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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1145–1148

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schwemer, Anna Maria

Titel/Untertitel:

Studien zu den frühjüdischen Prophetenlegenden. Vitae Prophetarum. Bd. I: Die Viten der großen Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel. Einleitung, Übersetzung, Kommentar. XIV, 448 S. Bd. II: Die Viten der kleinen Propheten und der Propheten aus den Geschichtsbüchern. Übersetzung und Kommentar. Mit einer Synopse zu den Vitae Prophetarum (Beiheft). 388 S., 76* S

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995/96 gr.8° = Texte und Studien zum Antiken Judentum, 49/50. Lw. je DM 298,-. ISBN 3-16-146439-7 u. ISBN 3-16-146440-0.

Rezensent:

Michael Tilly

Die Crux bei der Interpretation jüdischer Schriften, die allein in christlicher Rezension erhalten sind, ist die Zuordnung der in ihnen überlieferten Traditionen zu einer "Jüdischen" und einer "christlichen" Überlieferungsstufe. Zum einen fand auch haggadische Erzähltradition Eingang in die kirchliche Überlieferung, zum anderen wissen wir noch viel zu wenig über die Rezeptionsbedingungen jüdischer Schriften in christlichem Milieu ab dem 2. Jh. n. Chr. Aktuell wird dieses Problem dort, wo man solche Schriften als religionsgeschichtliches Vergleichsmaterial zur Interpretation neutestamentlicher Texte heranzieht. Es ist von hoher Bedeutung, ob die aufgewiesenen Übereinstimmungen daraus resultieren, daß im NT bestimmte Inhalte und Motive aus jüdischen Schriften oder Erzähltraditionen übernommen wurden, oder ob diese sie ihrerseits erst im Verlauf ihrer christlichen Uberlieferung aufnahmen.

Einer dieser Schriften, den Vitae Prophetarum, einer "kleinen Sammlung von legendären biographischen Berichten über die alttestamentlichen Propheten" (Bd. 1, 4) widmet Sch. in ihrer im SS 1994 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen angenommenen und von M. Hengel betreuten Dissertation eine ausführliche Untersuchung. Bereits im Vorwort des 1. Bandes (VI) setzt sie sich mit der Arbeit D. Satrans (Biblical Prophets in Byzantine Palestine [SVTP ll], Leiden 1995) auseinander, der den Inhalten und Motiven der oft und massiv redigierten Legenden einen "unjüdischen" Charakter beimißt und vorschlägt, die VP in ihrer Gesamtheit allein als hagiographisches Zeugnis des frühen byzantinischen Christentums zu werten. Gegen Satran spricht sich die Mehrheit der Exegeten für eine Entstehung im 1. Jh. n. Chr. aus. Diesen "Konsens, daß in den VP eine jüdische Grundschrift erhalten ist" (9), beabsichtigt Sch. durch eine detaillierte und umfassende traditionsgeschichtliche und historische Untersuchung der Textüberlieferung zu überprüfen, um so "im Vergleich mit den Schriften des antiken Judentums, des frühen Christentums und ihrer Umwelt die literarische Gestalt der VP und den historischen und traditionsgeschichtlichen Ort ihrer Entstehung näher zu bestimmen" (10). Grundtext für ihre Übersetzung und Interpretation ist die dem Prophetencodex Marchalianus-Claromontanus (Vat. gr. 2125) aus dem 6. Jh. n. Chr. vorangestellte anonyme Rezension der VP, die aber ihrerseits als "historisch gewachsene Textform" (13) mit den anderen erhaltenen Rezensionen und Übersetzungen verglichen wird.

