Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1133–1135

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Groß, Walter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jeremia und die "deuteronomistische Bewegung"

Verlag:

Weinheim: Beltz Athenäum 1995. 397 S. gr.8° = Bonner Biblische Beiträge, 98. Kart. DM 98,­. ISBN 3-89547-068-6

Rezensent:

Wilfried Thiel

Der Band enthält die Vorträge, die auf der Tagung der "Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger katholischer Alttestamentlerinnen und Alttestamentler" vom 30. August bis 3. September 1993 in Frankfurt/M. gehalten wurden. Dabei ging es in überwiegend kontrovers gehaltenen Beiträgen um die Beurteilung der joschijanischen Reform und der Frühverkündigung Jeremias, um die Klärung des Phänomens "deuteronomistisch (dtr)" bzw. "deuteronomistische (dtr) Bewegung" und deren möglichen Einfluß auf die Entstehung der Bücher Jeremia und Ezechiel.

Den Reigen der Beiträge eröffnet J. Schreiner mit einem Forschungsbericht "Jeremia und die joschijanische Reform. Probleme­Fragen­Antworten" (11-31). Er diskutiert das Datum der Berufung Jeremias (Jer 1,2), den Charakter des sog. Reformberichtes in 2Kön 22-23* und Jeremias Stellung zur Reform und kommt zu dem Ergebnis, "daß im Jeremiabuch ein dtr verstandener Jeremia, der sich auch als solcher nicht dazu geäußert hat, für die dtr konzipierte Kultreform des Königs Joschija herangezogen werden soll" (28). Als eine Problemanzeige versteht H. Niehr seine Überlegungen über "Die Reform des Joschija. Methodische, historische und religionsgeschichtliche Aspekte" (33-55). Sie führen ihn auf der Grundlage archäologischer und literarischer Quellen sowie eines entschlossen "minimalistischen" Ansatzes zu der Überzeugung, daß die Reform Joschijas bestenfalls ein Verwaltungsakt war, durch den der König "Ortsheiligtümer unter seine Kontrolle brachte, königliche Beamte zur Rechtsprechung einsetzte und das Land in Verwaltungsbezirke aufteilte" (49). Die Vorstellung einer Kultreform ist als exilisch-nachexilische Fiktion zu beurteilen, die den Anspruch der Priesterschaft des Zweiten Tempels widerspiegelt. In einem Korreferat übt C. Uehlinger, ebenfalls auf der Basis des "minimalist approach", profunde Kritik an den Folgerungen Niehrs ("Gab es eine joschijanische Kultreform? Plädoyer für ein begründetes Minimum", 57-89). Er selbst hält wenigstens die Abschaffung von Elementen der Astralreligion (Sonnenrosse, kemarim, Dachaltäre) und die Entfernung der Aschere aus dem Tempel in der Zeit Joschijas für plausibel. Über die Kultzentralisation wird leider nicht gehandelt.

Die nächsten Beiträge wenden sich dem Jer-Buch zu. D. Böhler interpretiert die Genusdifferenz in Jer 2,2-4,2 (wie in Kap. 30-31) als ein bewußtes Stilmittel. Die Texte selbst stellen eine Botschaft Jeremias an das Gebiet des ehemaligen Nordreiches dar und gehören in die Regierungszeit Joschijas ("Geschlechterdifferenz und Landbesitz. Strukturuntersuchungen zu Jer 2,2-4,2", 91-127). G. Fischer untersucht "Aufnahme, Wende und Überwindung dtn/r Gedankengutes in Jer 30 f." (129-139). Es ergibt sich eine starke Nähe der Sprache der Kapitel zur dtn/r Terminologie, ebenso aber auch eine auffällige Andersartigkeit. Dtn/r Sprache und Vorstellungswelt sind offensichtlich vorausgesetzt, werden aber überschritten. Die Annahme einer dtr Redaktion sei daher zu bezweifeln. Der Aufsatz endet mit offenen Fragen.

Das wichtige Kapitel Jer 7 unterzieht T. Seidl einer eindringenden Analyse ("Jeremias Tempelrede: Polemik gegen die joschijanische Reform? Die Paralleltraditionen Jer 7 und 26 auf ihre Effizienz für das Deuteronomismusproblem in Jeremia befragt", 141-179). Sie ergibt, daß der Text eine dtr geprägte, exilische Redekomposition (von unterschiedlichen Verfassern) darstellt, die das ergangene Gericht begründen will. Ein älteres jer "Tempelwort"(1) oder andere jer Überlieferungselemente sind nicht erkennbar. Für die Stellung zum Deuteronomium und zur joschijanischen Reform wirft der Text daher nichts ab. Er liefert aber "durch sein deuteronomistisches Eigengut den Nachweis für eine mehrfach geschichtete und intentional unterschiedlich ausgerichtete deuteronomistische Arbeit am Jeremiabuch" (175). In seinem Korreferat merkt J. P. Floß einige methodische Desiderate im Argumentationsgang Seidls an ("Methodologische Aspekte exegetischer Hypothesen am Beispiel von Theo Seidls Beitrag zur ´Tempelrede´", 181-185).

