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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1044–1046

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Shavit, Yaacov, and Mordechai Eran

Titel/Untertitel:

The Hebrew Bible Reborn: From Holy Scripture to the Book of Books. A History of Biblical Culture and the Battles over the Bible in Modern Judaism. Transl. by Ch. Naor.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. X, 566 S. gr.8° = Studia Judaica, 38. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-11-019141-7.

Rezensent:

Michael Tilly

Das Ziel der aus dem Neuhebräischen übersetzten und für die englischsprachige Ausgabe ergänzten Studie besteht in der umfassenden Darstellung von Bedeutung und Funktionen der hebräischen Bibel im Judentum im 19. und 20. Jh. Shavit und Eran fragen danach, wie die Schriften der Bibel, d. h. des TeNaK, als »a living text« (1) insbesondere in Deutschland und Palästina gelesen, gedeutet, gelehrt und – vor allem in Literatur und Kunst – rezipiert und fortgeschrieben wurden.
Der erste Hauptteil des Buches (15–191) beschreibt die Anfänge der »biblical revolution« (22) seit der Ausbreitung der Aufklärung im europäischen Judentum. Erwähnung finden u. a. die Entwick­lung der historischen Bibelkritik im Christentum und auch ihre Indienstnahme durch Vertreter des neuzeitlichen Antisemitismus (33), die je und je unterschiedliche Wahrnehmung und Bewertung der jüdischen Bibel als religiöses Grunddokument durch Vertreter der Tradition und durch die (in Reaktion auf die Aufklärung entstandenen, miteinander hart konkurrierenden) Strömungen in­nerhalb des neuzeitlichen Judentums (42 f.). Gegenüber der ahistorischen Deutung der Bibel als Offenbarungszeugnis durch die traditionelle jüdische Exegese habe sich außerhalb der Orthodoxie ein Verständnis der biblischen Schriften als grundlegender und identitätstiftender historischer Dokumente entwi­ckelt: »The Bible served the Haskalah as a tool in its struggle to achieve the moderni­zation of Jewish culture, and for the national­ist movement it was a vital element of its romantic-restorative aspect« (76).

Bei der Behandlung der jüdischen deutschen Bibelübersetzungen (ebd.) hätte die Berücksichtigung der materialreichen Monographie von H.-J. Bechtoldt (Stuttgart 2005) sicher noch tiefer gehende Analysen gestattet. Bei der Darstellung der Rezeption der historischen Bibelkritik protestantischer Wissenschaftler durch jüdische Gelehrte findet zuvorderst die Auseinandersetzung mit den philologischen, literarkritischen und historischen Forschungen Ju­lius Wellhausens Erwähnung. Zu erkennen sei das Streben sowohl nach Verteidigung der Bibel gegenüber allen Angriffen von außen als auch nach Be­gründung der als maßgeblich erachteten Formen jüdischer Religion und Kultur durch ihr geschichtliches Zeugnis (154). Von besonderem Interesse sind die Ausführungen zur Erforschung der archäologischen und epigraphischen Quellen, deren Ergebnisse auch im Judentum zunächst als Erschütterung zentraler Hypothesen in der Pentateuchforschung wahrgenommen wurden (181).

