Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1050–1052

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Morenz, Ludwig, u. Stefan Schorch [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was ist ein Text? Alttestamentliche, ägyptologische und altorientalische Perspektiven.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XII, 393 S. m. Abb. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 362. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-018496-9.

Rezensent:

Jutta Krispenz

Das Buch veröffentlicht die Beiträge zu einer Tagung, die im Jahr 2005 an der Kirchlichen Hochschule in Bethel stattfand. Der Titel »Was ist ein Text?« stellt das Thema der Tagung in die Linie linguistischer und literaturwissenschaftlicher Fragestellungen, die in den sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultäten seit Langem zum Bestand der Lehre gehören. Das Buch will, laut Untertitel, hierzu »Alttestamentliche, ägyptologische und altorienta­lische Per­spektiven« einbringen – bekanntlich haben sich die ge­nannten Disziplinen den Neuerungen in den Sprach- und Literaturwissenschaften seit Vladimir Propp und Ferdinand de Saussure zwar nicht gänzlich verschlossen, jedoch haben sie bei der Auseinandersetzung mit einschlägigen Theorien nichts überstürzt. Es ergibt sich so eine gewisse Spannung zwischen Titel und Untertitel.
Die Herausgeber des Sammelbandes, Stefan Schorch, Hebräischdozent an der Kirchlichen Hochschule Bethel, und Ludwig Morenz, Privatdozent für Ägyptologie in Leipzig, haben für diese Tagung arrivierte Wissenschaftler mit jüngeren Kollegen und Vertreter verschiedener Disziplinen miteinander ins Gespräch gebracht. Das Ergebnis sind 16 Beiträge, die von den Herausgebern in fünf Kapitel eingeteilt worden sind, so dass dem Leser innerhalb der Artikel eine gewisse Orientierung vorgegeben ist.

Auf die von den beiden Herausgebern verfasste Einleitung folgt das erste Kapitel »Implikationen von Schrift und Schriftlichkeit«. Es enthält die Aufsätze von Konrad Ehlich »Textualität und Schriftlichkeit« (3–17), Ludwig D. Morenz »Wie die Schrift zu Text wurde. Ein komplexer medialer, mentalitäts- und sozialgeschichtlicher Prozeß« (18–48), Joachim Schaper »Tora als Text im Deuteronomium« (49–63) und Gebhard J. Selz »Offene und geschlossene Texte im frühen Mesopotamien: Zu einer Text-Hermeneutik zwischen Individualisierung und Universalisierung« (64–90). Das zweite Kapitel bearbeitet »Wechselwirkungen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit« in den Artikeln von William M. Schniedewind »The Textualization of Torah in Jeremiah 8:8« (93–107), Stefan Schorch »Die Rolle des Lesens für die Konstituierung alttestamentlicher Texte« (108–122) und Willem Smelik »Code-switching: The Public Reading of the Bible in Hebrew, Aramaic and Greek« (123–151). »Die materielle Dimension von Texten« diskutieren Eva Cancik-Kirschbaum »Text – Situation – Format: Die materielle Gegenwart des Textes« (155–168) und Frank Feder »Die poetische Struktur der Sinuhe-Dichtung« (169–193). Mit den »Kriterien textueller Kohärenz« beschäftigen sich Frank Crüsemann »Texte mit Widersprüchen: Beobachtungen zu ihrem Selbstverständnis am Beispiel der Flutgeschichte« (197—206), Christof Hardmeier »Die textpragmatische Kohärenz der Tora-Rede (Dtn 1–30) im narrativen Rahmen des Deuteronomiums. Texte als Artefakte der Kommunikation und Gegenstände der Wissenschaft« (207–257), Andreas Kunz-Lübcke »Interkulturell lesen! Die Geschichte von Jiftach und seiner Tochter in Jdc 11,30–40 in textsemantischer Perspektive« (258–283), Reinhard G. Kratz »Ge­schichten und Geschichte in den nordwestsemitischen Inschriften des 1. Jahrtausends v. Chr.« (284–309) und Andreas Wagner »Sprechaktsequenzen und Textkonstitution im Biblischen Hebräisch« (310–333). Im abschließenden Kapitel widmen sich Dorothea M. Salzer mit »Biblische Anspielungen als Konstitutionsmerkmal jüdisch magischer Texte aus der Kairoer Geniza« (339–352) und François Vouga mit »Textproduktion durch Zitation: Ist der Erste Petrusbrief der Autor der Gottesknechtslieder (1Petr 2,21–25)?« (353–364) der »Intertextuelle(n) Kohärenzstiftung«.


