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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1136–1138

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Nielsen, Eduard

Titel/Untertitel:

Deuteronomium

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. X, 311 S. gr.8° = Handbuch zum Alten Testament, I/6. DM 88,­. ISBN 3-16-146253-X

Rezensent:

Lothar Perlitt

Im HAT, seit den 30er Jahren von Otto Eißfeldt hg., liegt hier zum erstenmal ein Dtn-Kommentar vor ­ "in piam memoriam Aage Bentzen", den 1953 verstorbenen Lehrer Nielsens, dem Eißfeldt 1933 das Dtn anvertraut hatte. Er hinterließ ein unvollendetes, auch nicht zur Revision geeignetes Manuskript. So übergab Eißfeldt 1954 die große Aufgabe an N., der 1956 Bentzens Nachfolger in Kopenhagen wurde. Im Mai 1993, 40 Jahre danach, schrieb N. in das Vorwort einen Satz, der nur Unkundige erheitern wird: "Ja, ich wurde dermaßen geehrt, daß ich in meiner jugendlichen Naivität zugestimmt und die Fertigstellung der Arbeit noch binnen drei Jahren versprochen habe" (V).

Wissenschaftliche Kommentare zu den großen Büchern der Bibel wachsen mehr und mehr zu bedrückenden Lebensarbeiten heran. N.s Werk ist schon deshalb willkommen, weil seit S. R. Driver (31902) und C. Steuernagel (21923), also über fast drei Generationen hin, nur mehr oder weniger allgemeinverständliche Kommentare zum Dtn erschienen sind (G. v. Rad, 1964 im ATD). Umgekehrt konnte N. von den neuen Anfängen noch nicht wirklich Gebrauch machen: M. Weinfeld, Dtn 1-11 (1991), L. Perlitt, Dtn 1 ff. (1990 ff. in Lieferungen).

Als unmittelbar Betroffener habe ich das vollendete Werk N.s mit Bewunderung und nicht ohne Neid in die Hände genommen. Nach den Anforderungen des HAT hat er Dtn 1-34 auf ca. 300 S. kommentiert, Weinfeld auf 458 S. nur Dtn 1-11, ich selbst auf bisher 240 S. nur Dtn 1,1-3,11, und das kann kein gutes Ende nehmen. Natürlich erzwingen die Umfangsvorgaben der verschiedenen Reihen auch bestimmte exegetische Verfahren. Beliebiges Beispiel: N. erledigt die Textkritik zur Kundschaftererzählung in 1,19-46 auf 1/4 Seite, ich das auf 4 1/2 Seiten in die Länge und in die Breite. Der ´Verbraucher´ wird sich darauf einen Vers machen: N.s Kommentar ist noch bezahlbar, der meine wird es ohne einen Erbfall kaum sein. Jedenfalls hat der Rez. im vorliegenden Fall diese Nötigung zur Kürze immer im Blick zu haben.

Knapp gehalten ist schon die Einleitung (1-13) über Name, Inhalt, Aufbau, Entstehung und Programm (Reinheit und Einheit des Kultes: wie gehabt) des Dtn. N. geht dabei auf thematische und methodische Novitäten, an denen ja kein Mangel herrscht, kaum ein. Er hält aber an der von Welch, Bentzen, Alt, Wolff und ihm selbst vertretenen These von der (levitischen) Herkunft des Dtn aus dem Norden fest. Die "Verwandschaft" des Dtn mit Hosea erkläre sich eben dadurch, daß Flüchtlinge aus dem Nordreich hoseanische Sprüche nach Juda mitbrachten. Daß, umgekehrt, das Hoseabuch einer kräftigen dtr Redaktion unterzogen worden sein könnte, erwägt N. nicht. Zwar beruft er sich gegen mancherlei unausgegorende Kritik auf M. Noths Ansichten zum DtrG, aber er hält es für unwahrscheinlich, daß das ´Urdeuteronomium´ mit 6,4-9, also ohne historische Einleitung oder Hinführung, je begonnen habe ­ ebensowenig ohne Zentralisationsforderung.

