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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1130–1133

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gertz, Jan Christian

Titel/Untertitel:

Die Gerichtsordnung Israels im deuteronomischen Gesetz

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994. 256 S. gr.8° = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 165. Lw. DM 84,­. ISBN 3-525-53847-2

Rezensent:

Eckard Otto

1929 betitelte W. Baumgartner seinen in der Theologischen Rundschau erschienenen Literaturbericht zur Deuteronomiumsforschung mit der Überschrift: "Der Kampf um das Deuteronomium". Alttestamentler, die etwas auf sich hielten, griffen in das Kampfgeschehen ein und bezogen Position. Eine breitere Zuschauerschar von Schlachtenbummlern in Kirche und Fakultäten beobachtete interessiert das Geschehen. Warum so heftige Diskussionen um und so viel Interesse am Deuteronomium? Die Antwort liegt auf der Hand: Das Deuteronomium ist mit W. M. L. de Wettes "dissertatio critico-exegetica" von 1805, die die Abfassung einer Grundschrift des Deuteronomiums mit der Reform des Königs Josia verbindet, zum Ausgangspunkt der Pentateuchforschung in Gestalt der Neueren Urkundenhypothese Wellhausens u.a. geworden. Die Datierung der Pentateuchquellen J, E, P orientierte sich an ihrem Verhältnis zum Deuteronomium.

Der Kampf ums Deuteronomium schien seit den dreißiger Jahren für einige Jahrzehnte aufgrund der Erschöpfung der Kombattanten und eines Mangels an neuen Argumenten ausgesetzt worden zu sein ­ doch nun, da die Pentateuchforschung nach dem Ende der Neueren Urkundenhypothese neu ansetzen muß, rückt das Deuteronomium, das weiterhin die Schlüsselfunktion für jede Pentateuchhypothese hat, wieder in das Blickfeld und, wie nicht anders zu erwarten, werden wieder die schon vor siebzig Jahren vertretenen Positionen besetzt. Anders aber als in den zwanziger Jahren ist durch jahrzehntelange Arbeit am Detail das Diskussionsinstrumentarium so komplex geworden, daß die Auseinandersetzungen heute ohne Schlachtenbummler in kleinen Expertenkreisen der Deuteronomiumsforschung geführt werden ­ manchmal, wie im vorliegenden Fall auch in Dissertationen, die an einem Lehrstuhl geschrieben wurden.

Das deuteronomische Gesetz enthält nebeneinander Gesetze einer gentilen Laiengerichtsbarkeit der Ältesten (Dtn 19,1-13; 21,1-9; 21,18-21; 22,13-21; 25,5-10) und einer professionalisierten Richterjudikatur von Orts- und Zentralgericht (Dtn 16,18­17,13). Diese rechtshistorische Sachdifferenz ruft nach einer Auflösung durch literarkritische Operationen. Der finnische Alttestamentler A. F. Puukko (1910) sah im Deuteronomium ein gezielt für die josianische Kult- und Gerichtszentralisierung verfaßtes Dokument. Alles, was sich im Dtn nicht diesem Thema beugt, sei literarischer Zusatz, so daß die josianische Urkunde Gesetze zur Richterjudikatur enthielte, die Gesetze zur Laiengerichtsbarkeit aber späte Ergänzung seien. Umgekehrt hat G. Hölscher (ZAW 40, 1922, 161-255) im Dtn die Utopie eines unpraktischen Idealismus von Priestern im Exil gesehen, die sich aber u. a. mit den Ältestengesetzen vorexilischen Materials bedienten, mit denen der Richterjudikatur aber ihrer Utopia frönten. Diese Position wird in der 1988 publizierten, bei L. Perlitt geschriebenen Dissertation von J. Buchholz(1) erneuert.

