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Ausgabe:

Oktober/2009

Spalte:

1025–1040

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Mau, Rudolf

Titel/Untertitel:

Kirche als Raum der Befreiung zum eigenen Wort
Stationen des Weges zur Friedlichen Revolution

1. Aufbruch am Ort des Gebetes


Was vor 20 Jahren an zahllosen Orten in der DDR, in Leipzig, Dresden und Berlin, in Magdeburg, Erfurt, Rostock, großen und kleinen Städten und auch Dörfern im ganzen Staatsgebiet der DDR ge­schah– gewagt und getragen von einer rasch wachsenden Zahl von Menschen –, bot Anlass, von einer »protestantischen Revolution« zu sprechen.1 Diese vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen erstaunliche Wortwahl verdankte sich der Evidenz dessen, was eben jetzt überall sehr gleichartig zu erleben war: dass die Menschen in die Kirchen strömten, auch viele, die sonst nie ein Gotteshaus betraten – angesichts der draußen sichtbaren Staatsmacht auf das hörten, was dort gesagt, gesungen und gebetet wurde, und sich ihrerseits daran beteiligten – dass sie aufbrachen zu anfangs ge­waltsam verhinderten, dann über Wochen bei immer noch wachsender Beteiligung wiederholten Demonstrationen – dass sie in einer vieltausendfachen überbordenden Aussprache von den je eigenen Erfahrungen mit der Diktatur sprachen, deren Bestand sich nun dank der staunend erlebten Macht des nicht mehr zu un­terdrückenden freien Wortes aufzulösen begann. 2 Das zur Friedlichen Revolution führende Geschehen jener Zeit war ein Aufbruch im Raum des Gebetes. Überall im Land wurden die Kirchen zu Orten der Sammlung vor dem Aufbruch nach draußen, der in die Begegnung mit der bedrohlich anwesenden Staatsmacht führte.

Dieser Aufbruch ging von dem kultischen Ort aus, den Jahrzehnte zuvor die ostdeutsche Staatsführung der Kirche in der Art eines Reservats zugewiesen hatte. Hier sollten nach der Vorstellung der SED-Führung die als rückständig geltenden »Gläubigen« unter sich bleiben und von jeder politischen Mitsprache ausgeschlossen sein. Die Kirche galt zwar nach dem Zusammenbruch des NS-Re­gimes als wichtige »antifaschistische« Kraft, war und blieb aber für die SED-Führung – nicht ohne Widerspruch aus den Reihen ihrer Mitglieder 3 – der ideologische Feind, dessen Ansehen und Präsenz eng zu begrenzen, im Übrigen für eigene Zwecke zu nutzen sei. Doch die 1945 von den Besatzungsmächten anerkannte institutionelle Autonomie der Kirche wurde auch von der kommunistischen Staatsführung respektiert. Dank der Übernahme der Weimarer Kirchenartikel in die Verfassung von 1949 hatten die Kirchen in der DDR eine weit günstigere Stellung als die Kirchen in den meisten anderen Ländern des Sowjetimperiums 4 – in der politisch-ideologischen Sicht der SED: als »stärkste legale Position der imperialistischen Kräfte« in der DDR.5

Nach dem Scheitern des ersten diktatorischen Anlaufs zur Revolutionierung der Verhältnisse 1952/53 und einer Phase moderater Politik setzte die SED, begleitet von erneut spektakulärem Vorgehen gegen die kirchliche Arbeit,6 eine umfassende Programmatik zur »sozialistischen Kulturrevolution« in Gang.7 Ministerpräsident Grotewohl bedeutete der Kirche, sie werde »in der Pflege der Kulthandlungen in der Kirche in nichts begrenzt« und genieße den »Schutz der ungestörten Religionsausübung«, habe sich aber jeder Kritik an der Verbreitung des Marxismus-Leninismus und am staatlichen Erziehungswesen zu enthalten. Sich angesichts staatlicher Maßnahmen auf die Verfassung zu berufen, bezeichnete er als »Missbrauch« der Verfassung »gegen die Interessen des Staates«.8 In marxistischer Sicht dekretierte Grotewohls Erklärung die Be­schränkung kirchlichen Wirkens auf eine »illusionäre Praxis (wie Gebet, Opfer, Kult, Ritus usw.)«9 ohne realen Daseinsbezug. Schon seit 1955 hatte die SED nicht nur wieder verschärft gegen die Religion als »ideologische Waffe in den Händen der Ausbeuter« agitiert,10 sondern angesichts der von der Sowjetunion zuerkannten staatlichen Souveränität11 nun auch eine Loyalitätserklärung der Kirche gefordert: das Bekunden einer positiven Einstellung »zum Staat der Arbeiter und Bauern«, wie es jetzt von kirchlichen Lehrkräften verlangt12 und ohnehin im DDR-Alltag bei jedem sich bietenden Anlass gefordert wurde.

2. Kirchliche Orientierung 1956: »Raum für das Evangelium«


Die Verschärfung der Situation erforderte eine klare Orientierung. Auf einer außerordentlichen Tagung im Juni 1956 fragte die EKD-Synode nach dem »Raum für das Evangelium in Ost und West«. Der Cottbuser Generalsuperintendent Günter Jacob sprach vom »Ende des Konstantinischen Zeitalters«: Man müsse sich vom Modell einer »privilegierten Kirche« als »Koalitionspartner innerweltlicher Mächte« verabschieden. Für die Gemeinde Jesu Christi gehe es um die reale Lebensgemeinschaft im Gottesdienst, im Bezeugen des Evangeliums und im diakonischen Handeln; sie dürfe sich aber nicht in die Rolle eines politischen Widerstandszentrums, in die Rolle eines »Bollwerks gegen den Kommunismus« drängen lassen. Laut Röm 13 habe sie jeden Staat zu achten, müsse im Konfliktfall aber Gott mehr gehorchen als den Menschen. 13 Für die Stellung zum totalitären Staat erklärte die Synode: Als die »frohe Botschaft von dem Herrn und Heiland, dem die Welt keinen anderen Raum gönnte als die Krippe und das Kreuz«, schaffe das Evangelium sich »seinen Raum, den es uns Menschen nicht verdankt«; die Kirche sei »mit Gottes Wort frei …, auch da, wo sie in ihrem Dienst gehindert und verfolgt wird«. Das Evangelium verstehe den Staat ungeachtet seiner Entstehung und Eigenart als Gottes gnädige Anordnung (Barmen 5), befreie uns aber zum Nein gegenüber »jedem Totalitätsanspruch menschlicher Macht«. 14

Der Einsicht, dass das »Provisorium« der deutschen Zweistaatlichkeit dauerhaft wurde, folgte theologische Reflexion zum Verhältnis zur ostdeutschen Staatsmacht. In einer vielgelesenen Schrift be­tonte Johannes Hamel,15 auch das atheistische Regime sei, wenn­gleich konträr zu dessen Selbstverständnis, laut Röm 13,4 »Gottes Dienerin«. Man schulde ihm um Gottes willen eine von Hass und Furcht freie Ehrerbietung und das den Widerspruch wagende Zeugnis der Wahrheit. Ende 1957 mahnte die EKU-Generalsynode in einem »Wort zur Hilfe, wie wir Christen uns zu unserem Staat verhalten sollen«, nicht zu resignieren statt zu widersprechen. Angesichts des 1958/59 noch verschärften politisch-ideologischen Drucks rief die EKU-Handreichung »Das Evangelium und das christliche Leben in der DDR« die angefochtenen Christen auf den Weg des Glaubens: Auch in einem ideologisierten Staat werde Gott sich durchsetzen. Konflikte und Aporien – auch beim »demütigen Kompromiß«, um den Menschen zu helfen – sollten sie im »Trauen auf den Geist der Wahrheit« bestehen.16 Ende 1960 thematisierte die lutherische Handreichung »Der Christ in der DDR« die Alltagssituation als zu erleidende Konfrontation mit der alle Lebensbereiche betreffenden materialistischen Ideologie und Praxis.17