Das "Gesetzbuch, in seiner jetzigen Gestalt... ist ein Produkt aus exilisch-nachexilischer Zeit", nicht in Babylon, sondern "in Jerusalem entstanden"; es ist in ca. 150 Jahren "nicht durch die Verknüpfung heterogener Quellenschriften, sondern durch eine ständig unternommene Interpretation und Aktualisierung entstanden" (7). Das ist richtiger als die Anwendung der Hypothese von den zwei, drei etikettierten Deuteronomisten auf das Dtn. Mit der (überreichlichen) neuesten Literatur der verschiedenen ´Schulen´ zum Dtn setzt sich N. nicht (mehr) programmatisch auseinander. Für die literarkritischen Analysen der Gesetze beruft er sich beispielsweise auf die Monographien von R. P. Merendino (1969) und G. Seitz (1971), arbeitet am meisten aber wohl mit Hölscher (1922) und Steuernagel (1923). Die Sekundär-Literatur wird, in rigoroser Auswahl, nach Dtn-Abschnitten und nach Themen aufgelistet.

N. unterteilt das Dtn in 5 große Abschnitte (Kap. 1-4. 5-11. 12-25. 26-30. 31-34), legt die Texte aber in kurzen Sinnabschnitten aus (z. B. 1,1-5; 1,6-3,29; 4,1-8; 4,9-40; 4,41-43; 4,44-49). Diese Exegesen vollziehen sich in 4 Schritten: "Literarkritisches", "Redaktions- und Traditionsgeschichtliches", "Formkritik und Struktur" sowie (ohne eigene Überschrift) Wort- und Sacherklärungen ­ alles in der Knappheit, die bei bestimmten Problemen nur ein lexikalisches Minimum zuläßt.

In literarhistorischer Hinsicht unterscheidet N., auch nach Drucktypen, 4 Schichten: "Vor- und Früh-Deuteronomisches", "Deuteronomisches", "Deuteronomistisches und Nach-Deute-ronomistisches" (also beides zusammengenommen) und "Priesterschriftliches". Von der opinio communis weicht er besonders darin ab, daß er (nicht mit einer dtr, sondern) mit einer "deuteronomischen" Grundschicht schon in den geschichtlichen Rückblicken von Dtn 1-3 rechnet. So führt diese "dt" Schicht von 3,13a.29 über 4,1-2 direkt zu 6,4 ff. und bildet N.s primäre Einleitung in das Gesetz. Wieder am Beispiel der Kundschaftererzählung verdeutlicht: Verse wie 1,12.31.33 (gegen die Erklärung nicht kursiv). 36-38, die traditionell als dtr Ergänzungen zur dtr Grundschicht angesehen werden, bringt N. unter die eine Chiffre "Deuteronomistisches und Nachdeuteronomistisches". Damit erspart er sich weitgehend die Querelen um die dtr Schichten, nimmt aber den Mangel an Differenzierung in Kauf.

Unter "Formkritik und Struktur" zum selben Text referiert N. ohne jede Kommentierung die von J. G. Plöger und N. Lohfink gefundenen "konzentrischen Strukturen": Offenbar soll sich der Leser sein Teil denken. Bei der Worterklärung verzichtet er wohl aus Platzmangel gerade in diesem Textbereich nicht selten auf gründlichere Erläuterung von historischen, geographischen und topographischen Zusammenhängen.

Die "Überleitung zur Gesetzespromulgation und Paränese" steht für N. in 4,1-8, im Grunde nur in 4,1-2 (55). Die große "Ermahnungsrede" 4,9-40 weist N., wie beinahe üblich, einer "spät- oder nach-dtr Redaktion" zu (59 ff.). Beim Dekalog, für den er durch sein eigenes Buch von 1965 gerüstet war, geht N. davon aus, "daß die Exodus-Rezension die ältere ist, was von der bisherigen Forschung schon lange festgestellt worden ist" (72 f.).