Als "kommentiertes Onomastikon" (27) seien die VP weder ein antiker "Reiseführer" (38) noch der Gattung nach Prophetenlegenden (42), sondern aufgrund ihrer Verwandtschaft mit den biographischen Erweiterungen der LXX (42) und der z. T. "subliterarischen" (46) paganen biographischen Literatur der hellenistischen Zeit (45f.) dem "genuin griechischen Genus der Vitensammlungen" (49) zuzurechnen und somit ein "´Beiheft´ zu den Propheten und Geschichtsbüchern der LXX, das für die private Erbauung und didaktische Zwecke zusammengestellt wurde" (51). Ihr Verfasser habe auf der Grundlage des griechischen Bibeltextes und haggadischer Traditionen (58) eine "eklektizistische Epitome" (60) geschaffen. Die verarbeiteten Stoffe spiegelten gegenüber der späteren jüdischen haggadischen Überlieferung oft die traditionsgeschichtlich weniger entwickelte Fassung wider (56). Auch die eschatologische Konzeption der VP unterscheide sich "deutlich von dem, was wir aus den Schriften erfahren, die nach der Katastrophe von 70 n. Chr. entstanden sind" (64). Hieraus zieht Sch. den Schluß, die VP seien im 1. Jh. n. Chr., und zwar vor der Tempelzerstörung, zusammengestellt (68 f.) und geprägt von "pharisäischer Schriftauslegung" bzw. "pharisäischem ´Zeitgeist´" (70). Das Bild der biblischen Propheten in den VP sei gekennzeichnet durch ein dreifaches Darstellungsinteresse hinsichtlich der "Bedeutung, die den Propheten in frühjüdischer Zeit" zukommt, der "Schilderung des Todes der Propheten" und "eschatologischer Vorstellungen" (71). So erteilen sie, oft in Übereinstimmung mit der späteren christlichen und rabbinischen Überlieferung (88), Auskunft darüber, "wie die Nachwelt in hellenistischer Zeit bis ins 1. Jh. n. Chr. diese Gestalten gesehen hat" (71).

Der Kommentar zu den Viten der sog. "großen" Propheten in Bd. 1 beginnt mit der Vita Jesajas (96-158). Ausgehend beim biographischen Legendenzyklus von Jes 36-39 (102) sei die "nüchterne, exzerpthafte" (114) Darstellung des Propheten geprägt von der Erweiterung um verschiedene Jerusalemer Ortstraditionen, die auch bei Josephus und im JohEv begegnen (128). Besonders in der Jeremia-Vita (159-237) seien Traditionen aufgenommen worden, die aus der ägyptischen Diaspora stammen (177). Um deren Alter zu erweisen, führt Sch. drei Argumente ins Feld: Die Jeremia-Vita setze bei ihren Lesern die LXX als Bibeltext voraus (201), die "antijüdischen Wirren" (202) der ersten nachchristlichen Jh.e seien (noch) nicht erwähnt, und die dieser Zeit entstammenden "atl. Apokryphen und Pseudepigraphen" zeigten eine "traditionsgeschichtlich erkennbar spätere Stufe als die VP" (203). In der Vita Ezechiels (238-295), die "analog zur Jeremia-Vita erzählerische Motive aus der babylonischen Diaspora aufgenommen" (255) habe, werde der hier begrabene Prophet nach dem Vorbild des Mose als "großer Fürbitter und Wundertäter an den Lebenden" (280) und als wunderkräftiger "Lokalheros" (268) dargestellt. Besonders die Daniel-Vita (296-371) entspreche in Inhalt und Aufbau den antiken "Grammatikerbiographien" (300). Daniel verkörpere in den VP das "Idealbild eines Propheten" (311), und auch er erhalte hier "die Funktionen eines charismatischen Fürbitters" (320). Daß die Vita LXX und Prototheodotion ineinanderarbeitet (328), bürge ebenso für ihr Alter wie das Fehlen jeder messianischen Weissagung (368). Dem Einwand Satrans, das in der Beschreibung der "Buße" Nebukadnezars verwendete Vokabular lege eine Spätdatierung nahe, begegnet Sch. mit dem Hinweis auf die Verwurzelung christlicher Frömmigkeitssprache in der des griechischsprechenden Judentums, "von der wir jedoch nur Texte in ganz zufälliger Auswahl und in Fragmenten besitzen" (349), womit sie allerdings weniger Satrans Argumentation entkräftet als vielmehr Gefahr läuft, ihrer eigenen den Boden zu entziehen. Die Kommentierung der Viten der kleinen Propheten und der Propheten aus den Geschichtsbüchern in Bd. 2 beginnt mit Hosea (1-19), dessen Vita besonders von eschatologischen Erwartungen bestimmt sei, die "den nationalen Hoffnungen auf die Sammlung des Zwölfstämmevolkes" (19) entsprechen.