Die Richterrechtsprechung sei auf dtr Ergänzungen der exilisch-nachexilischen Zeit zurückzuführen, setze das dtr Richterbild im Deuteronomistischen Geschichtswerk voraus und spiegele eine exilisch-nachexilische Neuregelung der Gerichtsorganisation wider, während die Ältestengesetze vordtr seien. Die hier anzuzeigende Dissertation des Mainzer Assistenten J. C. Gertz, die ebenfalls bei L. Perlitt geschrieben wurde, schließt sich dagegen wieder an A. F. Puukko an und kehrt das Verhältnis von Richter- und Laiengerichtsbarkeit um: Die Gesetze professionalisierter Richterjudikatur seien auf die josianische Gesetzgebung zurückzuführen, während die Ältestengesetze dtr Ergänzungen seien, die das dtr Ältestenbild in den Rahmenkapiteln des Dtn zur Voraussetzung haben. Schlüssel für die Analyse ist in jedem Falle das "Ämtergesetz" in Dtn 16,18­18,22. Während für J. Buchholz (88 ff.) wie unabhängig von ihm für F. Foresti(2) die Richterjudikatur an Ortsgerichten (Dtn 16,18­20; 17,8-13) "nicht als vorexilische Größe erschlossen werden kann" (94), führt J. C. Gertz den überzeugenden Nachweis, daß sich in Dtn 16,18-20*; 17,8-13* eine Gerichtsreform in josianischer Zeit widerspiegelt, die die Ortsgerichtsbarkeit professionalisierte und die kultische Gerichtsbarkeit zentralisierte. In einem zweiten Schritt kann er aufzeigen, daß die Gesetze zur Einrichtung von Asylstädten (Dtn 19,1-13*), der Untersuchung der Falschaussage (Dtn 19,15-21*), der Ausführung eines Sühneritus bei Tötungsdelikten von unbekannter Hand (Dtn 21,1-9*) sowie über den Vollzug von Prügelstrafen (Dtn 25,1-3) auf den Gesetzgeber der Gerichtsordnung zurückgehen. Sie spiegeln eine an der Zentralisierungsidee orientierte Justizsreform der spätvorexilischen Zeit wider, die die negativen Auswirkungen der Kultzentralisation auf das Gerichtswesen abfangen soll. Mit der Professionalisierung der laikalen Ortsgerichtsbarkeit wird die vorjosianische Richterjudikatur in Jerusalem (Jes 1,26; 3,2; Zeph 3,3) auf Juda ausgedehnt. Damit kann der Vf. auch an einem entscheidenden Punkt das von H. Niehr(3) entworfene Bild zur Geschichte der Gerichtsorganisation in Juda korrigieren, das erstmals unter Josia mit beamteten Richtern an den Lokalgerichten rechnet. Wenn heute wieder strittiger ist als in den letzten Jahren, ob das Gesetzeskorpus des Dtn eher, wie schon von G. Hölscher vertreten, eine exilische oder nachexilische Utopie ist oder ein Gesetzeswerk der spätvorexilischen Zeit im Horizont der josianischen Kultzentralisation, so hat der Vf., gestützt auf eine präzise Literarkritik, ein nicht leichtes Gewicht auf die Waagschale zugunsten der letzteren These geworfen. Überzeugend und in der jüngsten Deuteronomiumsforschung keine Selbstverständlichkeit ist sein Bemühen, Literarkritik und Rechtsgeschichte miteinander zu korrelieren, so daß literarkritische Operationen auch institutionsgeschichtlich Plausibilität haben müssen, um gelten zu können.

Der Vf. hätte die Plausibilität seiner Rekonstruktion der vorexilischen Gerichtsordnung in Dtn 16,18­17,13* noch steigern können, wenn er nicht Dtn 17,2-7 pauschal als dtr-exilischen Zusatz ausgeschieden hätte. Die vordtr Gerichtsordnung kann nur funktionieren, wenn eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen Orts- und Zentralgerichtsbarkeit vorgenommen wird. Das Bundesbuch, auf das der Vf. rekurrieren muß, um diese Lücke zu schließen, kann gerade noch keine entsprechende Abgrenzung von profaner und kultischer Ortsgerichtsbarkeit definieren. Das ermöglicht erst das dtn Prozeßrecht mit der Mehrzeugenregelung (Dtn 19,15). Wie vor allem B. M. Levinson(4) aufzeigen konnte, ist die Ortsgerichtsbarkeit dann zuständig, wenn ein Fall durch Zeugen aufgeklärt werden kann (Dtn 17,2-7). Ist dies nicht der Fall, ist er der Zentralgerichtsbarkeit zu überweisen (Dtn 17,8-13*).