3. Loyalität? Distanz zur Diktatur und Präsenz auf ihrem Areal


a) Die Distanzformel 1958
Das zunehmend feindselige Agieren des Staates veranlasste die Konferenz der ostdeutschen Kirchenleitungen (KKL) zu einem Memorandum an Ministerpräsident Grotewohl, in dem sie erneut die »Verletzung der Grundsätze der Verfassung« und »ständige Verstöße gegen einzelne Verfassungsartikel« beklagte. Den Christen würden »wesentliche Rechte versagt oder beschnitten«; sie stünden vor der Frage, ob sie »noch als Bürger der DDR leben« können.18 Grotewohl und Staatssekretär Eggerath führten Gespräche mit einer Kirchendelegation.19 In einer Erklärung vom 21. Juli 1958 sagte der Staat Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie eine Überprüfung kirchlicher Beschwerden zu. Die Kirchenvertreter20 nahmen – zuletzt unter erheblichem Druck – den Vorwurf des Verfassungsbruchs zurück und verstanden sich zu einer distanzierten Bezug­nahme auf den »Sozialismus«-Begriff: Die Christen »respektieren die Entwicklung zum Sozialismus und tragen zum friedlichen Aufbau des Volkslebens bei«.21 In der Kirche stieß die Erklärung, die wenig bewirkte, auf Widerspruch.22 Der Staat wertete sie lange als Ausdruck kirchlicher Loyalität.

b) Mauer, Wehrpflicht und Verweigerung des Waffendienstes
Die Schließung der Grenzen am 13. August 1961 verhalf dem Staatswesen DDR zum Überleben. Für die Kirche gehörte zur geistlichen Bewältigung der Situation die Einsicht, dass sie nun »aus einem vertieften Leben im Gottesdienst« lernen müsse, Zeugendienst zu üben, ohne noch einen »Rückhalt im Trauen auf den Westen und auf die Wiedervereinigung« zu suchen.23 Jetzt wagte die SED, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Der Fahneneid verpflichtete die Soldaten, »an der Seite der Sowjetarmee … den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen«, im Ernstfall also an der deutsch-deutschen Grenze. Das brachte viele junge Christen in Gewissensbedrängnis und wurde in der Kirche heiß diskutiert. Hier scheute der Staat aber einen offenen Konflikt und bot auf kirchliches Drängen seit 1964 – exzeptionell im ganzen Ostblock – einen Ersatzdienst bei »Bausoldaten«-Einheiten an. In ihnen fand man überwiegend junge Christen. Ihre Entscheidung bedeutete den Verlust beruflicher Chancen, besonders der Zulassung zu einem Studium.24

c) Kirche in der »sozialistischen« Gesellschaft
Anfang 1968 lag im Entwurf eine neue »sozialistische« DDR-Verfassung vor. Die evangelischen Bischöfe25 votierten in einem Brief an SED- und Staatschef Ulbricht, und zwar, anders als in der Distanzformel von 1958, im Sinne eines als selbstverständlich in Anspruch genommenen eigenständigen Mitwirkens an der gesamtstaatli­chen Aufgabe. Sie erklärten, dass sie als Staatsbürger und Christen eine »geordnete Zusammenarbeit« und »Annäherung der beiden deutschen Staaten« erstreben, um den Frieden zu fördern und »die menschlichen Beziehungen wieder voll zu ihrem Recht kommen« zu lassen: »Als Staatsbürger eines sozialistischen Staates sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als eine [nicht ›die‹!; R. M.] Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen.« 26

Als die EKD als gesamtdeutsche Institution längst handlungsunfähig geworden und die neue DDR-Verfassung in Kraft getreten war, schlossen sich die ostdeutschen Landeskirchen zum Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) zusammen. Dank dessen ko­operativ-integrativer Struktur27 konnten sie der Differenzierungspolitik der SED wirksam entgegentreten. Der Kirchenbund bekannte sich zur »besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland« und war auch durch jahrelangen staatlichen Druck nicht zu bewegen, dies aus seiner Ordnung (Art. 4, 4) zu streichen. Der BEK verstand sich als »eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der sozialistischen Gesellschaft der DDR«28 und betonte die Präsenz am Ort seines Auftrags: »… in dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie«.29 Die SED registrierte als positiv, dass der Kirchenbund von der Realität des »Sozialismus in der DDR« ausging,30 fand aber durch den eigenständigen kirchlichen Umgang mit dem Sozialismus-Begriff ihre Deutungshoheit in Frage gestellt. Zudem drohte ihr von der Neuen Ostpolitik der Bundesregierung, die auf menschliche Er­leichterungen zielte und einen »Wandel durch Annäherung« er­strebte, der Verlust des bislang so klaren »Feindbildes« (»ideologische Diversion«).31 Ohnehin blieb der 1968 unterdrückte Prager »Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht« unvergessen. Das zeigte 1972 die schroffe Reaktion auf das Synodalreferat von Heino Falcke »Christus befreit – darum Kirche für andere«. Dessen Kernsatz: Allein Christus lässt uns auf »eine verbesserliche Kirche« hoffen; unter seiner Verheißung werden wir »unsere Gesellschaft nicht loslassen mit der engagierten Hoffnung eines verbesserlichen So­zialismus«32 alarmierte als kirchliches Eindringen ins Sanctissimum der Ideologie33 den Staat. Das Referat dürfe nicht bestätigt oder verbreitet werden. Die Synode vermied die Konfrontation.

4. Das Signal von Zeitz und Fragen des kirchlichen Redens


In den 1970er Jahren konnte die DDR auf eine Erfolgsgeschichte zu­rückblicken. Die lang erstrebte internationale Anerkennung war erreicht; die Lebensverhältnisse hatten sich gebessert; der DDR-Alltag erschien als Normalität – auch im kirchlichen Leben. Am 18. August 1976 aber zerstörte ein schockierendes Ereignis den Eindruck von Harmonie: die Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz auf dem Marktplatz in Zeitz. Mit seiner Tat protestierte er gegen die »Unterdrückung von Kindern und Jugendlichen in den Schulen«. 34 Staatliche Stellen reagierten hektisch, auch mit in­famem Rufmord. Die Kirche war tief betroffen; sie sah sich auf ihr Christuszeugnis hin befragt, ob es »unentschlossen und ängstlich« sei. Ein gesamtkirchlicher »Brief an die Gemeinden« sprach von den »Spannungen« in unserer Gesellschaft und »Zerreißproben, in die viele gestellt sind«.35 Was bei kirchlichen Kontakten mit Staatsvertretern viele Male ebenso dringlich wie ergebnislos vorgebracht worden war, kam jetzt unüberhörbar öffentlich zur Sprache. SED-Chef Honecker wertete diesen Schritt eines kirchenleitenden Gremiums als »einen der größten konterrevolutionären Akte gegen die DDR« – freilich: parteiintern,36 ohne nach außen sichtbare Konsequenzen. Nach geraumer Zeit folgte der Versuch des Staates, die lädierte Harmoniefassade durch ein solideres Konstrukt zu er­set­zen. Honecker entschloss sich zu einem in der SED als spektakulär empfundenen Politikwechsel, der den Genossen eine be­deutsam veränderte Einstellung zur Kirche zumutete. Die erstmalige Ge­nehmigung zum Bau von Kirchen in Neubaugebieten signalisierte ein Abrücken vom Dogma des »Absterbens der Religion«.

