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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1064–1066

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kahl, Werner

Titel/Untertitel:

Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die Neutestamentliche Wissenschaft.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lang 2007. 532 S. m. zahlr. Abb. 8° = New Testament Studies in Contextual Exegesis. Neutestamentliche Studien zur kontextuellen Exegese, 2. Kart. EUR 72,80. ISBN 978-3-631-55140-0.

Rezensent:

Christian Strecker

Werner Kahl legt hier seine 2004 in Frankfurt angenommene Habilitationsschrift der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vor. Die Studie versteht sich als Beitrag zur Entwicklung einer ökumenisch-interkulturellen Hermeneutik des Neuen Testaments. K. will namentlich westafrikanische Deutungen des Neuen Testaments für die westliche Exegese erschließen. Er tut dies in der Überzeugung, dass afrikanische Lebensumstände und Wirklichkeitsauffassungen bemerkenswerte Affinitäten zum Neuen Testament und zu seiner Umwelt aufweisen. Die Ignorierung der afrikanischen Bibelauslegung gereiche der westlichen Exegese nur zum eigenen Schaden. Die Untersuchung zielt indes keineswegs allein auf die exegetische Verwertung afrikanischer Bibelinterpretationen. Ihr liegt an einer respektvollen Würdigung afrikanischer Lektürestrategien und -ergebnisse um ihrer selbst willen. Eine solche Wür­digung schließt für K. die kritische Prüfung des afrikanischen Umgangs mit der Bibel aus europäischer Perspektive ebenso ein wie Kritik am westlichen modernen Umgang mit dem Neuen Testament.
Methodisch richtet sich die Studie an der »Inkulturationshermeneutik« des nigerianischen Exegeten Justin S. Upkong aus. Sie weiß sich zugleich dem Ethos der historisch-kritischen Erforschung der Bibel verpflichtet, und zwar insofern, »als sie das Anliegen eines vorbehaltlosen und angemessenen Verstehens bib­lischer Texte unter ihren historischen Entstehensbedingungen nicht nur teilt, sondern unter Rekurs auf kontemporäre semiotische und ethnologische Einsichten in bestimmter Weise radikalisiert« (25). Inhalte, Anliegen, Formen und die Relevanz des westafrikanischen Umgangs mit dem Neuen Testament exemplifiziert K. an Bibelauslegungen in Ghana. Die Eruierung der populären ghanaischen Bibellektüre basiert auf zweijährigen Forschungen vor Ort. – Die Studie ist in vier materialreiche Teile untergliedert.
Der erste Teil (27–206) trägt die Überschrift »Forschungsstand und Methodologie«. K. widmet sich in einem ersten Unterabschnitt (27–116) der Rezeption und Entwicklung afrikanischer Bibelauslegung. Er zeichnet die im Westen verbreitete, durch eurozentrische Vorurteile geprägte Ignorierung bzw. De­gradierung afrikanischer Bibelexegese nach. Was dadurch verloren ging, zeigt K. an drei klassischen afrikanischen Studien von John S. Mbiti (zur neu­testamentlichen Eschatologie), John S. Pobee (zu den Leidensaussagen bei Paulus) und Teresa Okure (zum Missionsgedanken im JohEv) auf. Es folgt ein For­schungsbericht über afrikanische akademische Bibelauslegungen. K. un­ter­scheidet drei Phasen: 1. die sich auf die Traditionen Afrikas besinnende, komparativische Exegese der 1960er Jahre, 2. die an einer kontextuellen Christologie (wer ist Christus für Afrika?) sowie an sozio-ökonomischen Faktoren und be­freiungstheologischen Themen orientierte Exegese der 1970er und 1980er Jahre und 3. die sich institutionell konsolidierende, international stärker eingebundene und inhaltlich an hermeneutischen Reflexionen ausgerichtete Exegese ab den 1990er Jahren, die K. unter Rekurs auf Arbeiten von Allan P. Boesak (zur Offb als Protestliteratur), Itumeleng J. Mosala (zum LkEv als Literatur der Bourgeoisie), Musa W. Dube (zum MtEv als imperiale Literatur) und Gerald O. West (zur gemeinsamen Bibellektüre von Marginalisierten und Exegeten) bespricht. Im zweiten Unterabschnitt (116–206) erörtert K. methodische Fragen. Lehrreich entfaltet er den von ihm präferierten rezeptionsästhetischen Ansatz. In An­lehnung an Upkong werden drei Kriterien einer angemessenen Bibelinter­pretation herausgearbeitet: 1. Textadäquatheit (d. h. Verträglichkeit mit dem antiken inter- und extratextuellen Kontext), 2. kulturelle Plausibilität (d. h. intersubjektive Zustimmungsfähigkeit auf Seiten der Rezipienten) und 3. Relevanz (d. h. Lebensbezogenheit der Rezeption). K. vertieft seine Überlegungen mit Ausführungen zu postmodernen und ethnologischen Impulsen für die neutestamentliche Wissenschaft. Der Abschnitt schließt mit »afrikanischen Konkretionen«. Als zentrale Merkmale der afrikanischen Bibellektüre benennt K. die christologische Zentrierung, bei der nicht die Wesenheit Jesu Christi, sondern die Involviertheit Jesu in lebensgeschichtliche Bezüge im Fokus steht, und die Durchlässigkeit akademischer und populärer Bibellektüren.
Der zweite Hauptteil (207–342) widmet sich populären Deutungen des Neuen Testaments in Ghana. K. geht vorab der Geschichte des Christentums und der Lebenswirklichkeit ebendort nach und beschreibt die Kosmologie und Kultur Westafrikas. Er präsentiert die in Liedern, Gebeten, Bibelkursen, Predigten, populärer Literatur, Fahrzeugaufschriften und kirchlicher Werbung greifbaren Auslegungen des Neuen Testaments und eruiert die darin bevorzugten neutestamentlichen Schriften und Passagen. Als Schwerpunkt des Lektüreinteresses stellt er das Rettungswirken Jesu heraus. Der Fokus richte sich auf Jesus als denjenigen, der auch im gegenwärtigen Leben den Zugang zu jener göttlichen Kraft eröffne, die Dämonen besiegen und physisches Heil wie auch materielle Segnungen, d. h. ein »Leben in Fülle«, gewähren könne. K. diagnostiziert zwei Formen dieser Erwartung des Lebens in Fülle: Für das städtische Milieu konstatiert er eine durch die Begegnung mit dem westlichen Wertesystem bewirkte individualistische Engführung auf das Heil als Vermögen (Reichtumsevangelium), im ländlichen Milieu eine am kommunalistischen Heil ausgerichtete Fokussierung auf ausreichende Versorgung mit Nahrung (Überlebenstheologie). K. arbeitet jeweils die Adäquatheit und Inadäquatheit der Lektüren mit Blick auf das Neue Testament heraus und kritisiert problematische Ausblendungen wichtiger neutestamentlicher Motive.
Im dritten Hauptteil (343–392) bespricht K. die akademische Exegese in Ghana. Es werden diverse ghanaische neutestamentliche Studien vorgestellt. Sie teilen mit der populären Lektüre die christologische Fokussierung und die Ausrichtung an einem Leben in Fülle, korrigieren aber die populären Engführungen. Funktion dieser Exegese sei die dienende wie auch kritische Begleitung populärer Bibelaneignungen.
Im vierten Teil (393–443) bündelt K. die Ergebnisse seiner Studie und lotet gesamtafrikanische Lektüretendenzen und ihre Relevanz für die westliche Exegese und Theologie aus. – Die Studie enthält acht instruktive Exkurse, nämlich über Jacobus Capitein, die Bedeutung des Alten Testaments in der afrikanischen Exegese, die Problematik des Begriffs »Exegese«, die Definition von Religion, die ethnologische Betrachtung neutestamentlicher Wunder, die Bibelübersetzungen als Katalysatoren eines indigenen Christentums in Afrika, die dortige Alltagsrelevanz der Bibel und das Verhältnis von Altem und Neuen Testament in den populären Interpretationen.
K.s Untersuchung bereichert die exegetische Debatte inhaltlich und methodisch. Der afrikanische Lektürekontext, der durch die Präsenz des Übernatürlichen und ein Leben am Existenzminimum geprägt ist, befördert neue Auslegungen des Neuen Testaments, die Beachtung verdienen, zumal die neutestamentlichen Texte in einem, wie K. betont, ähnlichen soziokulturellen Referenzrahmen entstanden und rezipiert wurden. Freilich lassen sich afrikanische und antike Lebenswelten nicht einfach parallelisieren. Dies bekräftigt auch K. Dennoch schreibt er afrikanischen Deutungen einen epistemologischen Vorsprung zu. Darüber wie auch über die deutliche Problematisierung etischer im Vergleich zu epistemischen Perspektiven, die Rolle des Engagements bzw. des Gegenwartsbezugs der Exegese und anderes mehr wäre auf der Basis einer detaillierten exegetischen Auseinandersetzung mit den afrikanischen Deutungen zu diskutieren. Dass K. zu einer solchen Diskussion anregt, nicht zuletzt darin liegt der große Wert seiner umsichtigen und inspirierenden Studie.