Eine Zusammenfassung der einzelnen Beiträge erübrigt sich an­gesichts der im Buch selber gegebenen Zusammenfassungen für jeden einzelnen Beitrag (365–373), doch mag ein Blick auf die Beziehung der Beiträge zueinander helfen, das in dem Buch Dargebotene deutlicher zu sehen.
Die Herausgeber bieten am Ende ihrer Einleitung eine Gruppierung der Beiträge hinsichtlich ihres Textbegriffes. Die Mehrheit der Autoren des Bandes, so Morenz und Schorch, setzten einen Textbegriff voraus, der »Text« primär als Phänomen von Schriftlichkeit ansieht. Eine zweite Gruppe sähe demgegenüber »Text« auf (gesprochene) Sprache bezogen, während die dritte Gruppe einen »multimedialen« Textbegriff voraussetze. Die Unterscheidung birgt mehr Brisanz, als der Schlusssatz beschwichtigen kann: »Aufs Ganze betrachtet, erscheint die vorliegende Sammlung damit auch als Illustration der spätestens durch die kulturwissenschaftliche Postmoderne ins allgemeine Bewusstsein gehobenen Einsicht, dass entsprechend den jeweiligen Fragehorizonten verschiedene Be­griffsfassungen durchaus sinnvoll nebeneinander verwendet werden können« (XX). Diese Aussage verdeckt gerade Zusammenhänge, die das Buch interessant machen: So fällt unmittelbar auf, dass in der dritten Gruppe, die einen multimedialen Textbegriff favo­risiert, offenbar jene Autoren versammelt sind, die sich mit antiken Texten des alten Orients auseinandersetzen, die sich also mit der Textüberlieferung Ägyptens und Mesopotamiens beschäftigen, und dabei einerseits mit einer Überlieferung arbeiten, die direkter mit ihrer Ursprungskultur verbunden ist, als dies etwa bei biblischen Texten der Fall ist, die andererseits aber auch nicht durch eine durchgehende Tradition mit neuzeitlichen Diskursen verbunden ist. Wenn unter diesen Bedingungen ein breiteres Spektrum in die Betrachtung einbezogen wird, so scheint das nur natürlich. Allerdings könnte man fragen, ob angesichts der Entstehungszeit der biblischen Texte nicht auch für diese durch die Einbeziehung eines breiteren Spektrums an Informationen ein Er­kenntnisgewinn erreicht werden könnte. Die Frage stellt sich umso dringender, als sich innerhalb der Beiträge einander widersprechende Darstellungen z. B. der Entwicklung hin zur Schriftlichkeit finden lassen.

Die Botensituation, die in der Darstellung des Germanisten Ehlich eine zentrale Rolle für die Entwick­lung von Schriftlichkeit spielt, ist in der Darstellung, die der Ägyptologe Morenz von der Entwicklung schriftlicher Kommunikation gibt, kaum von Bedeutung. Und auch die beiden anderen Gruppen, die jeweils die geschriebene oder die gesprochene Kommunikation ins Zentrum rücken, stellen nicht einfach unter allen Umständen zwei gleichermaßen mögliche Zugänge mit äquivalenten Resultaten dar. Ob sich die Situation gesprochener Kommunikation in den antiken Texten – der Bibel wie des Alten Orients – noch wiederfinden lässt, bzw. ob die uns vorliegenden Texte be­sonders der Bibel einen »Sitz im Leben« überhaupt noch sehen lassen oder ob sie nicht vielmehr bereits vollständig literarische Texte sind, die selbst pragmatische Zusammenhänge als Mittel der Gestaltung verwenden, wäre noch zu klären. Die unterschiedlichen Textbegriffe verdanken sich nicht in jedem Fall einer Wahl, die die verschiedenen Möglichkeiten abgewogen hat, sondern stehen nicht selten vor dem Hintergrund einer eher zufälligen Wissenschaftstradition der je­weiligen Disziplin.

Zwei der im Buch abgedruckten Arbeiten scheinen sich überdies jeder Einordnung zu entziehen: Diejenige von Kratz bewegt sich zwar im Rahmen schriftlicher Quellen, überschreitet aber die Grenze der bis in unsere Zeit tradierten Literatur, indem sie epigraphische Texte untersucht; diejenige von Feder stellt den Text der Sinuhe-Erzählung als Dichtung gerade außerhalb der Bedingungen unmittelbarer Kommunikation dar.
Die Brüche, die zwischen den einzelnen Beiträgen sichtbar werden, sind gerade nicht Ausdruck einer alle Gegensätze einebnenden postmodernen Einsicht, sondern Zeichen für eine erkleckliche Zahl ungeklärter Fragen, nach der Entstehung schriftlicher Kommunikation, nach deren Status im Gegenüber und im Vergleich zu mündlicher Kommunikation, und vielen anderen mehr. Diese Un­terschiede und Brüche sichtbar gemacht zu haben, darf man freilich dem Sammelband als Verdienst anrechnen: Noch lange nicht ausdiskutiert sind die damit verbundenen Fragen. Das breite Spektrum der verschiedenen Beiträge macht die Schwierigkeiten im Umgang mit der Überlieferung dieser unterschiedlichen Texte erst recht sichtbar. Der Band spiegelt einen Zwischenstand in einer höchst komplexen Diskussion wider, und in dieser Funktion liefert er ein deutliches und vielfältiges Bild einer andauernden Debatte und bietet eine sehr lohnende und erhellende Lektüre. – Der ra­schen Orientierung dienen, neben den erwähnten Zu­sam­menfas­sungen, am Ende beigegebene Register für antike Texte (Hebrä­ische Bibel, Neues Testament, Rabbinische Literatur) und Autoren.