Die Herbstsynoden 1976 wurden zum Ort gesamtkirchlicher Rechenschaftslegung. Aus den Gemeinden und der Pfarrerschaft kam der Vorwurf taktischer Rücksichtnahmen kirchenleitend Verantwortlicher auf den Staat. Bischof Krusche (Magdeburg) gab aber zu bedenken, eindeutig zu reden und zu handeln müsse nicht Konfrontation bedeuten, denn die gleiche gemeinsame Verantwortung müsse »auf verschiedenen Ebenen sehr anders wahrgenommen werden«.37 Kirchenleitung und Pfarrerschaft hätten hier sehr unterschiedliche Mandate. Beim ständig nötigen Verhandeln um den nicht vertraglich gesicherten Lebens- und Rechtsraum seien geltende »Sprachregelungen, Norm- und Tabu-Erwartungen« zu beachten, während die Pfarrer das Evangelium »an die Menschen in unserer Gesellschaft« unmittelbar, in der Nähe zu deren Belastungen und Frustrationen, auszurichten haben. Ohnehin war die Kirche mit dem Problem von Relationen des kirchlichen Redens im Bereich des ideologisch verminten Sprach-Machtfeldes der SED-dominierten Gesellschaft ständig befasst. 38

5. Nochmals ein »Neuer Kurs«: Das Gespräch vom 6. März 1978


Die Zusage für ein baldiges Grundsatzgespräch diente einer Beruhigung der Situation. Staatssekretär Seigewasser erklärte, die Politik des Staates sei »von großem Verständnis für das religiöse Anliegen« getragen; der BEK-Vorstand bestand darauf, ebendies müsse im Leben der Menschen erfahrbar werden; die Ausgrenzung von Christen müsse beendet und deren eigenständiges Mitwirken in der Gesellschaft anerkannt werden. Unter strenger Diskretion be­gannen Vorbereitungen für einen Empfang des BEK-Vorstandes bei Honecker. Ein kirchlicher Vorschlag thematisierte die »Ge­meinsame Verantwortung für die Menschen« und benannte hierzu u. a. erweiterte Reisemöglichkeiten, Chancengleichheit auf allen Ebenen, Gesprächsoffenheit und Ermunterung zu konstruktiver Kritik.39 Das wurde zwar in toto zurückgewiesen, zeigte aber, wie man in der Kirche über ein eigenständiges Mitwirken »im Sozialismus« dachte.

Nach Jahrzehnten einer feindseligen Haltung und der Verdrängung von Glauben und Kirche aus der Öffentlichkeit wirkte die Nachricht vom Empfang des Kirchenbund-Vorstandes am 6. März 1978 beim SED-Parteichef und Staatsratsvorsitzenden als Sensation. In der Person Honeckers hatte die SED ihre Haltung zur Kirche spektakulär verändert. Der Staat setzte nun auf dauerhafte konstruktive Beziehungen zur Kirche und erleichterte deren Arbeit. Für eine Reihe von Desideraten gab Honecker konkrete Zusagen, so für kirchliche Bauvorhaben, den Zugang zum Medium des Fernsehens, die Gefängnisseelsorge, die jahrzehntelang unterbundene kirchliche Arbeit in staatlichen Altersheimen. Die kirchlichen Gesprächsteilnehmer bezogen sich auch auf nicht akzeptierte Themen, ein endlich zu erwartendes Einlenken im Bildungswesen und menschliche Erleichterungen gemäß dem Helsinki-Abkommen: Wo es um eine »gerechtere, friedlichere und freundlichere Welt« gehe, dürften ideologische Gegensätze nicht zu »unübersteigbaren Barrieren« werden. Bischof Schönherr bestand eingedenk der Er­fahrungen von Jahrzehnten darauf, dass die vereinbarte Gemeinsame Erklärung den zitierbaren Schlusssatz erhielt: »Das Verhältnis von Staat und Kirche ist so gut, wie es der einzelne christliche Bürger in seiner gesellschaftlichen Situation vor Ort erfährt«. 40

Die SED-Funktionäre mussten sich umstellen; sie hatten von nun an die Christen und die kirchliche Arbeit zu achten. In der Kirche gab es Zustimmung, aber auch Skepsis, ja den Vorwurf eines Verrats an ihrem Auftrag durch die Liaison mit dem totalitären Staat.41 Doch was von nun an geschah, entkräftete diesen Vorwurf. Auch jetzt noch blieb die SED auf der »harten« Strecke der Bildungsfragen kompromisslos,42 ja war im Begriff, gerade hier neue Probleme zu schaffen. Von Honeckers Arrangement mit der Kirche zur Stärkung des Regimes blieb angesichts wachsender Konflikte am Ende nur das viele Male beschworene Mantra einer Rückkehr zur »Politik des 6. März«.

6. Militarisierung der DDR – »Frieden« als kirchliches Thema


Zum Schuljahr 1978/79 wurde das Fach »Wehrunterricht« für die Klassen 9 und 10 obligatorisch eingeführt; Studierende hatten Zivilverteidigungs-Lehrgänge zu absolvieren; Lager zur Schulung im Waffengebrauch ergänzten das Programm. Was hier angekündigt und alsbald durchgesetzt wurde, erklärte der Kirchenbund für unvereinbar mit der KSZE-Schlussakte und der in der UN-Abrüstungsdebatte geforderten »Erziehung zum Frieden«.43 Die SED aber blieb bei der Ideologie-Formel: »Sozialismus bedeutet Frieden«; »Der Friede muss bewaffnet sein!«. Damit brachte sie sich aber in eine prekäre Situation, machte die eigene Propaganda von Jahrzehnten unglaubwürdig und verschaffte dem Thema »Frieden« eine langdauernde staatskritische Aktualität.

a) Gottesdienste, Lieder, Lesungen zu Fragen der Zeit
Vor allem jungen Menschen bot die Kirche ein Forum der Aussprache über die sie tief beunruhigenden Fragen. Auch sonst kirchenferne Jugendliche kamen in großer Zahl zu gottesdienstlichen Veranstaltungen, in deren Rahmen sie systemkritische Schriftsteller44 und Liedermacher45 hören konnten. Der Staat forderte die Kirchenleitungen auf, solche Auftritte zu unterbinden; diese verwiesen aber auf das Recht der Gemeinden, sich den Problemen der Zeit zu stellen und Fragen der Literatur an Staat und Gesellschaft einzubeziehen.46 Zur ersten, von Mund zu Mund angekündigten »Blues-Messe« in der Berliner Samariterkirche kamen hunderte meist kirchenferne Jugendliche.47 Bei späteren Blues-Messen waren es tausende, die auch von weither anreisten. Im Wechsel mit der Musik kamen Fragen des Alltags, erlebte Situationen und Psalmtexte der Klage und Hoffnung zu Gehör und weckten Zurufe und Gebetsworte. Hatte vorzeiten die Staatsmacht unkonventionelle Gottesdienste allein wegen unstatthafter »Ausweitung kirchlicher Tätigkeit«48 als illegal inkriminiert, so war jetzt klar artikulierter Un­mut über den realen Sozialismus der Grund für den Ruf nach kirchenleitendem Einschreiten. Das Gerücht, ein brisanter Text, der Solschenizyn-Brief »Lebt nicht mit der Lüge!« solle demnächst zitiert werden, führte 1981 zu hektischer staatlicher Aktivität, einer dichten Folge von Gesprächen mit kirchlich Verantwortlichen, zum Drohen mit konsequenter Anwendung der Gesetze gegenüber »staatsfeindlichem« und »konterrevolutionärem« Treiben – und schließlich doch, als im Rahmen einer Vorbereitungsgruppe die Kirchenleitung die Verantwortung übernommen hatte, zum parteiinternen Rat, die Blues-Messe nicht zu verbieten, um Solidarisierungen und eine weitere Zuspitzung zu vermeiden. Ein signifikanter Wandel gegenüber dem SED-Machtgebaren der 1950er Jahre! Als wichtigste Erwartung nach dem »6. März« blieb die tunlichst durch die Kirche selbst zu sichernde »Ruhe« in ihrem Bereich. Dies erforderte freilich eine innerkirchliche Konfliktbewältigung bei offenem Ansprechen der vom Staat zu verantwortenden Probleme.