Im zweiten Hauptteil (193–352) werden jüdische Reaktionen auf den sog. »Babel-Bibel-Streit« untersucht. An den Fragen nach dem Verhältnis zwischen jüdischer Religion und altbabylonischer Kultur und nach den theologischen Konsequenzen dieses religionsgeschichtlichen Vergleichs entzündete sich auch im Judentum eine intensive Diskussion, die Shavit und Eran als »expression of the internal controversy in Jewish society about how Judaism should be shaped in the modern age, how it should be defined and what its contents should be« (204) verstehen. Einer ausführlichen Darstellung der bibelwissenschaftlich-altorientalistischen Kontroverse um die Thesen des deutschen Assyrologen Friedrich Delitzsch folgt die Analyse einer großen Zahl jüdischer Publikationen (Zeitschriftenartikel, Flugschriften, Bücher und Leserbriefe), von denen nicht wenige an entlegenen Orten publiziert wurden und hier zum ersten Mal eine wissenschaftliche Betrachtung erfahren. Diese jüdischen Wortmeldungen ließen erkennen, dass man die zwischen 1902 und 1905 gehaltenen öffentlichen Vorträge Delitzschs als bedrohliche judenfeindliche Angriffe unter dem Deckmantel der seriösen Wissenschaft betrachtete (253). Nicht wenige gebil­dete Juden aus allen Denominationen wurden nun zu einer aktiven Auseinandersetzung mit Fragen der Religions- und Kulturgeschichte genötigt (286), wobei der Offenbarungscharakter der Bibel, ihre Ursprünglichkeit, die Vorstellung eines Wachstums des biblischen Überlieferungsbestandes und die Berechtigung ihrer Geltung als zeitlose Lebensweisung im Mittelpunkt der jüdischen Beiträge zum »Babel-Bibel-Streit« standen. Anhand einiger Themenbereiche (Gottesnamen, Fluterzählung, Sabbattag, Mosegesetz) wird die jüdische Reaktion inhaltlich charakterisiert; zumeist begründeten die Autoren dabei ihre apologetischen Auffassungen nicht durch Argumente auf der Basis traditioneller Schriftdeutung, sondern mittels neuzeitlicher hermeneutischer, exegetischer und geschichtswissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse (351 f.).
Der dritte Hauptteil (353–471) beschäftigt sich mit der weiteren Entwicklung der jüdischen Bibelwissenschaft und dem Status der Bibel in der modernen jüdischen Kultur nach 1918.

Behandelt werden dabei die bedeutende »Verdeutschung« der Bibel durch Martin Buber und Franz Rosenzweig (357), die um konzeptionelle Eigenständigkeit bemühten Arbeiten jüdischer Exegeten wie Benno Jacob (365 f.), die zionistisch begründete Instrumentalisierung der Bibel als »historisches« Be­weisstück für die Berechtigung aktueller nationaler und territorialer Ansprüche während der Mandatszeit (von Shavit und Eran als »historical-secular biblical fundamental­ism« [372] bezeichnet) sowie die heftig umstrittene Be­deutung der modernen Bibelwissenschaft als Gegenstand des Schulunterrichts im jungen Staat Israel (379). Erhellend sind die Betrachtungen zur Programmatik neuhebräischer Lexika und Einleitungen zur Bibel wie der Encyclopedia Biblica (413 f.) und zur Bedeutung archäologischer Funde für die Konturierung biblischer Geschichte, durch die »a national movement bases its claims on elements that it perceives as a reliable historical narrative« (437).

Der abschließende vierte Hauptteil (473–519) skizziert die Be­deutung der Bibel in unterschiedlichen Bereichen des jüdischen Lebens im Staat Israel sowohl als ideologischer und politischer Text als auch als wichtiges Kulturzeugnis. Shavit und Eran merken an, dass die Interpretation der Bibel als »a book describing an [sic!] historical reality« (483) zur Entstehung einer säkularen jüdischen Identität beitrage. Am Ende des Buchteils steht ein Überblick über die vielfältige Rezeption und kreative Aneignung biblischer Formen, Themen und Motive in der Kunst und Literatur in Israel. Das Buch endet mit einem kurzen Nachwort (521–530), einer gründlichen Zusammenstellung der jüdischen Beiträge zum »Babel-Bibel-Streit« (531–539), einer Auswahlbibliographie (541–550) und einem Verzeichnis der Namen und Sachen (551–566).
Das Buch zeichnet sich durch seine gründliche und methodische Auswertung des – ebenso umfassenden wie disparaten – Quellenmaterials und durch dessen abwägende Bewertung aus. Es illus­triert die fundierende Bedeutung der Bibel in unterschiedlichen Lebensbezügen, Problemlagen und Fragestellungen und erlaubt ebenso lehrreiche wie spannende Einblicke in die facettenreiche Geschichte der historischen Bibelkritik im Judentum.