Erfährt die von O. H. Steck aufgewiesene "deuteronomistische Doktrin vom gewaltsamen Geschick der Propheten" hier keine Betonung (3), so werde sie in der folgenden, besonders deutlich vom chronistischen Geschichtswerk abhängigen (25) Micha-Vita (20-32) dadurch eingegrenzt, daß die Kennzeichnung Israels als Täter zugunsten des Interesses "am individuellen Schicksal der einzelnen Propheten" (26) in den Hintergrund trete. Auch die Amos-Vita (33-39) übernehme die dtr. "Doktrin" in weitaus geringerem Maß als z. B. Mk 12,1-12 (39).

Während Sch. bei der Joel-Vita (40-42) die deutliche Orientierung am Chroniktext betont (41), weist sie bei der Obadja-Vita (43-47) darauf hin, daß diese zwar "im Einklang mit der legendären Hauptüberlieferung über den Propheten" stünde, aber nicht alles berichte, "was man über ihn in der späteren Haggada wußte" (47). Als Argument für die Frühdatierung der VP dürfte das m. E. jedoch nicht ausreichen, denn die Annahme einer homogenen, kontinuierlich wachsenden haggadischen Überlieferung ist kaum zu beweisen. In der Jona-Vita (48-83) weise die Lage des Geburtsortes des Propheten und ihr "palästinensisches Lokalkolorit" in die Zeit der Auseinandersetzungen zwischen jüdischer und heidnisch-hellenistischer Bevölkerung im Judäa des 2. Jh.s v. Chr.-1. Jh.s n. Chr. (58). Es sei nicht unwahrscheinlich, daß in den VP gegenüber der im biblischen Jonabuch verarbeiteten "judäischen Version der Jona-Legenden" eine "nördliche Konkurrenztradition" (67) erhalten ist. Auch die Nahum-Vita (84-92) sei abhängig von den Chronikbüchern (87 f.) und unabhängig von "dtr. Normaltheologie" (91).

In der Vita Habakuks (93-136) scheinen auch Auslegungstraditionen des biblischen Prophetenbuches aus der Zeit vor 70 n. Chr. überliefert (134), die allerdings später im Rückblick auf die Tempelzerstörung redigiert worden seien (121). Die Auswahl der biblischen Stoffe und deren Deutung seien in den Viten sowohl des Zephania (137-141) als auch des Haggai (142-150) und des Sacharja (151-175) Indizien gegen eine christliche Abfassung der Grundschrift. Besonders deutlich werde bei letzterem Propheten eine generelle "Tendenz in der Überlieferung der VP", nämlich die "sekundäre Angleichung an den Bibeltext" (174 mit Anm. 121). Die Maleachi-Vita (176-190) "vollziehe narrativ nach, was im Maleachibuch angelegt ist: Der Rückverweis auf den Beginn des Kanonteils ´Nebiim´" (190).

Besonders die Nathan-Vita (191-205) erlaube Rückschlüsse auf den Vf. der VP. "Schriftgelehrte Kenntnis" und die bereits erkennbare "Gleichsetzung der Propheten mit den Gesetzeslehrern" (198) deuteten auf seine pharisäische "´Parteizugehörigkeit´" (203 mit Anm. 67) hin.

Anzumerken wäre an dieser Stelle allerdings, daß die meisten jüdischen Nachrichten über die "Pharisäer" zurückprojizierte Aussagen über das Rabbinat sind (Stemberger, Saldarini). Die Viten des Achia von Silo (206-213), des Joad (214-219) und des Azarja (220-223) seien zwar am Chroniktext orientiert (215), enthielten jedoch auch zusätzliches zuverlässiges Material, das ihre Aufnahme in die VP unterstützte (223). Besonders die Elia-Vita (224-260) berge "manches missing link zwischen den atlichen und den sehr viel späteren rabbinischen Erzählungen" (227). Die Darstellung des Elia als des "Richters und Stellvertreters Gottes in der Endzeit" (259) erweise sich deutlich als älter sowohl als die tannaitische Haggada (257) als auch als die christliche hagiographische Tradition (260). Im Kommentar zur Vita des Elisa (261-282) betont Sch. nochmals die Kriterien, durch die sich i. E. die christlichen Ergänzungen vom jüdischen Grundtext unterscheiden: "Sprachform", "Schriftgebrauch" und "hagiographische Einflüsse" (281).

