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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1142–1144

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

García Martínez, Florentino and Julio Trebolle Barrera

Titel/Untertitel:

The People of the Dead Sea Scrolls. Transl. by W. G. E. Watson

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1995. VIII, 269 S. gr.8°. Kart. $ 42,­. ISBN 90-04-10085-7

Rezensent:

Roland Bergmeier

Den vorliegenden Band gesammelter Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1985­1993 haben die beiden renommierten Qumran-Spezialisten schon 1993 in Madrid unter dem Originaltitel Los Hombres de Qumrán publiziert; in englischer Übersetzung wendet sich der Sammelband nun an eine breitere Leserschaft. Merkmale der Aktualisierung weist er nicht auf, Bibliographie und Indizes fehlen, das Korrekturlesen war nicht immer erfolgreich, die Anmerkungen, kontinuierlich über die unterschiedlichen Beiträge durchgezählt, finden sich am Ende des Buchs nach S. 233. Acht von den zwölf sind gesammelte Studien von García Martínez, dessen Beitrag zu den messianischen Erwartungen in den Qumranschriften man auch im Jahrbuch für Biblische Theologie 8, 1993, in deutscher Übersetzung lesen kann. Insgesamt gruppieren sich die Aufsätze um drei Themenkreise: 1. Was wissen wir über die Menschen und die Gemeinde von Qumran? 2. Inwieweit haben die Textfunde vom Toten Meer unser Wissen verändert über Entstehungs-, Überlieferungs- und Auslegungsgeschichte der hebräischen Bibel, über das Fundamentalproblem "Reinheit" und über die messianischen Erwartungen im frühen Judentum? 3. Was lernen wir aus den Qumranfunden im Blick auf das NT und das werdende Christentum? Aus der Fülle der Aspekte wähle ich aus:

1. Über die Wurzeln und die Entstehungsgeschichte der Qumrangemeinde lernt der Leser, wenn er sie nicht schon kennt, zwei differierende Einschätzungen kennen. Einig sind sich beide Forscher in der Widerlegung der medienwirksamen und gleichermaßen halluzinatorischen Hypothesen von R. Eisenman und B. E. Thiering, einig auch darin, daß die Apokalyptik der Mutterboden, der Essenismus die Stammgruppe der Qumrangemeinde waren. Trebolle Barrera erarbeitet Fixpunkte historischer und exegetischer Art, die er vorsichtig in einen größeren Rahmen einordnet. So erhellen nach ihm die Schriftrollen vom Toten Meer die Entstehungsphase des Frühjudentums und lassen dieses als pluriforme Größe erscheinen. Ohne die Frage nach dem Zusammenhang von chasidischer und essenischer Bewegung zu klären (64), votiert der Vf. für den essenischen Charakter der Qumrangemeinde und hält diesen wiederum für maßgeblich apokalyptisch bestimmt. Als historisches Gerüst ergibt sich daher die Abfolge: Apokalyptik ­ apokalyptischer Essenismus ­ qumranessenischer Sonderweg halachischer Interpretation und apokalyptischer Offenbarung. Der Bruch mit der Jerusalemer Priesterschaft war der Grund für den Rückzug in die Wüste, er erfolgte in Opposition zu Jonathan, dem "Frevelpriester", unter Führung des Lehrers der Gerechtigkeit in der Mitte des 2. Jh. v. Chr. Nähe und Differenz bestimmen gleichermaßen den Konflikt mit den Sadduzäern (= "Manasse") und den Pharisäern (= "Ephraim"). An der Kalenderfrage schieden sich die Geister (67).

Die sogenannte "Groningen­Hypothese", grundgelegt von García Martínez 1985, verwurzelt die essenische Bewegung in der vormakkabäischen Apokalyptik Palästinas und erklärt die Entstehung der Qumrangemeinde aus einem Bruch innerhalb des Essenismus. Zu Recht betont der Vf., allerdings ohne sich auf eine Auseinandersetzung mit H. Stegemann einzulassen, mit Entschiedenheit: Die Qumrangemeinde war eine Randerscheinung, isoliert und abseits vom übrigen Judentum (11). Für das Schisma steht nicht die Auseinandersetzung mit Jonathan und der hasmonäisch dominierten Priesterschaft gut, da sich die Rede vom "Frevelpriester" auf mehrere Hohepriester beziehe, sondern die "Zurechtweisung" des "Lügenmanns" durch den Lehrer der Gerechtigkeit, die den Exodus in die Wüste Juda, und zwar während der Amtszeit Johannes Hyrkans (134­104 v. Chr., 11), zur Folge hatte. Bei dieser Deutung der "Zurechtweisung" sind offensichtlich Subjekt und Objekt verwechselt. Vor allem aber wird nicht ersichtlich, wie man das Essenerbild der klassischen Quellen mit Apokalyptik nach Art von Jubiläenbuch, Henochliteratur und Kriegsrolle in Verbindung bringen kann. Und unverständlich bleibt, wie es in einem ausgerechnet durch Jub 4,17 f. und I Hen 72­82 charakterisierten apokalyptischen Wurzelgrund des Essenismus mit Blick auf Kalenderfragen zum Bruch in der essenischen Bewegung gekommen sein soll.

