, zeigt J.s Darlegung über »das europäische Netzwerk der Frommen«. Angesichts dessen, dass hier neben Pietisten und Spiritualisten auch etwa Mennoniten und Remonstranten genannt werden, wäre zu fragen, ob wirklich der Sammelbegriff »fromm« oder auch der von J. gern gebrauchte Be­ griff der »Reformer« das angemessene Kriterium für die Zusam­menstellung bietet, oder ob man nicht von einem besonderen Auf­einanderangewiesensein der Devianten ausgehen sollte. So oder so lässt dieser Blick erkennen, dass es jenseits der Großkonfessionen ganz eigene Formen der Verbindung gab, zumal wenn man den Horizont über die deutsche auf die europäische Perspektive ausweitet.
Diese Vernetzung bildet den Hintergrund für den letzten Teil des Buches: »Dialog und Dissens«: J. zeichnet die verschiedenen Debatten zwischen unterschiedlichen devianten Gruppierungen anhand von Publikationen nach, die sich nicht nur an die radikaltheologische Öffentlichkeit richteten, sondern immer wieder auch an eine allgemeine Öffentlichkeit: Dialog und Dissens werden so ihrerseits wiederum zu Mitteln der Außenwirkung und Mission, die Binnendifferenzierung gleitet unmittelbar in Ausstrahlung über.
Damit kann die Studie ihrem Anspruch, eine scheinbar marginale Geschichte in ihrer Signifikanz für die religiöse Kultur der Neuzeit aufzuweisen, gerecht werden. Hier wird Sektengeschichte als Allgemeingeschichte getrieben und dies auf dem hohen Niveau derzeitiger kulturhistorischer Theoriebildung. Auch wenn, wie angedeutet, theologisch verortete Kirchengeschichtsschreibung anderes betonen würde, ist ein religionsgeschichtlicher Zugriff wie der von J. präsentierte lehrreich. Zentral bleibt vor allem die Anfrage, ob und wie es gelingen kann, die Anstöße des Buches für eine komplexere Beschreibung des Übergangs vom konfessionellen Zeitalter in die Aufklärungsepoche aufzugreifen.