Erstaunlicherweise wird die das Gegenteil vertretende Monographie von F.-L. Hossfeld (Der Dekalog, 1982, 300 S.) nicht einmal erwähnt. In der "Formkritik" zum Dekalog nennt N. Jirku (1927) und Jepsen (1927 und 1967), Alt (1934) und Gerstenberger (1961), kurz auch Mendenhall (1955), Nötscher (1965) oder Perlitt (1969), hält sich aber auch hier das Palaver der jüngsten Forschung vom Leibe. Bedenkt man, daß Weinfeld für seinen Kommentar zum Dekalog und dessen Rahmung fast 100 S. brauchte, so sind die 14 S. N.s zu "5,1-33 Bund am Horeb und Dekalog" eine Leistung sui generis.

Dtn 6,4 f. (Übersetzung: "Höre Israel, weil Jahwe, unser Gott, ein Jahwe ist, sollst du...") ist für N. also nicht "der Anfang des ursprünglichen dt Gesetzbuches", wie die "recht beliebte Hypothese" will, weil (s. o.) das Gesetzbuch eben nie ohne "eine geschichtliche Einleitung" war (85). Als vor-dtr, und d. h. im Sinne N.s als "dt" gelten dann in Dtn 6-11 nur die paar Verse 6,4-9.10-13; 7,1a.3.6; 8,7-10.17.18a; 10,12.20. Gegen Formuntersuchungen in diesem Textbereich (vgl. nur N. Lohfinks Hauptgebot, 1963) zeigt N. sich abstinent oder eher resistent (vgl. 90).

Dtn 12,1-16,17 sind "Gesetze kultischen Inhalts" (131-173), Dtn 16,18-18,22 solche "über die Amtsträger Israels" (173-187). G. Brauliks Versuch, "die ´Abfolge´ der Gesetze in Dt 12-25 als Ausdruck eines Bestrebens, die Botschaft des (ethischen) Dekalogs zu entfalten" (135 f.), wird von N. bemerkt, aber nicht einmal beurteilt. Über die Haupttypen der Gesetze in Dtn 19-25 gibt er eine praktische Übersicht (194-196). "Vor- und Früh-Deuteronomisches" bildet die (in aller Regel schmale) Basis beinahe aller Gesetze in Dtn 12-25, die N. im übrigen in Anlehnung an die o. g. klassischen Kommentare und Monographien analysiert und (relativ einfach) schichtet.

Die abschließenden Abschnitte betreffen "26-30 Israel unter Segen und Fluch" (235-272) sowie "31-34 Moses Abschied von Israel" (272-311). Mir fiel besonders auf, daß bei Dtn 34 die Verarbeitung der Forschung bei M. Noth (1943) endet. Exemplarisch und geschmackloserweise nenne ich einmal zwei eigene Aufsätze: "Mose als Prophet" (1971) zu 34,10; "Priesterschrift im Deuteronomium?" (1988) zu 34,1.7-9. Natürlich hängt daran nicht viel, aber der durchschnittliche Kommentarbenutzer braucht doch auch solche Hinweise auf andere Stimmen ­ egal ob falsch oder richtig.

Wie N. beim Kommentar ist auch mir bei dieser Rez. der Umfang vorgegeben. Ich kann also seine literarkritsche und traditionsgeschichtliche Arbeit an den einzelnen Texten nicht einmal andeutungsweise vorführen. So bleibt mir nur das abschließende Urteil: Auf den 300 S. dieses Werkes bekommt man, aufs äußerste komprimiert, das Wichtigste und wohl auch das Nötigste zum Verständnis des Dtn geboten: eine beachtliche Leistung. N. diskutiert nicht jede Novität und schon gar nicht jede Mode; er verläßt sich auf seinen Geschmack für das, was in den Jahrzehnten davor galt oder zu gelten schien. Ich stelle mir vor, wie tief er durchgeatmet hat, als er den prächtigen Band in der Hand hielt.