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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1069–1071

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Siegert, Folker

Titel/Untertitel:

Das Evangelium des Johannes in seiner ur­sprünglichen Gestalt. Wiederherstellung und Kommentar.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 856 S. gr. 8° = Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum, 7. Geb. EUR 149,00. ISBN 978-3-525-50147-4.

Rezensent:

Eduard Lohse

Das Johannesevangelium gibt seinen Interpreten vielerlei Rätsel auf. Offensichtlich hat es, ehe es im Kanon der biblischen Schriften überliefert wurde, mancherlei Ergänzungen und Überarbeitungen er­fahren. Ihnen sucht die gelehrte Forschung auf die Spur zu kommen: Was bedeutet der doppelte Schluss des Buches? Am Ende von Kapitel 20 heißt es, Jesus habe noch andere Zeichen getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben seien. »Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.« (20,31) Dann aber folgt noch ein ganzes Kapitel, in dem Ostergeschichten erzählt werden, die sich nicht in Jerusalem, sondern in Galiläa zugetragen haben. Am Ende wird dann noch einmal feierlich erklärt, das Zeugnis des bezeugenden Jüngers sei wahr. Es gäbe jedoch noch viele andere Dinge, die Jesus getan habe. »Wenn aber eins nach dem anderen aufgeschrieben werden sollte, so würde, meine ich, die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.« (21,24 f.)
Wie sind die mancherlei Beobachtungen, die auf vorangehende Traditionen und spätere Redaktion aufmerksam machen, zu beurteilen? Die Geschichte der Forschung weist mancherlei Versuche auf, diese Probleme aufzuhellen. Die Annahme, dass im vierten Evangelium alte palästinische Überlieferungen enthalten sind, dürfte zutreffen. Ebenso steht außer Frage, dass die Schlussre­daktion des Ganzen ziemlich spät erfolgt ist. Doch wie sind die unterschiedlichen Stücke genauer zu bestimmen? Liegt eine durchgehende Quellenschrift zu Grunde, die später eine redaktionelle Überarbeitung erfahren hat? Oder sind mehrere Quellenstücke voneinander zu unterscheiden, die durch eine redigierende Überarbeitung zusammengefügt wurden, jedoch einen letzten Schliff offensichtlich nicht mehr erhalten haben, so dass manche Sprünge und Risse stehen geblieben sind – wie etwa die beiden Markierungen des Ab­schlusses? Höchst unterschiedliche Vorschläge sind zur Beantwortung dieser Fragen gemacht worden, ohne dass bisher eine wirklich überzeugende Lösung hätte erreicht werden können. Die komplizierte Problematik hat schon manchen Exegeten verzagen und den Versuch aufgeben lassen, mit Hilfe der Literarkritik denkbare Antworten zu suchen. Dass dieser Stand der Forschung unbefriedigend genannt werden muss, liegt auf der Hand.
Der Vf. dieses Versuchs einer umfassenden Erklärung hat sich durch die mancherlei Wirrnisse der vorangehenden Forschung nicht entmutigen lassen. Vielmehr geht er beherzt ans Werk, um das Bündel der ineinander verschlungenen Probleme aufzuschnüren und die einzelnen Stücke und Teile der Überlieferung bis zur abschließenden Redaktion freizulegen. Zu­nächst hebt er die einzelnen Aporien hervor, die der überkommene Text enthält, und versucht dann, die vielen Einzelbeobachtungen, die auf das zu klärende Verhältnis von Tradition und Redaktion hinweisen, zum Entwurf eines großen übergreifenden Rahmens der Entstehungsgeschichte des vierten Evangeliums zusammenzufügen. Dabei setzt er ein scharfes Messer an, um die Knoten aufzutrennen und die gewonnenen Stücke in einen als ur­sprünglich zu Grunde liegenden Zusammenhang einzufügen. So soll am Ende unter Auswertung ausgewählter neuester Sekundärliteratur und eingehender Berücksichtigung der Geschichte der ältesten Christenheit die ursprüngliche Gestalt des Johannesevangeliums zurückgewonnen und diese von sekundärer Bearbeitung durch eine johanneische Schule unterschieden werden. – Die Besprechung muss sich darauf konzentrieren, das Gerüst des weit ausholenden Entwurfes zu würdigen. Lässt sich auch nicht ohne die eine oder andere hypothetische Annahme auskommen, so ist der Vf. doch darauf bedacht, jeden seiner Schritte so weit wie möglich abzusichern. Dem Evangelisten wird das Signum Joh .I gegeben und sein Evangelium als ein einprägsames, aber mündlich überliefertes Werk beschrieben. Dabei habe er mancherlei Traditionen – meist palästinischer Herkunft – aufgenommen und auch eine schriftlich überlieferte Zeichenquelle verwertet, der der erste Buchschluss (20,30 f.) zugeordnet wird (162). Johannes – so lautet das Ergebnis dieser Rekonstruktion – habe »nach Durchqueren des judäischen und syrischen Kulturkreises sich in Ephesus angesiedelt ... Erst dort ... hat er den Rang eines herausragenden Lehrers erlangt« (98). Dabei ist Joh 1 durch die von ihm komponierten Dialoge besonders ausgezeichnet (112–115).