Ist in der Datierung der Richtergesetzgebung des Dtn dem Vf. gegen seinen Göttinger Dissertationsvorgänger J. Buchholz uneingeschränkt Recht zu geben, so ist es in Bezug auf die Ältestengesetze umgekehrt. Gegen die geläufige Annahme will J. C. Gertz nachweisen, daß die Ältestengesetze Dtn 21,18-21 (der ungehorsame Sohn); 22,13-21 (die unkeusche Braut); 25,5-10 (Leviratsgesetz) dtr Texte seien, die der "Volkserziehung" (222) dienten. Die Argumentationsfigur ist einfach: Gemessen am dtn Strafrecht fehlen in Dtn 21,18-21 wie in Dtn 22,13-21 genauere Definitionen von Straftatbestand und Verfahren, was nur im Elterngebot des Dekaloges (Dtn 5,16) eine Parallele habe. Da dieses Gebot dtr sei, könne Dtn 21,18.21 nicht vordtr sein. Diese Argumentationskette hält nicht, wenn man Ex 21,15.17 berücksichtigt. Diese Rechtssätze, die auch der Vf. am Ortsgericht beheimatet (185), formulieren allgemeiner als Dtn 21,18-21 und widersprechen auch der These, Dtn 5,16 sei dtr Ursprungs.

Die Differenz zwischen der Behandlung der Leviratsinstitution in der erzählenden Literatur und Dtn 25,5-10 erklärt sich nicht aus einer dtr Abfassung des Gesetzes, sondern daraus, daß es in Dtn 25,5-10 um die Zuhilfenahme der Ortsgerichtsbarkeit in einem Sonderfall des ungeteilten Erbes geht. Die gesamtisraelitische Interpretation gibt für eine dtr Datierung nichts her, da sie auch dtn selbstverständlich ist. Wichtiger ist ein Weiteres. Das in den Ältestengesetzen entworfene Bild der Funktionen der Ältesten ist ohne Berührungspunkte mit denen der "Ältesten Israels" zur Verwahrung und Verkündigung des Gesetzes in den Rahmenkapiteln des Dtn. Nur wenn sich ein literarischer Zusammenhang zwischen den Bezugsgrößen der "Ältesten Israels" im Rahmen und der Stadtältesten im Gesetz aufzeigen ließe, könnte die dtr Spätdatierung der Ältestengesetze überzeugen. Solcher Nachweis aber fehlt. Die Ältestengesetze sind vor- und nicht nachdtn. Sie sind als Teil einer vordtn Familienrechtsammlung in Dtn 21,15-21a; 22,13-18*; 24,1-5*; 25,5-10 in das vorexilisch-dtn Gesetz gekommen. In der Perspektive der dtn Redaktion besteht keine Spannung zwischen Ältesten- und Richterjudikatur, da sich die Zuständigkeit der Ältesten auf das Familienrecht am Ortsgericht beschränkt, während in allen anderen Fällen die beamteten Richter zuständig sind. Die erste Hälfte der Dissertation J. C. Gertz in Verbindung mit der zweiten Hälfte der von J. Buchholz ergibt das zutreffende Bild.

Darüber hinaus hat die Monographie von Gertz das große Verdienst, Literaturgeschichte und Rechtsgeschichte in der Analyse des Deuteronomiums wieder vereinigt zu haben. Auf diesem Wege ist voranzuschreiten, wenn eine neue Phase des "Kampfes um das Deuteronomium" eingeläutet wird. Sie muß und wird um der Pentateuchforschung als ganzer willen kommen.

Fussnoten:

(1)Die Ältesten Israels im Deuteronomium, GTA 36, Göttingen 1988; cf. dazu die kritischen Anfragen von N. Lohfink, in ThRev 89, 1993, 192-195.
(2) Storia della redazione di Dtn. 16,18-18,22 e le sue connessioni con l’opera storica deuteronomistica, Teresianum 39, 1988, (1-199) 7 ff.; cf. dazu U. Rüterswörden, Der Verfassungsentwurf des Deuteronomiums in der neueren Diskussion, FS H. Graf Reventlow, 1994, 313-328.
(3) Rechtsprechung in Israel. Untersuchungen zur Geschichte der Gerichtsorganisation im Alten Testament, SBS 130, 1987, 87-101.
(4)The Hermeneutics of Innovation. The Impact of Centralization upon the Structure, Sequence, and Reformulation of Legal Material in Deuteronomy, Diss. Brandeis University 1991, 352 ff