b) Friedensethische Konzeption
Nachdem das Wehrerziehungsprogramm 1978 bekannt wurde, beschloss die KKL ein Studien- und Aktionsprogramm der »Erziehung zum Frieden«. Die Bundessynode unterstützte es nachdrück­lich angesichts der »militärpolitischen Durchdringung weiter Lebensbereiche«. Kernpunkte waren die Absage an die nukleare Abschreckung als Sicherheitsstrategie und eine Friedenserziehung, die sich auf sowohl individuell-zwischenmenschliche als auch politisch-gesellschaftliche Phänomene von Friedlosigkeit bezog. Dem »Hass« gegen den ideologischen und politischen »Feind« wurde, an die Diskussion der 1950er Jahre 49 und den ökumenischen Impuls von Nairobi 1975 anknüpfend, eine umfassend begründete friedensethische Konzeption entgegengestellt.50

c) »Schwerter zu Pflugscharen«
Zu einem langdauernden, viele junge Menschen betreffenden Konflikt führte die Symbolwahl für die 1980 eingeführten Friedensdekaden: Schwerter zu Pflugscharen. Die Nachbildung der in der Sowjetunion gestalteten, am Sitz der UN aufgestellten (daher als Zeichen christlichen Friedenswillens in der sozialistischen Gesellschaft ideal geeigneten!) Skulptur fand bei Jugendlichen großen An­klang und wurde von vielen als Aufnäher getragen. Doch für die SED zählte hier nur der Protest gegen ihre Militärdoktrin; zudem sah sie ihren Führungsanspruch in der »DDR-Friedensbewegung« durch die jetzt entstehende, die Systemgrenzen übergreifende Friedensbewegung bedroht. 51 Schule und Polizei gingen handgreiflich gegen die Träger des Zeichens »Schwerter zu Pflugscharen« vor. Durch das symbolkräftige Friedenszeugnis junger Menschen sah Honecker die Machtfrage tangiert; der evangelischen Kirche un­terstellte er, entsprechend den Vorgängen in Polen »im Interesse imperialistischer Kreise« eine Opposition gegen die Arbeiter- und Bauern-Macht zu organisieren.52 Am Ende stand ein viele junge Menschen enttäuschender Kompromiss: ein kirchliches Festhalten an dem Symbol, aber unter Verzicht auf seine Verwendung als Aufnäher.53

7. Temporärer Freiraum: Das Lutherjahr 1983


Der 500. Geburtstag Martin Luthers und der 100. Todestag von Karl Marx sollten nach den Vorstellungen der SED-Führung die Erfolgsgeschichte der DDR und gesamtgesellschaftliche Harmonie dokumentieren.54 Das marxistische Lutherbild hatte sich gewandelt; Honecker pries ihn als einen »der größten Söhne des deutschen Volkes«.55 Das kirchliche Luthergedenken wandte sich betont gegen jede Heroisierung des Reformators. Unter der Losung schon für die vorangehende Friedensdekade »Vertrauen wagen!« war ökume­nische Öffnung und ein Hören mit Luther auf Gottes Wort angesagt. Eine Abfolge regionaler Kirchentage führte in Wittenberg zu einem Höhepunkt unter großer Beteiligung junger Menschen: Das abendliche Umschmieden eines Schwertes zur Pflugschar brachte das politisch unerwünschte Symbol beeindruckend zur Geltung. In offener Aussprache wurden bedrängende Probleme benannt, jetzt zunehmend auch zu Umweltfragen. Die öffentliche Präsenz der Kirche wurde nach der jahrzehntelangen Ausgrenzung aus der »so­zialistischen Gesellschaft« wieder ähnlich wie bei den lange zu­rück­liegenden Kirchentagen in Berlin 1951 und Leipzig 1954 er­lebt. Bei der Berliner Friedenswerkstatt 56 im Juli 1983 mit etwa 3.000 Teilnehmern gab es massive Kritik am DDR-Sozialismus, die Staatssekretär Gysi als »organisierte Verleumdung« der DDR be­zeichnete. Im Auftrag des SED-Politbüros verlangte er von den Kirchenleitungen, derartiges zu unterbinden. Doch auch künftig fanden die »Werkstatt«-Gottesdienste statt und bewährten sich als ein Forum christlicher Verantwortung für die Probleme der Zeit. Erstmalig im März 1983 hatte es auf Grund einer Einladung der Kirche von Berlin-Brandenburg ein Treffen vieler örtlicher Friedensgruppen unter dem Motto »Konkret für den Frieden« gegeben. In den folgenden Jahren ermöglichten Nachfolgetreffen in je einer anderen Landeskirche die Fortsetzung der DDR-weiten Kooperation. Bei der BEK-Synode im September und den landeskirchlichen Herbstsynoden kamen die »Enttäuschung und Verbitterung von Bürgern« über persönliche Erfahrungen mit der Staatsmacht zur Sprache. Als deren Gründe benannte Bischof Hempel den »Zentralis­mus un­serer Gesellschaft«, die »Verkümmerung schöpferischer Po­tenzen«, das der Jugend verweigerte »Recht auf Zorn« und »Recht auf Aufrichtigkeit«; das Vorgehen gegen die »Schwerter zu Pflugscharen«-Träger sei symbolhaft für das Verhältnis des Staates zur Jugend. 57

Die Häufung systemkritischer Äußerungen im Laufe des Lu­therjahres veranlasste die SED, einen »Bruch« der bislang guten Zusammenarbeit seitens der Kirche zu konstatieren. Im Kern bezog sich der Vorwurf darauf, dass die Kirche auch nach Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft nicht bereit war, sich dem totalitären Führungsanspruch der SED zu unterwerfen, sondern zu Gunsten Betroffener Mitsprache und eigenständige Partnerschaft in der Ge­sellschaftin Anspruch nahm. Dem Vorwurf, bei den Synoden habe es oft kritische, ja feindselige Äußerungen zur Politik des Staates gegeben, begegnete Bischof Hempel mit dem Hinweis auf die seelsorgerliche Aufgabe der Kirche. Sie erstrebe »keine alternative Gesellschaft«, bleibe aber der Ort, wo die Bürger »ihre Sorgen und Be­schwernisse abladen« können.58 Im Blick auf Erfahrungen des Lu­therjahres und zunehmende Aktivitäten von Friedens- und Umweltgruppen wies der KKL-Vorsitzende den Vorwurf von »konterrevolutionären« Aktivitäten zurück – das Wort und die Sache seien der Kirche fremd – und erläuterte das »Mandat der Kirche im Sozialismus«. Schon ihrer differenzierten Struktur wegen sei sie eine »ständige Konfliktbewältigungsgemeinschaft« und brauche deshalb einen breiten Bewegungsspielraum. In den Gemeinden und bei den Gruppen wirke man darauf hin, dass die »sozialistischen Gesetze« eingehalten werden, aber angesichts der »problematischen Rechtssituation in der DDR« eben nur, »solange es geht«. Unpräzise Gesetze und verdeckte Jurisprudenz führten dazu, dass der Staat »gegebenenfalls überall Illegalität« sehe. Zum Mandat der Kirche: Zwar repräsentiere sie nicht die gesamte Gesellschaft, sei aber »für alle da«; so gebe es auch ein »stellvertretendes Reden« in der Gesellschaft. 59

8. Umweltfragen und das Mauer-Trauma


Der BEK-Ausschuss für »Kirche und Gesellschaft« legte 1978 ein Arbeitspapier vor: »Die Verantwortung der Christen in einer sozialistischen Gesellschaft für Umwelt und Zukunft des Menschen«. In der DDR gebe es eine Spannung von »Fakten« und »Zielsetzungen« des Sozialismus, zwischen einer »Priorität des Ökonomischen vor dem Ökologischen« und der Verantwortung für eine »überlebensfähige Weltgesellschaft«. Der Ausschuss empfahl kleine praktische Schritte in den Gemeinden zur exemplarischen Gestaltwerdung der Umkehr. 60 1984 wurde die Umweltsituation zum Thema der Bun­dessynode. Aktionen von Gruppen und Gemeinden weckten staatlichen Argwohn und führten zu Strafmandaten. Bei einem Expertengespräch betonten die Kirchenvertreter, die bisweilen spektakulär wirkenden Aktivitäten zur Umweltverantwortung richteten sich »nicht gegen den sozialistischen Staat«. Aktionen im sächsischen Industriegebiet begegneten dem Vorwurf, sich unter dem Deckmantel des Ökologiethemas in staatliche Angelegenheiten »mit dem Ziel der Systemveränderung« einzumischen. 61 Dies war der neuralgische Punkt: Im kirchlichen Wahrnehmen eigenständiger Partnerschaft in der Gesellschaft argwöhnte die SED »konterrevolutionäre« Ambitionen – durchaus mit Erfolgen. Eine marxistische Studie von 1985 attestierte der Kirche, sie sei trotz ihres Mitgliederschwunds zunehmend öffentlichkeitswirksam ge­worden und habe eine »Ausstrahlung auf breitere Kreise der Bevölkerung«.62

Der Helsinki-Beschluss zur freien Wahl des Wohnsitzes konfrontierte die SED mit einer Flut von Anträgen auf »Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR«. Auch durch schikanöse Behandlung und unabsehbare Wartezeiten ließen sich Ausreisewillige nicht abschrecken. Beschwerden gegen die Ablehnung von Anträgen, Hilfeersuchen an internationale Gremien und spektakuläre Aktionen wie das Aufsuchen von Botschaften der Bundesrepublik in den Ostblockländern (Warschau, Prag, Budapest) verschafften dem Fluchtwillen große Publizität. 1984 konnten 21.000 und 1985 nochmals 25.000 Menschen legal die DDR verlassen, doch was als Befreiungsschlag – Abgang einer staatsverdrossenen Minderheit – gedacht war, provozierte nur eine Flut neuer Anträge.

