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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

205–208

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lehmkühler, Karsten

Titel/Untertitel:

Kultus und Theologie. Dogmatik und Exegese in der religionsgeschichtlichen Schule.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 327 S. gr.8 = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 76. Kart. DM 98,-. ISBN 3-525-56283-7.

Rezensent:

Arno Schilson

Abbrüche, tiefe Umbrüche und entscheidende Aufbrüche haben die geistige und kulturelle Situation in Deutschland um die Wende zum 20. Jh. maßgeblich bestimmt. Davon sind auch die Kirchen und ihre Theologie nicht unberührt geblieben. Manches hat sich, gerade in offener Begegnung mit den besonderen Herausforderungen der Zeit, gründlich, tiefgreifend und folgenschwer verändert. Die religionsgeschichtliche Schule, das Thema dieser in Erlangen-Nürnberg verfaßten evangelisch-theologischen Dissertation, bleibt eine dieser Bewegungen, deren Intentionen noch immer nicht hinreichend erforscht sind. Ob es der vorliegenden Arbeit gelungen ist, diese empfindliche Lücke zu füllen, bleibt allerdings zu bezweifeln.

Bestimmt bleiben die tiefschürfenden Überlegungen weniger von einer kongenial die damalige Zeit erfassenden und von daher das theologische Profil der religionsgeschichtlichen Schule entwickelnden Durchführung. Eher abstrakt geraten ist vielmehr diese Interpretation. Sie beschreibt dabei zwar auch die philosophischen und philosophiegeschichtlichen Kontexte, allen voran Kant. Allerdings läßt sie wenig ahnen von der nun erstaunlicherweise auf den Kultus zielenden und mit dessen Bedeutung ringenden theologischen Arbeit. Statt dessen geht es um die Entlarvung des dogmatischen Ansatzes der religionsgeschichtlichen Schule. "Um dogmatische Voraussetzungen der exegetischen Arbeit bemüht sich die vorliegende Untersuchung. Der angezeigte Zusammenhang soll an einem exegetischen Zentralthema einer bedeutenden theologischen Gruppierung untersucht werden: am Begriff des Kultus in den Werken der religionsgeschichtlichen Schule" (11). Tatsächlich bleibt imponierend, wie der Vf. an diesem Beispiel das Verhältnis von Exegese und Dogmatik zu beschreiben und zu vertiefen versteht. Dabei gewinnt eine paradoxe Einsicht Vorrang: Obwohl dem Kultus in den Arbeiten der religionsgeschichtlichen Schule eine eminente Bedeutung zukommt, wird diesem sowohl in der Dogmatik als auch (bzw. gerade deswegen) in der exegetischen Arbeit kein eigentliches Gewicht beigemessen.

Die Darstellung setzt mit einer einführenden Darstellung der religionsgeschichtlichen Schule und deren maßgeblichen Vertretern ein. Dabei handelt es sich einerseits um einen vor allem auf Göttingen konzentrierten Kreis evangelischer Theologen, zu denen Ernst Troeltsch, Wilhelm Bousset, Johannes Weiß, William Wrede sowie Alfred Rahlfs zu rechnen sind. Andererseits bleiben auch Namen wie Hermann Gunkel, Wilhelm Heitmüller und Albert Eichhorn zu nennen.

Ihnen gemeinsam ist die kongenial gemeinte theologische Antwort auf die Etablierung der Religionswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. Dabei liegt der eindeutige Akzent auf einer klareren Erfassung des Phänomens der "Religion" gegenüber einem rein lehrhaften Verständnis des christlichen Glaubens. "In den biblischen Zeugnissen gehe es nicht in erster Linie um Lehrgebäude, sondern um ’lebendige Religion’, wobei Stimmungen, widersprüchliche Gedanken, Zufälligkeiten und Entwicklungen ihr Recht verlangen, von einem geordneten, fertigen Lehrsystem also nicht die Rede sein kann. Der Gegensatz Religion/Lehre wird so ein immer wieder variiertes Thema der religionsgeschichtlichen Schule. Er kann auch durch ähnliche Begriffspaare wie zum Beispiel Frömmigkeit/Dogmatik ersetzt werden" (28). Dabei verdient nicht zuletzt die mit dieser Religion verbundene Geschichte besondere Beachtung.