Mit dem Titel "Jeremia 32,2-15* als Eröffnung der Erzählung von der Gefangenschaft und Befreiung Jeremias in Jer 34,7; 37,3-40,6*" (187-214) gibt C. Hardmeier die These seines Aufsatzes an: Jer 32,2 und 6a bilden "den alten Erzählrahmen zum Ackerkaufbericht von 6b-15" (201). In dieser Form stellt der Text die Einleitung zu der von H. eruierten Tendenzerzählung von "Gefangenschaft und Befreiung Jeremias (GBJ)" in 34,7; 37,3-40,6* dar. Das ist ein erwägenswerter Vorschlag, der allerdings selbst auch wieder Schwierigkeiten hervorruft.(2) Durch die JerD-Komposition wurde der ursprüngliche Zusammenhang auseinandergerissen. In seinem knappen, durchweg synchron orientierten Korreferat bestimmt J. M. Oesch das ganze Kapitel als "Text der Restauration, in dem es nicht mehr um die Vermittlung von Heilszeichen und tröstlichen Hoffnungsworten geht, sondern um die grundsätzliche Frage nach dem gerechten und sinnvollen Handeln JHWHs" (222). Durch die Gestaltung von Identifikations- und Gegenidentifikationsfiguren werden überdies Verhaltensanweisungen an die Adressaten des Textes erteilt ("Zur Makrostruktur und Textintentionalität von Jer 32", 215-223).

Die redaktionsgeschichtliche Erklärung der Entstehung des Jer-Buches wird von H.-J. Stipp anhand der vom Rez. vorgelegten Konzeption exemplarisch überprüft ("Probleme des redaktionsgeschichtlichen Modells der Entstehung des Jeremiabuches", 225-262). Er wirft ihr vor allem einseitiges Rekurrieren auf die Sprachstatistik vor und lehnt den Aufweis originaler Überlieferungen in den dtr Texten wegen des Fehlens manifester Kohärenzstörungen ab. Anscheinend bevorzugt er selbst eher ein Fortschreibungsmodell, meint aber: "Die Frage nach dem konkreten Verlauf der Entstehungsgeschichte des Jer wird man jedoch besser als offen bezeichnen." (257)(3) "Bemerkungen zur älteren Diskussion um die Unterschiede zwischen MT und G im Jeremia-Buch" (263-270) steuert F. D. Hubmann zur Debatte bei, indem er die Diskussion um die Priorität der Textform seit J. D. Michaelis und J. G. Eichhorn darstellt, die ihr zugrundeliegenden treibenden Motive aufweist und deren Neubelebung in der Gegenwart prognostiziert.

Zum Verhältnis zwischen dem Ez-Buch und der dtr Literatur stellt F.-L. Hossfeld die unterschiedlichen Ergebnisse der einschlägigen Forschungen dar. Anschließend untersucht er das Problem stichprobenartig an drei ausgewählten Texten, die unter dem Verdacht dtr Bearbeitung stehen (Ez 11,14-21; 20*; 36,23bß-28.31 f.). Dieser Verdacht bestätigt sich in allen Fällen. Doch gehören die betreffenden Passagen nicht zum authentisch-ezechielischen Textmaterial, sondern zu späteren Fortschreibungen, wenn auch nicht zur letzten Stufe der Textschichtung. Dabei stellt die Mischung mit Sprachmaterial anderer Herkunft (priesterlich, deuterojesajanisch usw.) ein noch zu bearbeitendes Problem dar. Ein abgewogenes Urteil, das voll überzeugt! ("Ezechiel und die deuteronomisch-deuteronomistische Bewegung", 271-295) Allein dem Text Ez 11,14-21 wendet sich F. Sedlmeier unter derselben Fragestellung zu ("´Deine Brüder, deine Brüder...´ Die Beziehung von Ez 11,14-21 zur dtn-dtr Theologie", 297-312). Er beurteilt den Text als redaktionelle Komposition, die Textelemente aus dem Ez-Buch mit dem Prophetenbild von Dtn 18,15-22 kombiniert, und vermutet eine gegenseitige Beeinflussung von dtr Kreisen der Exilszeit und von Ez-Schülern.