Seit den frühen Jahren der DDR bestand ein gesamtkirchlicher Konsens dahingehend, dass Christen, besonders aber kirchliche Amtsträger, nicht die DDR verlassen, sondern sie als den ihnen von Gott zugewiesenen Ort für das Christuszeugnis in Wort und Tat verstehen sollten. Nun also ging es erneut um die Frage nach dem Leben und Bleiben in der DDR. In einem Rundbrief an die Pfarrer und Mitarbeiter seines Erfurter Sprengels fragte Propst Falcke: »Warum bleibe ich eigentlich in der DDR?« und rührte damit an ein seit Langem realistisch-resignativ gemiedenes Tabu: Er sehe keinen Grund, die »so beschaffene Grenze zu rechtfertigen«. Es gebe auch gravierende Ausreisegründe wie den schweren Konflikt »mit der politisch-ideologischen Macht«. Doch sollten wir »unser Land und unser Leben in ihm … unter Gottes Herrschaft und Verheißung« und die DDR als eine »veränderbare Größe in der offenen Geschichte« sehen; im »persönlichen, familiären und gemeindlichen Leben« sei vieles möglich, »was dann auch gesellschaftlich-politisch relevant werden« könne. Weitere kirchliche Stimmen zum Ausreise­thema wurden von der Theologischen Studienabteilung dokumentiert. 63 Deren Publikation 1985 zum traumatischen Datum des 13. August64 provozierte zwar eine scharfe Reaktion von Staatssekretär Gysi, doch das Verlangen, nun endlich auch das Thema »Mauer« offen anzusprechen, war nicht mehr zu unterdrücken. Am 25. Jahrestag 1986 gab es einen spektakulären öffentlichen Protest gegen die Mauer.65 1987 wurde auch die Synode von Berlin-Brandenburg und die BEK-Synode mit einem Antrag zu diesem Thema befasst.66

9. Hoffnung auf Wandel und eskalierender Konflikt 1987/88


Der von Gorbatschow in der Sowjetunion eingeleitete Reformkurs weckte bei den Menschen in der DDR große Erwartungen, stieß in der SED-Führung aber bald auf eisige Ablehnung.67 Eine Einschränkung ihrer Führungsrolle kam für sie nicht in Betracht. 1986 hatte der SED-gelenkte DDR-Friedensrat auch den Kirchenbund zur Beteiligung an einem »Friedensreport« eingeladen, der am Weltfriedenstag Honecker zu überreichen und an die UN weiterzuleiten sei. Der BEK war zu einem eigenständigen »nichtintegrierten« und so auch deutlich zu kennzeichnenden Beitrag bereit, erlebte dann aber den Bruch entsprechender Zusagen und dazu empörte innerkirchliche Kritik wegen der Vereinnahmung in die »DDR-Friedensbewegung«.68 Ein Jahr danach war anderes zu erleben. Am Olof-Palme-Friedensmarsch im September 1987 konnten christ­liche Gemeinden und Gruppen sich selbständig beteiligen und fanden durch Plakate zum christlichen Friedensanliegen Gelegenheit zu Gesprächen. In Verbindung mit anderen gleichzeitigen Ereignissen, dem SED-SPD-Dialogpapier69 und dem Honecker-Be­such in der Bundesrepublik, entstand der Eindruck, es sei »tatsächlich etwas in Bewegung gekommen«.70 Doch Ende November führte die nächtliche Aktion gegen die kirchliche Umweltbibliothek in Berlin zu einer neuen Konfliktlage. Im Januar 1988 protestierten bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Berlin Regimekritiker im Namen der »Freiheit für Andersdenkende« und zugleich auch viele Ausreisewillige, um die Genehmigung ihrer Anträge zu erzwingen, und wurden inhaftiert. In der Leipziger Ni­kolaikirche gab es Fürbittandachten für die Verhafteten. Die Kirche war in mehrfacher Hinsicht mit den Problemen befasst, auch durch das innerkirchlich umstrittene Einrichten einer Beratungsstelle in Berlin für Ausreisewillige.

Erneut sprach Honecker von »konterrevolutionären Aktionen« unter dem Dach der Kirche; ZK-Sekretär Jarowinsky forderte »endlich Schluss« mit den Kirchen als Oppositionslokalen. Der KKL-Vorsitzende Bischof Leich reagierte mit Protest: Der Staat dränge die Kirche in eine Stellvertreterrolle; nur sie rede mit den Ausreisewilligen. Zum 10. Jahrestag des »6. März« 1978 versuchte Honecker nochmals, die Kirche auf das damals Erstrebte zu verpflichten, musste sich aber von Leich sagen lassen, schon seit Jahren seien Gespräche zu dringenden Fragen verweigert worden; jetzt erwarte man »Entscheidungen und Handlungen mit einer Signalwirkung« für die Zukunftserwartung vieler Bürger. Honecker wies die ge­nannten Desiderate zurück und unterstellte der Kirche eine de­struktive Haltung. 71

10. Kirche als Forum der Reformdebatte – der Durchbruch zur Friedlichen Revolution


Die Vollversammlung des ÖRK in Vancouver hatte 1983, eine Initiative aus der DDR aufgreifend, alle Kirchen zu einem »konziliaren Prozess« des Christus-Bekennens gegen die Dämonien der Zeit aufgerufen. Im Hinblick auf ein Konzil tagte im Februar 1988 in Dresden eine Ökumenische Versammlung, an der sich auch protes­tantische Freikirchen, die katholische Kirche und Basisgruppen beteiligten. Zum Gesamtthema »Gerechtigkeit, Frieden und Be­wahrung der Schöpfung« kam vor allem die Lage in der DDR zur Sprache. Im Oktober tagte man in Magdeburg und abschließend im April 1989 wieder in Dresden. Zu den hier beschlossenen Dokumenten72 gehörte auch der Text »Mehr Gerechtigkeit in der DDR – unsere Aufgabe, unsere Erwartung«; er galt bald als die Magna Charta der Friedlichen Revolution. Die Versammlung forderte einen »freimütigen und ehrlichen Meinungsaustausch«, die Trennung von Staats- und Parteikompetenzen, mehr Rechtssicherheit, eine Wahlrechtsreform, Freiheit und Chancengleichheit im Bildungswesen, Versammlungsfreiheit und bessere Reiseregelungen. Die Versuche staatlicher Einflussnahme hatten kaum eine Chance. Beobachter konnten nur feststellen, in den Dresdner Beschlüssen habe die »politische Opposition« eine Plattform zur Diskussion über eine »Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse«. 73 Das kam dem Eingeständnis nahe, dass die Staatsführung die jahrzehntelang behauptete Macht über das öffentliche Wort zu verlieren drohe. Eine Kette weiterer Ereignisse offenbarte den schleichenden Machtverlust der SED. Die Fälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai führten zu Protesten, die nach dem Versuch, sie zu unterdrücken, allmonatlich wiederholt wurden. Der DDR-Beifall für das Massaker an der chinesischen Demokratiebewegung wurde als Drohung nach innen begriffen und steigerte die Wut auf das Regime. Botschaftsbesetzungen und die beginnende Massenflucht von DDR-Bürgern über die ungarisch-österreichische Grenze zeigten, dass nach 28 Jahren die Mauer brüchig wurde. Im Spätsommer wurde die Diskrepanz zwischen Führungsanspruch und Konzeptionslosigkeit der SED unübersehbar. Erneutes Verweigern eines zugesagten Staat-Kirche-Gesprächs veranlasste den Kirchenbund, nun seinerseits die Freigabe einer öffentlichen Debatte über die Gründe der Massenauswanderung zu fordern. Statt wie bisher Bitten an die Staatsmacht zu richten, forderte die BEK-Synode nun unter dem Stichwort »Wir brauchen« unaufschiebbare Reformen.74