Die Sacharja ben Jojada-Vita (283-321) schließlich (einige Rezensionen identifizieren diesen Propheten mit dem Vater Johannes des Täufers) verarbeite den Untergang des Ersten Tempels, ohne dabei die Erfahrung der Katastrophe von 70 n. Chr. einfließen zu lassen, was eine Spätdatierung ausschließe (321). Nach der Behandlung der sekundären Anhänge in den verschiedenen Rezensionen der VP (322-328) kommentiert Sch. deren absichtsvoll gestaltete Subscriptio (329-334), die den Gesamtcharakter der Schrift unterstreiche, nämlich den eines "kleinen ´Bibellexikons´ zu den alttestamentlichen Propheten" (334) und eines Zeugnisses hellenistisch-jüdischer Frömmigkeit. Beigegeben ist eine Synopse aller verfügbaren gedruckten griechischen Textausgaben der VP (1*-76*).

In ihrer beeindruckenden, materialreichen und gründlichen Arbeit gelingt es Sch., schlüssig zu beweisen, daß die von Satran vorgeschlagene Spätdatierung der VP abwegig ist. Einleuchtend legt sie dar, daß die eschatologischen Konzepte (Bd. 1, 64) bzw. die fehlende Reaktion auf die Zerstörung des Zweiten Tempels (Bd. 1, 68), deutliche Bezüge auf die frühjüdische Zeit (Bd. 1, 87) und das Fehlen zahlreicher Evangelientraditionen bzw. messianischer Deutungen der Prophetenbücher entgegen der Gesamtheit der altkirchlichen Literatur (Bd. 1, 143; Bd. 2, 156 Anm. 23), die Verwendung der LXX als Grundtext (Bd. 1, 325) und vor allem die Rezeption jüdischer Traditionen aus der Zeit vor 70 n. Chr,. die nur wenigen kirchlichen Autoren im 4./5. Jh. n. Chr. zugänglich gewesen sein dürften, deutlich gegen die Annahme einer christlichen Grundschrift sprechen.

Man merkt der Arbeit an, daß Sch. über solide philologische und exegetische Fähigkeiten, aber auch über breite und genaue Kenntnisse der literarischen, archäologischen, epigraphischen und numismatischen Quellen verfügt. In dieses Dickicht des Vergleichsmaterials zu der "kleinen Sammlung" VP eine Bresche zu schlagen und es exakt und historisch abwägend zu analysieren und zu bewerten, ist ihr rundum gelungen. Zutreffend relativiert Sch. die Bedeutung von "Hebraismen" bei Datierungsfragen und verweist auf das mehrsprachige Milieu des antiken Palästina. Ebenso zutreffend sieht sie die rabbinische Literatur in ihrer zeitlichen und intentionalen Differenz zum Judentum vor 70 n. Chr. Und auch ihr Wissen darum, daß nicht alles, was bei Qumran gefunden wurde, dort auch abgefaßt wurde oder gar das Selbstverständnis der dort lebenden Gemeinschaft widerspiegelt (Bd. 1, 288 Anm. 234), ist noch nicht überall angekommen. Die Kommentierung der VP zeichnet sich durch eine Fülle von Einzelbeobachtungen aus; 27 (!) Exkurse behandeln eigenständige, aber durchaus nicht randständige Themen.

Anfragen betreffen Einzelheiten: Ist die Überlieferung der syrischen Übersetzungen (Bd. 1, l9 f.), besonders hinsichtlich der Toponyme, so einheitlich, daß sie generell auf die griechische Recensio anonyma zurückgeführt werden können? Können "Entwicklungen" in der Bedeutung eines Wortes zur Datierung eines Textes herangezogen werden (Bd. 1, 127), ohne daß man dabei Gefahr läuft, die tatsächliche, völlig heterogene Verwendung von Sprache zu unterschlagen? Kann man M Middot vorbehaltlos und ohne eingehende Analyse zur Rekonstruktion der baulichen Gestalt des Zweiten Tempels verwenden (Bd. 2, 297)? Schließlich ist ein nicht geringer Teil der rabbinischen Konzeption Programm für die Zukunft und nicht Erinnerung an die Vergangenheit (oder gar Beschreibung der Gegenwart).

Insgesamt hat Sch. nicht nur ein Standardwerk für die wissenschaftliche Verwendung der VP als eines wichtigen Dokumentes des hellenistischen Judentums geschaffen, sondern auch in mustergültiger Weise gezeigt, wie die Arbeit mit antiken religiösen Texten aussehen kann, wenn solide Quellenkenntnis, historischer Sachverstand und planvolle Methodik zusammenkommen.