Der 1. Teil der Arbeit wendet sich dem "Kultus" und dessen "dogmatischen Grundlagen" zu (33-173). Dabei beschreibt das 1. Kapitel den inneren Bezug von Religion auf den Kultus (35-102), insofern Religion maßgeblich "in ihrer ersten Erscheinungsform, im Leben der Gemeinde" (42) aufgesucht wird. In diesem Zusammenhang gilt die "Religion der Masse, die sich gerade im Kultus manifestiert, ... nun zugleich als das erste, noch nicht durch Reflexion verzerrte Zeugnis der Religion" (45). Schon hier wird allerdings eine gewisse Distanz gegenüber der möglichen aktuellen Bedeutung einer solchen "Religion der Masse", einer solchen "primitiven" Religion spürbar. Dem folgt eine Darstellung der Religionspsychologie sowie ein Einblick in die damalige Erkenntnistheorie und Metaphysik der Religion, die maßgeblich unter Kants Einfluß steht. "Deshalb fordert die religionsgeschichtliche Schule zweitens, die Religion selbst, ohne den Umweg über die praktische Vernunft, als apriorisch in der Vernunft verankert zu erweisen" (53). Dabei gelangt man mehr und mehr zu einer reinen Vernunftreligion, denn: "Die Ideen, das religiöse Apriori, ruhen auf der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft ... Die Wahrheit wird also im Kultus nicht mitgeteilt, sondern bewußtgemacht" (73,75). Diese vor allem bei Bousset ausgeprägte Einschätzung entwertet demnach den Kultus als vitalen Ort und Vollzugsgestalt von Religion. Bei Troeltsch wird das religiöse Apriori nicht nur in seinem "göttlichen Ursprung" (95) gesehen und so als "Bewußtseinstatsache" (96) bestimmt, sondern zugleich setzt "dieses religiöse Apriori ... die Anwesenheit Gottes in der Seele voraus" (96). Diesen inneren Zug zur Mystik, ja deren "Apologie" (99) hält der Vf. für den eigentlichen Grundzug von Troeltschs Theologie. "Die Frage nach der realen Gegenwart und dem Wirken Gottes im Kultus unterbleibt" (101).

Dem großen Komplex von "Kultus und Geschichte" wendet sich das 2. Kapitel dieses Teils zu (103-166). Hier zeigt sich nun in der konkreten "Frage nach einer heute möglichen Form der Religionsausübung ... eine erstaunliche Abneigung gegen alles ’Kultische’ und ’Dingliche’ in der Religion" (104). Dabei wird Kants Einfluß dominant, denn: "Dieser Erlösungsglaube ist dann nichts anderes als die kantische Vernunftwahrheit in historischem Kleid." (130). Überraschend bleibt jedoch, daß trotzdem die Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule "die Bedeutung des Kultus für die Verfasser des Neuen Testaments herausstellen. Es muß also konstatiert werden, daß das Christentum, dem die Religionsgeschichtler relative Höchstgeltung beilegen wollen, gar nicht dasjenige ist, für welches sie sich als Exegeten interessieren, nämlich der im Neuen Testament bezeugte Glaube an Jesus Christus, für den die kultische Dimension fundamental ist. Dieser Glaube will ja gerade nicht Glaube in den Grenzen der Vernunft sein, er will nicht Vernunftwahrheiten, sondern geschichtliches Heilsgeschehen verkündigen" (130). Was demnach tatsächlich noch bleibt, ist nichts anderes als ein "moderner Spiritualismus" (160). Denn "wo die Geschichte nur illustrativen Charakter für allgemeine Vernunftswahrheiten hat, wo das Sein des Wunders, des kontingenten Heilsereignisses ausgeschlossen ist, da kann auch der Kultus keine konstitutive Bedeutung mehr haben"(161). Ein letztes Kapitel faßt in kurzen und prägnanten Thesen die Gedanken des ersten Teils zusammen (167-173).

Dem schließt sich der 2. Teil an, welcher unter dem Thema "Theologie: Exegetische Konsequenzen" (175-279) nun die konkreten Momente religionsgeschichtlicher Deutung des neutestamentlichen Zeugnisses, bezogen auf einige dominante Themenfelder, beschreibt. Angesichts der engen Grenzen, die dem Kultus-Begriff in der dogmatischen Betrachtung gezogen wurden, bleibt es nun spannend, bei den jeweiligen Theologen die bereits in scheinbar eindringlicher Interpretation vorherrschende "Deutung oder Beurteilung dieses Zeugnisses nach dogmatischen Kriterien" (178) festzumachen. Den Einsatz macht die exegetische Erklärung der "Geistwirkungen" (180-207), vor allem bei Gunkel und Weinel. Spätestens für Bousset bleibt festzuhalten: "Der Exeget stellt nicht nur Aussagen des Textes dar, sondern entscheidet sich gegen sie" (198). Konkret wird jede supranaturale Geistwirkung ins Psychologische umgedeutet.

Ähnliches ergibt sich für die Einschätzung des neutestamentlich bezeugten Christuskultes (208-232). Hier gibt Bousset klar die Richtung vor. Allerdings markiert er eine entscheidende Differenz zum altkirchlichen Christusglauben, denn er stellt "die Argumentation der Kirchenväter auf den Kopf. Hatten jene mit der Anbetung Christi dessen Gottheit zu erweisen gesucht, so will Bousset zeigen, daß die Anbetung Christi zum bloßen Postulat der Gottheit Christi führen mußte. Die Väter verstanden die Anbetung Christi als Folge seiner Gottheit, für Bousset ist das Postulat der Gottheit Christi Folge seiner Anbetung im Kultus. In der altkirchlichen Auseinandersetzung ging es um die Seinsfrage, Bousset hingegen untersucht die Entstehung von Bewußtseinsinhalten der Gläubigen" (213). Dementsprechend gilt die christologische Dogmenentwicklung eindeutig "als theologische Fehlentwicklung" (218). In die historische Kritik ist demnach eine "ontologische Entscheidung" (228) eingegangen, wie der Vf. bereits hier ausdrücklich kritisch vermerkt.