Wie zuvor schon bei Texten oppositioneller Gruppen konstatierte die SED hier ein ausgeführtes »konterrevolutionäres Programm«, das Reformziele »mit der Machtfrage« verbinde.75 Schon ein Jahr zuvor hatte Konsistorialpräsident Stolpe sich zur brisanten Frage des Führungsanspruchs der SED öffentlich76 geäußert.77 Am 9. September gründeten Bärbel Bohley und andere das »Neue Forum« als rasch wachsende Gesprächsplattform für den »gesellschaftlichen Reformprozess«; eine Reihe weiterer Gründungen folgte; der Reformwille gewann eine vielfältige sichtbare Basis. Die Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche wurden im September zum Ausgangspunkt von jeweils gewaltsam aufgelösten De­monstrationen mit gleichwohl von Mal zu Mal wachsender Beteiligung. Dresden erlebte vom 4. bis 7. Oktober eine dramatische Zu­spitzung der Situation, als am Bahnhof Tausende die Abschiebung der Prager Botschaftsflüchtlinge in den Westen auch für sich selbst zu nutzen versuchten. In Leipzig war am 9. Oktober für die Montagsdemonstration Schlimmstes zu befürchten, da die Staatsführung jetzt gewaltsam den Demonstrationen ein Ende machen wollte. Das Friedensgebet an diesem Abend, nun in vier Leipziger Kirchen, die jeweils kurze dringliche Mahnung des Bischofs zu unbedingter Gewaltlosigkeit und der »Aufruf der Sechs«, der einen freien Meinungsaustausch über den künftigen Weg des Sozialis­mus zusagte, 78 veränderten die Situation. Mit Kerzen in den Händen und dem Ruf »Wir sind das Volk!« bewegten sich 70.000 Menschen auf dem Innenstadtring. Der nach den Erfahrungen von Jahrzehnten geradezu traumhaft friedliche Verlauf der Demonstration hatte viel zu tun mit der »Vermittlung von gewaltfreien Lernerfahrungen aus dem Raum der Kirche in die Mitte der Gesellschaft«.79 Die furchterregende Streitmacht fand keine Gelegenheit zum Eingreifen;80 sie wurde sichtbar abgezogen. Die Macht der SED-Diktatur, der Bann der Angst, war gebrochen. Das friedliche Bestehen der Machtprobe weckte im ganzen Land eine unbeschreibliche Freude. Am Abend dieses Tages »war die DDR nicht mehr das, was sie am frühen Morgen war«.81 Jetzt begann zu gelingen, was 1953 gescheitert war.

Summary


The great peaceful demonstration in Leipzig on October 9, 1989 was the breakthrough to end the ideological dictatorship of the SED (Socialist Unity Party of Germany). The Revolution ended a long time of oppression and mostly non-public conflict in East Germany, especially with respect to atheistic education and the exclusion of Christians from the »Socialist Society«.

The Protestant majority-church in Eastern Germany sought to witness to Christ by its independent presence and self-determined cooperation with other forces in the society. Christian reflections about social problems, peace, ecology, human rights or even a »better Socialism« questioned the totalitarian pretensions of the SED. Ecclesiastical events and activities of opposition groups, mostly close to the churches, became more and more a problem for the SED, especially since 1978. The frank speaking in the churches, free statements and prayers encouraged people who had before been silenced by the SED-dictatorship to use their own words in public. The declaration of the Ecumenical Assembly in Dresden in April 1989 about urgent reforms in the GDR became soon known as the »Magna Charta of the Peaceful Revolution«.

Fussnoten:

1) G. Rein, Die protestantische Revolution 1987–1990, Berlin 1990.
2) Detaillierte Schilderungen zu diesen Vorgängen und einzelnen Phasen des Geschehens bei Neubert, Ehrhart: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90. München-Zürich 2008.
3) So 1947 der Berliner Religiöse Sozialist und BK-Pfarrer A. Rackwitz: Die SED dürfe sich nicht mit einer »Wissenschaft« identifizieren, »über die jeder Philosophiestudent im ersten Semester lacht«; F. Hartweg (Hrsg.), SED und Kirche, Neukirchen-Vluyn 1995, 1, 50.
4) P. Maser/J. H. Schjorring (Hrsg.), Zwischen den Mühlsteinen, Protestantische Kirchen in der Phase der Errichtung der kommunistischen Herrschaft im östlichen Europa, Erlangen 2002.
5) Die Politik der Partei in Kirchenfragen, 14. März 1954; SED und Kirche (wie Anm. 3), 1, 151.
6) R. Mau, Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990), Leipzig 2005, 55 (KGE IV/3).
7) Eine dreibändige SED-Textsammlung der Jahre 1957 bis 1959 war betitelt »Zur sozialistischen Kulturrevolution«. Im April 1959 verkündete SED-Generalsekretär Walter Ulbricht in Bitterfeld das Programm einer »sozialistischen Na­tionalkultur« in der DDR (»Bitterfelder Weg«). Die sozialistische Kulturrevo­lution wurde definiert als »allgemeine Gesetzmäßigkeit der sozialistischen Re­volution, die von der marxistisch-leninistischen Partei mit Hilfe des sozialis­tischen Staates und der gesellschaftlichen Organisationen bewußt gelenkt und geleitet wird.« Sie beginne »immer mit der Errichtung der Diktatur des Prole­tariats und der Einführung der sozialistischen Planwirtschaft« und umfasse »die Entwicklung der sozialistischen Ideologie zur herrschenden Ideologie der Gesellschaft sowie die Entwicklung einer sozialistischen Intelligenz, die Entstehung der sozialistischen Nationalkultur, die zugleich die herrschende Volks­kultur und den Prototyp der künftigen Kultur der gesamten Menschheit verkörpert …«; Artikel »Kulturrevolution, sozialistische« in G. Klaus/M. Buhr (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1966, 303 f.
8) Rede Grotewohls am 28. März 1956 bei der 3. Parteikonferenz der SED, mit einer zynisch wirkenden Anspielung am Schluss auf Mt 21,22 (»Der Kirche, was der Kirche ist, aber dem Staate, was des Staates ist!«); M. Wilke, SED-Kirchenpolitik 1953–1958. Die Beschlüsse des Politbüros und des Sekretariats der SED zu Kirchenfragen 1953–1958, 235 f.; Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat Nr. 1/1992.
9) So die Definition von »Religion« im Philosophischen Wörterbuch (wie Anm. 7), 475.
10) M. G. Goerner, Die Kirche als Problem der SED. Strukturen kommunistischer Herrschaftsausübung gegenüber der evangelischen Kirche 1945–1958, Berlin 1997, 304.
11) Nach einer 1955 abermals gescheiterten Gipfel- und Außenministerkonferenz der Kriegsalliierten rückte die Sowjetunion vom Offenhalten der »deutschen Frage« ab und sprach der DDR die »volle Souveränität« zu. Damit endete die im Zeichen der Wiedervereinigungsoption verbliebene Unsicherheit für die ostdeutsche Staatsführung, die nunmehr demonstrativ ein gehobenes Selbstbewusstsein zeigte.
12) Beschlüsse des SED-Politbüros am 24. Januar und 7. Februar 1956; Goerner, Kirche (wie Anm. 10), 290 f.
13) Bericht über die außerordentliche Tagung der Zweiten Synode der EKD, hrsg. im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der EKD, Bd. 8, Berlin 1956, 17–29.
14) KJ 1956, 17 f.
15) J. Hamel, Christ in der DDR, Berlin(-West) 1957, 6. Aufl. 1960. Hamel war Studentenpfarrer in Halle, wurde 1953 inhaftiert und lehrte danach am Katechetischen Oberseminar in Naumburg.
16) Text der Handreichung in: EZA [Ev. Zentralarchiv Berlin] 7/2115, 1–64.
17) KJ 1960, 238–255.
18) März 1958, unterzeichnet von Mitzenheim; Kundgebungen der EKD 1, 265–269 (zit. 269).
19) Eggerath, Staatssekretär für Kirchenfragen (1957–1960), betonte den totalitären Anspruch: Die Kirche müsse zur Kenntnis nehmen, dass sie es mit dem »allumfassenden Staat der Arbeiter- und Bauern-Macht« zu tun habe. Wiedergabe der im Juni/Juli 1958 geführten Gespräche in: EZA 4/460. Zum Gesprächsverlauf s. Mau, Protestantismus (wie Anm. 6), 64–67.
20) Die von der EKD-Synode bestellte Delegation leitete der Berliner Generalsuperintendent Fritz Führ.
21) KJ 1958, 144 f.
22) Präses Kreyssig erklärte am 23. Juli: Verstehe man »Sozialismus« nicht schwärmerisch-perfektionistisch, sondern als Verpflichtung für das Wohl des Nächsten, so sei ein «Respektieren« zu wenig, denn dies »müssen wir als Christen leidenschaftlich wollen«; in der Bindung an den »doktrinären, gottlosen Marxismus« aber sei der Sozialismus nicht zu respektieren; EZA 4, 460.
23) J. Hamel zur Weiterarbeit an der EKU-Handreichung von 1959. In ge­meinsamer Arbeit von Theologen lutherischer und unierter Kirchen entstanden die »Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche«, die 1963 als eine Aktualisierung der Barmer Erklärung beschlossen und in Umlauf gesetzt wurden.
24) Persönlicher Einsatz an dieser Stelle und kirchliche Unterstützung führten zur Bildung von Gruppen und Netzwerken, die für die ostdeutsche Friedensarbeit bedeutsam wurden; M. Kluge, Das christliche Friedensseminar Königswalde bei Werdau. Ein Beitrag zu den Ursprüngen der ostdeutschen Friedensbewegung in Sachsen, Leipzig 2004.
25) Ohne Bischof Mitzenheim (Thüringen), der sich während der 1960er Jahre und besonders in der Verfassungsdiskussion für die Differenzierungspolitik der SED gegenüber der Kirche in Anspruch nehmen ließ.
26) Desiderate an den Verfassungstext schlossen sich an: Zusage der »vollen Glaubens- und Gewissensfreiheit«, verbindliche Erklärung über die Weiterführung der kirchlichen Arbeit u. a. Der »Brief aus Lehnin« vom 15. Februar 1968 wurde von J. Hamel, S. Ringhandt und M. Stolpe erarbeitet. Text in: Nach-Denken. Zum Weg des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, hrsg. v. U. Schröter u. H. Zeddies, Hannover 1995, 130–132.
27) Der Kirchenbund verstand sich betont auftragsbestimmt als »Zeugnis- und Dienstgemeinschaft« und war mit seinen Organen, der Bundessynode, dem Vorstand und dem Sekretariat, Kommissionen und der Theologischen Studienabteilung entsprechend strukturiert.
28) BEK-Synode 1970; KJ 1970, 301.
29) Bischof Schönherr, BEK-Synode 1971; KJ 1971, 354.
30) SED und Kirche (wie Anm. 3), 2, 149.
31) Erfahrungen dieser Art machten SED-Funktionäre z. B. in Gesprächen mit evangelischen Pfarrern; Mau, Protestantismus (wie Anm. 6), 106.
32) Text des Referates: KJ 1972, 242–255; auch: Zwischen Anpassung und Verweigerung. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, hrsg. v. C. Demke, H. Falkenau u. H. Zeddies, Leiptig 21995, 14–33.
33) Des Weiteren verbat sich der Staat entschieden die kirchliche Rede von einer »kritischen Solidarität« oder »konkret unterscheidenden Mitarbeit«: Der Kirche stehe kein Recht auf Mitsprache und zumal auf Marxismuskritik zu; Mau, Protestantismus (wie Anm. 6), 110 f.
34) Text auf einem von Brüsewitz entrollten Plakat. Dokumentation bei H. Schultze u. a. (Hrsg.), Das Signal von Zeitz. Reaktionen der Kirche, des Staates und der Medien auf die Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz 1976, Leipzig 1993. Zusammenfassende Darstellung bei Mau, Protestantismus (wie Anm. 6), 124–128.
35) KKL-Brief an die Gemeinden vom 11. September 1976. Weiter heißt es hier: Den Staat betreffend gehe es um Glaubens- und Gewissensfreiheit, be­sonders für junge Menschen, und um die öffentliche Behandlung des Vorganges, wie sie zusammenstimme »mit Wahrhaftigkeit und der Würde des Menschen«.
36) Fernschreiben Honeckers vom 15. September 1976 an die Bezirksleitungen der SED; SED und Kirche (wie Anm. 3), 2, 293 f.
37) Krusche auf einer Pressekonferenz der BEK-Synode in Züssow am 28. September 1976; Schultze, Signal (wie Anm. 34), 291.
38) Vgl. z. B. Überlegungen von 1974 zum »Lernweg im Sozialismus« im Hinblick darauf, dass die Christen durch ihr Leben »so durchsichtig, so selbstverständlich und so unbefangen« wie möglich »die Wirklichkeit der Gegenwart unseres Herrn in dieser Welt« bezeugen; KKL-Bericht zur BEK-Synode 1974; Kundgebungen BEK 1, 121. – Zu diesbezüglichen »Lernorten eigener Art«, den kirchlichen Akademien in der DDR, vgl. M. Friedenthal-Haase (Hrsg.), Evangelische Akademien in der DDR. Quellen und Untersuchungen zu Bildungsstätten zwischen Widerstand und Anpassung, Leipzig 2007.
39) Aufriss für das Spitzengespräch (Entwurf Stolpe, abgestimmt mit dem BEK-Vorstand); Text bei G. Besier, Der SED-Staat und die Kirche 1969–1990. Die Vision vom »Dritten Weg«, Frankfurt a. M. 1995, 100 f.
40) »Neues Deutschland« vom 7. März 1978.
41) Am 10. März 1978 erklärte mit dieser Begründung Superintendent Steinlein (Nauen) seinen Austritt aus der Kirchenleitung und der Synode Berlin-Brandenburg; R. Steinlein, Die gottlosen Jahre, Berlin 1993, 121.