»Als der Evangelist gestorben war, dürfte das Problem gewesen sein, wie sich sein Evangelium erhalten ließe ... Es blieb nichts anderes, als die Lehren des Seniors aus der Erinnerung aufzuschreiben.« (77) Dabei wird die Redaktion, die die johanneische Schultradition vorgenommen habe, durchweg kritisch beurteilt. Habe sich doch die vom Evangelisten herkommende Überlieferung wieder einem kirchlichen Durchschnitt angenähert, indem z. B. die präsentische Eschatologie in eine futurische Eschatologie umgebogen worden sei. Durch Rekonstruktion eines als ursprünglich angesehenen Zusammenhangs, wie er dem Evangelisten zugeschrieben wird, soll aber ein Evangelium zurückgewonnen werden, »das inhaltlich unmythologisch ist und unapokalyptisch, sozial unpatriarchalisch, dazu frei von der sonst üblichen Abwertung des Judentums, der Philosophie und der ›Welt‹ überhaupt« (809).
Die redaktionelle Überarbeitung – so wird des Weiteren ausgeführt – habe die auf den Evangelisten zurückgehende Überlieferung an die synoptische Tradition angenähert. Dabei sollen alle drei synoptischen Evangelien (139–145) – und auch die paulinischen Briefe (146–148.461–464) – vorgelegen haben. Diese umfangreiche redaktionelle Überarbeitung (= Joh. II) habe dann dazu geführt, dass »unter Hadrian, genauer: vor 130 n. Chr. ... das joh. Corpus fertig gewesen ist« und »in der Kirche zu zirkulieren begonnen« hat (84). Auf diese Weise wurde aus dem Evangelium des Johannes »ein schriftliches Evangelium nach Johannes« (77).
Die Begründungen für diesen Rahmen eines Gesamtbildes werden in einem langen Kommentar zu allen Abschnitten des Evangeliums gegeben (182–623). Am Ende wird dann ein ausführlicher Rückblick in Gestalt von zwölf umfangreichen Exkursen zu Themen johanneischer Theologie gehalten. Dabei werden zur Kommentierung des Johannesevangeliums mancherlei gelehrte Beobachtungen zusammengetragen (624–810). Der Leser wird zu kritischem Mitdenken aufgefordert – so in betonter Weise im Exkurs über die johanneische Eschatologie (757–776), der mit leidenschaftlichem Nachdruck die präsentische Eschatologie des Evangelisten und eine Zurückweisung apokalyptischer Vorstellungen vertritt: »Kein Wissen über die Zukunft wird vermittelt, sondern die Bewältigung der Zukunft aus der Gewissheit göttlicher Hilfe, aus der Gegenwart des ›Fürsprechers‹, jetzt schon gewonnen.« (775)
Der Vf. hat seine Argumentation durchgehend in einem flüssig gehaltenen Stil dargeboten, so dass die Lektüre dieses umfangreichen Buches aufmerksame Leser in die Lage versetzt, die Gedankenfülle aufnehmen, ordnen und werten zu können. Auch wenn ihm hier und da Bedenken bleiben, der auf viele gescheite Beobachtungen gegründeten Interpretation zuzustimmen, so wird er doch durch die Art der Argumentation dazu angeregt, sich über die Mannigfaltigkeit der johanneischen Überlieferungen Gedanken zu machen.
Fazit: Mit einiger Plausibilität lassen sich als Vorlagen, auf die der Evangelist sich stützen konnte, eine Zeichenquelle und eine vorjohanneische Passionsgeschichte annehmen. Auch trifft sicher zu, dass die Redenabschnitte und Dialoge für den Evangelisten charakteristisch sind. Ob er die synoptischen Evangelien und möglicherweise auch die paulinischen Briefe gekannt hat, ist nach wie vor strittig. Mit Recht stellt daher der Vf. am Schluss fest, »dass die Arbeit noch nicht erledigt ist« (808). Doch könnte es sein, dass am Ende das vierte Evangelium sich gegen alle Versuche sperrt, ihm seine Geheimnisse entreißen zu wollen. Es bleiben mancherlei Rätsel, zu deren Lösung sich wohl nur Vermutungen anstellen, aber keine schlechthin schlüssigen Beweise erreichen lassen.