2. Trebolle Barrera verdeutlicht den Zugewinn an Information über Text, Textversionen und Textgeschichte der biblischen und deuterokanonischen Bücher, über die Entstehung des Kanons als Parallelerscheinung zur Formierungsphase des Frühjudentums, über die Bibelauslegung in Qumran und deren Affinitäten zur Schriftauslegung im frühen Christentum. Hervorzuheben ist die Erkenntnis der Pluralität von Texttypen insgesamt und der Verbreitung des samaritanischen Texttyps im besonderen. Der samaritanische Bruch mit eigener Textrezension gehört somit in die gleiche Periode wie die Separation der Qumrangemeinde. Zum gleichen Themenkreis gehört von García Martínez der instruktive Beitrag "Biblical Borderlines" (123­138). Ob allerdings die aramäischen Fragmente 4Q ProtoEsther tatsächlich als Vorstufe der kanonischen Estherrolle anzusehen sind, erscheint mir angesichts der geringen Sachparallelen fraglich. "Jüdisch-persische Hof-Legenden" dürfte ihren Charakter wohl eher treffen.

Im Beitrag zu den messianischen Erwartungen in Qumran entfaltet der Vf. die ganze Breite aller Texte, die aus der Nähe oder Ferne mit messianischer Hoffnung zu tun haben oder haben könnten. Die Rede von Tradition (165.182) ist aber im Blick auf die Zeit der Entstehung der Messiasbilder eher störend. Schritt für Schritt durchmißt der Vf. die Texte zum "davidischen Messias", zum "priesterlichen" und gar zum "himmlischen Messias", alsdann die Texte mit mehreren messianischen Gestalten. Dabei deutet der Vf. auch den endzeitlichen Propheten als messianische Gestalt. Ob 4Q174 und 521 tatsächlich in den Rahmen messianischer Hoffnung gehören, muß diskutiert werden. Sicher kann man mit Hilfe von K. Beyers Ergänzungsband (Die aramäischen Texte vom Toten Meer, 1994) aus der Sammlung messianischer Texte ausscheiden: 4Q541 (der an die Kreuzigung erinnernde "Nagel" [172] ist hohepriesterliches Stirndiadem) und 4Q246, wo ja die heilvolle Endzeit nicht mit dem Auftreten des "Gottessohns" (der letzten widergöttlichen "Größe"), sondern mit dem Herrschaftsantritt des jüdischen Volkes beginnt.

3. Übereinstimmend stellen beide Autoren klar, daß das werdende Christentum historisch nicht aus dem Essenismus hergeleitet werden kann. Aber, so halten sie fest, die Qumranfunde haben unsere Kenntnis des Judentums, aus dem das Christentum hervorgegangen ist, vertieft und bereichert und zu einer ganzen Reihe von Formulierungen, Themen, Motiven und Vorstellungen das Material geliefert, das uns das NT besser verstehen läßt. Zu alledem haben beide Vff. noch einmal viele Einzelbelege notiert und Zusammenhänge dargestellt. Ob man aber ­ zumal angesichts der Formulierungen von 1QS 5,26 und 10,17f. ­ kai miseseis ton echthon sou Mt 5,43 mit dem sehr spezifischen Hassen von 1QS 1,10; 9,21 f. (= keine Zurechtweisung üben und die der Gemeinde offenbarte Halacha vorenthalten) in Verbindung bringen sollte, scheint mir fraglich zu sein. Schließlich fiel mir auf, daß zur ApkJoh keine Parallelen notiert wurden, obwohl das Eröffnen der Schriftrolle mit den sieben Siegeln (131) oder die aramäischen Texte über das neue Jerusalem durchaus erwähnenswert gewesen wären.