In einer gründlichen und viele benachbarte Probleme(4) aufgreifenden Untersuchung erörtert N. Lohfink die Frage "Gab es eine deuteronomistische Bewegung?" (313-382). Nach einer Klärung der in diesem Begriff gesetzten Tatbestände und ihrer Ermöglichungsbedingungen prüft L. die einschlägigen Textbereiche. Demnach beweist das Hos-Buch mitnichten die Existenz proto-deuteronomischer Kreise im Nordreich. Ob hinter den Maßnahmen Hiskijas, die auf eine Kultreduktion hinauswollten, eine bestimmte Bewegung stand, ist nicht auszumachen. Hingegen darf man hinter der Reform Joschijas wohl begründet eine Gruppenunterstützung annehmen, die aber als "deuteronomische Reformbewegung" kaum sachgemäß bezeichnet ist, sondern besser "Restaurationsbewegung der Joschijazeit" genannt werden sollte. Auch in der Exilszeit kann man mit einer "Bewegung" unter der babylonischen Gola rechnen (L. siedelt dort auch die Entstehung des DtrG an), die man eher "exilische Umkehrbewegung" nennen sollte.

Unter Vorbehalten räumt L. ein: "Vielleicht könnte man innerhalb dieser Bewegung von einer deuteronomistischen und von anderen ´Schulen´ sprechen." (364) In späterer Zeit gehören Dtn und dtr Schriften zum Bildungsrepertoire, so daß semantische und stilistische Anleihen ohne das Postulat einer "Bewegung" angenommen werden können. Es handelt sich um ein gewichtiges Votum. Die Abgrenzung gegenüber dem"Pandeuteronomismus" und der Inflation des Begriffes "dtr" ist sicher berechtigt, aber das Gewicht der dtr Literatur konvergiert schwerlich mit der These des Aufsatzes. "Anspielungen und Zitate innerhalb der hebräischen Bibel" führt am Ende des Bandes G. Vanoni "Am Beispiel von Dtn 4,29; Dtn 30,3 und Jer 29,13-14" (Untertitel) vor und beurteilt Dtn 30 als die Ausgangsstelle (383-397).

Bemerkenswert an den Beiträgen des Bandes ist das Zurücktreten der redaktionskritischen Fragestellung und die Zurückhaltung gegenüber der Beobachtung schichtenspezifischer Merkmale. Der Hg. formuliert im Vorwort: "Dringend geboten ist eine die Schulgrenzen überwindende Verständigung darüber, welche sprachlichen und/oder inhaltlichen Elemente dazu berechtigen, eine Wendung oder einen längeren Abschnitt als dtr zu bezeichnen, und was diese Bezeichnung bezüglich Trägerkreis und Datierung impliziert." (9) Dem kann man nur zustimmen.

Fussnoten:

(1) Bei der Vorstellung meiner Rekonstruktion dieses Tempelwortes ­ an der ich nach wie vor festhalte ­ bemerkt Seidl (145): "Maßstab ist... die stillschweigend vollzogene Voraussetzung, der authentische Jeremia sei tempelkritisch und damit antideuteronomisch gewesen." (Hervorhebungen von mir) Bei genauerer Lektüre hätte sich eine solche unsachliche Unterstellung erübrigt.
(2) H. nennt sie teilweise selbst: der im Jer-Buch singuläre Erzählanfang mit die gegenüber 37,3 ff. historisch spätere Situation von 32,2.6-15 ("ein makrostruktureller casus pendens", 205, vgl. 208), die Existenz eines Selbstberichtes innerhalb eines nur aus Fremdberichten bestehenden narrativen Zusammenhanges.
(3) Es ist hier nicht der Raum dazu, sich mit einem Beitrag, den ich nur in ganz knappen Strichen nachzeichnen konnte, auseinanderzusetzen. Zum Punkt der nicht vorhandenen Kohärenzstörungen erlaube ich mir nur die Bemerkung, daß der Vf. hier anscheinend einer eingeschränkten Wahrnehmung unterliegt oder unter "Kohärenz" etwas anderes versteht als ich. Im übrigen darf ich darauf verweisen, weil das aus meinem Buch nicht hervorgeht, daß ich die These von der dtr Redaktion des Jer-Buches nicht von J. P. Hyatt übernommen habe, sondern sie bereits entwickelt hatte, ehe mir seine Arbeiten vor Augen kamen.
(4) Buchentstehung und Lesekultur in Israel, die Existenz eines "Jerusalemer Zentralgerichts", die Validität des "Göttinger Schichtenmodells" für die Entstehung des DtrG, der Entstehungsort dieses Werkes, die Wahrscheinlichkeit neuerer Pentateuchmodelle und der persischen "Reichsautorisation" u.a.