42) 1984 forderte der BEK-Vorstand von Staatssekretär Gysi, nun endlich ein Gespräch mit dem Volksbildungsministerium zu ermöglichen; um der »Glaubwürdigkeit des 6. März« willen könne es nicht bei dem »reinen Nein von Frau Minister Honecker« bleiben. Doch auch der (Alternativ-)Vorschlag zu offenem Austausch »in einem sehr kleinen Kreis« über die »Situation junger Christen in der Schule« blieb chancenlos; Mau, Protestantismus (wie Anm. 6), 164.
43) In einem »Wort an die Gemeinden« erklärte der Kirchenbund, der Wehrunterricht stelle die Glaubwürdigkeit der Friedenspolitik der DDR in Frage; der Staat habe aber die Bedenken der Kirche nicht berücksichtigt; Kundgebungen des BEK 1, 246–253; KJ 1978, 359–361.
44) So Stephan Heym im Juni 1979 in Kirchen bei und in Berlin mit Lesungen aus seinem diktaturkritischen »König David Bericht« vor vielen vor allem jugendlichen Zuhörern.
45) In Leipzig 1978 und später in Neuruppin die Liedermacherin Bettina Wegner.
46) Bischof Schönherr am 1. September 1979 im Gespräch mit dem Staatssekretär-Stellvertreter Kalb.
47) Die Initiative lag beim Kreisjugendpfarrer Eppelmann und dem Blues-Musiker Günter Holwas; der Gemeindekirchenrat stimmte zu.
48) Die als illegal betrachtete »Ausweitung kirchlicher Tätigkeit« diente in den frühen Jahren der DDR z. B. als Grund für die Verfolgung der Jungen Ge­meinde; vgl. E. Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt. Evangelische Jugendarbeit in SBZ und DDR 1945–1961, Stuttgart 2003.
49) Hier ist vor allem an das Friedenswort der EKD vom April 1950 (»Was kann die Kirche für den Frieden tun?«), zwei Monate vor dem Ausbruch des Korea-Krieges, zu erinnern. Es bat im Namen Jesu Christi, sich fernzuhalten vom »Geist des Hasses und der Feindseligkeit« und dem in Deutschland verbreiteten Wahn, ein Krieg könne »eine Lösung und Wende unserer Not bringen«; Kundgebungen der EKD 1, 94–97.
50) J. Garstecki, Grundfragen eines politischen Wirksamwerdens von christlichem Friedensdienst; Dokumente (wie Anm. 32), 289–318.
51) Der für Ideologiefragen zuständige ZK-Sekretär Kurt Hager mutete den Lesern des »Neuen Deutschland« am 19./20. Juni 1982 das Konstrukt einer DDR-weiten einheitlichen »millionenstarken Friedensbewegung« zu (s. Silomon, Schwerter [wie Anm. 53], 201): »In der Friedensbewegung vereinen sich Marxis­ten, Christen und Pazifisten.« Gegenwärtig gehe es um den hartnäckigen Kampf gegen die amerikanischen Atomkriegspläne, vor allem gegen die Stationierung neuer amerikanischer Atomraketen in Westeuropa. In der DDR bestehe »die historische Verantwortung der Friedenskräfte darin, das mächtige Bollwerk, den stabilisierenden Faktor des Friedens, den Sozialismus weiter zu stärken und wirksam zu schützen.«
52) Fernschreiben Honeckers vom 16. April 1982 an die SED-Bezirks- und Kreissekretäre; SED und Kirche (wie Anm. 3), 2, 450–453. CDU-Generalsekretär Götting sekundierte: Der Kirche sei eine Rolle als Organisator einer »konterrevolutionären Entwicklung« zugedacht; Götting an Honecker, 1. Juli 1982; SED und Kirche (wie Anm. 3), 2, 453 f.
53) In anderer Verwendung blieb es präsent. Die Gesamtproblematik behandelt A. Silomon, »Schwerter zu Pflugscharen« und die DDR. Die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR im Rahmen der Friedensdekaden 1980 bis 1982, Göttingen 1999 (AKZG B 33).
54) Der Volkswitz kommentierte die sowohl ökonomisch als auch politisch-ideologisch – u. a. wegen der Kritik der Eurokommunisten am DDR-Realsozialismus – angespannte Situation mit dem Spruch: »Martin Luther feiert seinen 500. Geburtstag, und Karl Marx ist hundert Jahre tot«.
55) »Neues Deutschland« vom 14./15. Juni 1980.
56) Schon 1982 wurde, angeregt durch das Dresdner Friedensforum im Februar, in Berlin eine thematisch orientierte »Friedenswerkstatt« veranstaltet.
57) Votum das KKL-Vorsitzenden Landesbischof Dr. Hempel; Information über die BEK-Synode in Potsdam-Hermannswerder vom 16.–20. September 1983; Bundesarchiv Berlin O 4, 447.
58) Interne Information von BEK-Sekretär Ziegler über ein Gespräch von Gysi mit Hempel, Gienke, Stolpe und Ziegler am 12. Dezember 1983; Besier (wie Anm. 39), 53.
59) Gespräch am 30. März 1984; Bundesarchiv Berlin O 4, 1456.
60) E. Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR, Berlin 1997, 446 f.
61) Besier (wie Anm. 39), 60 f.547.
62) Kirchenstudie 1985 der von O. Klor geleiteten Forschungsgruppe »Wissenschaftlicher Atheismus«; Besier (wie Anm. 39), 134 f.
63) J. Garstecki, Leben und Bleiben in der DDR – Gedanken zu einem neuen und alten Thema (1984): DIE ZEIT Nr. 15, 15. April 1985; J. Garstecki, Zeitansage Umkehr. Dokumente eines Aufbruchs, Stuttgart 1990, 25–35.
64) Als epd-Dokumentation 41a85 zu einem Kommentar von R. Henkys zum 13. August.
65) Der Berliner Vikar Reinhard Lampe kettete sich mit einem Schild »Die Mauer tönt im Kopf« an ein Fensterkreuz nahe der Mauerecke bei der Bernauer Straße. Westliche Journalisten setzten die Verhaftung des Protestierenden ins Bild. Die Kirche übernahm die Rechtsvertretung. Der Vikar wurde zu Haft auf Bewährung verurteilt – ein im Vergleich zu früher Üblichem mildes Urteil.
66) Der Titel des von einer Berliner Gruppe stammenden, von Falcke in der Bundessynode eingebrachten Textes (»Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung«) griff sprachlich die 1982 beschlossene »Absage an Geist und Logik der Abschreckung« auf.
67) Nach jahrzehntelanger Geltung der Parole »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!« wies der SED-Chefideologe Kurt Hager jede Hoffnung auf eine Kursänderung zurück: Wer den Nachbarn die Wohnung neu tapezieren sieht, müsse ja nicht das Gleiche tun; Berliner Zeitung vom 10. April 1987.
68) Vgl. hierzu Kurt Hagers Rhetorik, oben Anm. 51.
69) »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. Mit der übereinstimmenden Erklärung, der Friede könne »in unserer Zeit nicht mehr gegeneinander errüstet, sondern nur noch miteinander vereinbart und organisiert werden«, konnten sich auch die seit Langem im Kirchenbund vertretenen friedensethischen Grundsätze bestätigt sehen.
70) Stadtjugendpfarrer Martin-Michael Passauer; epd-Dokumentation 1987, 44.
71) Mau, Protestantismus (wie Anm. 3), 182 f.
72) Epd-Dok 21/89; u. a. auch: Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Dresden – Magdeburg – Dresden, hg. von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der DDR, Teil 1, o.O. u.J., 40–47.
73) Bericht »Zu Lage und Tendenzen in den evangelischen Kirchen in der DDR« vom 12. Mai 1989; Mau, Protestantismus (wie Anm. 3), 192.
74) Beschluss der BEK-Synode in Eisenach vom 19. September 1989 zum Bericht des KKL-Vorsitzenden; Dokumente, 391–395: Viele sähen in der DDR »keine Zukunft mehr«; Hoffnung auf Veränderungen sei erloschen. Nach 40 Jahren »Lernweg« in der DDR gelte es jetzt, Bewährtes zu erhalten und den Weg in eine gerechtere, partizipatorische Gesellschaft zu suchen. Es müsse eine »öffentliche Auseinandersetzung« mit den gesellschaftlichen Problemen geben: Wahrhaftigkeit als Bedingung für Vertrauen, Medien-Pluralismus, Parteienvielfalt, Reisefreiheit, Wirtschaftsreformen, Zulassung friedlicher Demonstrationen so­wie der Wahl zwischen Programmen und Personen.
75) Information W. Jarowinskys an G. Mittag am 22. September 1989; SED und Kirche (wie Anm. 3), 2, 592 f.
76) Vortrag an der Universität Greifswald am 21. September 1988: »Christen und Kirche im Dialog mit der Gesellschaft zu Fragen der Zeit«; Bundesarchiv Berlin O 4, 1025, 25–47.
77) Die »führende Rolle« der SED sei besser »in der überzeugenden Darstellung von Zielen und Wegen« zu verwirklichen »als durch Administrieren und die überproportionale Besetzung von Leitungsfunktionen«. Der nach der Ablösung Gysis eingesetzte neue Staatssekretär für Kirchenfragen Kurt Löffler zeigte sich beeindruckt, urteilte aber, nachdem es Zitate in der Westpresse gab, Stolpe ziele auf die Beseitigung der Führungsrolle der SED; Bundesarchiv Berlin O 4, 1026, 75–96.
78) Gemeinsam mit drei Sekretären der SED-Bezirksleitung (Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel) hatten der Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und der Theologe Peter Zimmermann eine Erklärung verfasst, die bei den Friedensgebeten und ab 18 Uhr über Lautsprecher in der Stadt verbreitet wurde.
79) J. Garstecki, Warum die »Friedliche Revolution« friedlich blieb. Eine Er­innerungshilfe, 2009 (ungedruckt).
80) Äußerung von Horst Sindermann (SED), Präsident der Volkskammer: »Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten. Sie haben uns wehrlos gemacht.«
81) C. Führer, Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam, Berlin 2008, 225.