Über den "Christuskult: Die Sakramente" handelt ein weiteres Kapitel (233-272). Auch hier liegt, wie vor allem ein Blick auf Heitmüller zeigt, die exegetisch unabweisbare Erkenntnis quer zur dogmatischen Grundentscheidung. Der realen Wirksamkeit der Sakramente nach dem neutestamentlichen Zeugnis wird zwar zugestimmt, doch verbindet sich damit "die grundsätzliche Infragestellung jeglichen sakramentalen Geschehens" (251). Wie schon bei den Geistwirkungen nicht die supranaturale Realität, sondern der psychologische Vorgang interessiert und allein gültig bleibt, wird auch das Sakrament als "Gnadenmittel zum Auslöser psychologischer Vorgänge im Gläubigen, seine Wirkung ist auf eben diese Vorgänge beschränkt" (253). Auch diesem zweiten Teil ist eine thesenförmige knappe Zusammenfassung beigegeben (273-279).

In den "Schlußbemerkungen" zum Thema (281-300) wird der eigentliche Kritikpunkt an der religionsgeschichtlichen Schule in einer mangelhaften Ontologie gesehen, was vor allem für die ungenügende Beachtung einer wirklichen "theologia revelationis" zugunsten einer Gott in der Vernunft voraussetzenden und so Kant überholenden "theologia rationalis" gilt. Das hat freilich erhebliche Konsequenzen, denn nur "wenn die theologia rationalis durch die theologia revelata ersetzt wird, kann auch der Kultus mehr sein als die bloße Form ewiger Vernunftwahrheiten. Nur so ist ein Verständnis des Kultus zu haben, das dem Anspruch des Kultus gerecht wird, dem Anspruch nämlich, Begegnung mit dem Göttlichen zu sein" (284). Mit dieser fundamentalen Kritik an der religionsgeschichtlichen Schule verbindet sich ein engagiertes Plädoyer für eine ontologisch geprägte und reflektierte Theologie, welche "von vornherein mit der Realität des kultischen Heilsgeschehens rechnet" (296) und damit eine Priorität sowie eine fundamentale Rolle des Kultus als Ort von Theologie nachdrücklich behauptet und bewahrt. Auf ganzen zwei Seiten wird abschließend noch eine "Theologie des Gottesdienstes als trinitarische Theologie" (298) mehr angedeutet als stringent entwickelt. Literaturverzeichnis (301-322) und Personenregister (323-327) beschließen die Studie.

Ohne Zweifel bringt diese Dissertation manches erhellende Licht in eine dunkle Ecke der jüngeren protestantischen Theologiegeschichte. Gute Quellenkenntnis zeichnet sie ebenso aus wie eine Fülle einschlägiger, stringent und gut ausgewählter Zitate, z. T. aus entlegeneren sowie weniger bekannten Quellen. Eine klare, logisch stimmige Gliederung, das gelungene Bemühen, bereits erreichte Ergebnisse knapp und einsichtig in kurzen Thesen zu sichern und so die Orientierung über die wesentlichen Aussagen zu erleichtern - all das gehört zu den unbestreitbaren Vorzügen dieser Studie. Wenn man sie dennoch ziemlich unbefriedigt aus der Hand legt, so maßgeblich darum, weil zu wenig deutlich wird, was die ausgiebige Befassung mit dieser respektablen religionsgeschichtlichen Schule tatsächlich für die aktuelle theologische Problematik der Gegenwart einträgt. Die abschließende Bilanz zum leitenden Problem der Zuordnung von Dogmatik und Exegese wirkt - aus der unmittelbaren Gegenwart wie auch aus der hier untersuchten Vergangenheit heraus - keineswegs neu, kaum überraschend, wenig anregend oder gar wegweisend. Das Plädoyer für eine ontologische Theologie verdient zwar Respekt und verrät viel Scharf- sowie Tiefsinn. Allerdings dürfte damit weder die eigenständige Leistung noch die enorme Herausforderung oder gar die Kontextualität der religionsgeschichtlichen Schule angemessen gewürdigt und hinreichend thematisiert sein.

Gerade diesen Aspekt damaliger Zeitgenossenschaft, vor allem aber das wohl daraus sich erklärende (deshalb kaum allein oder sogar vorrangig "dogmatisch" bestimmte) prekäre und geradezu dialektische Verhältnis zwischen (Vernunft-)Religion und Kultus zu erarbeiten und dadurch das Profil einer mitten in den Wirren und Unwegsamkeiten um die Jahrhundertwende ihren Weg suchenden - durchaus respektablen - Ausprägung evangelischer Theologie zu schärfen und zu würdigen - all das wäre ungleich wichtiger gewesen als der hier vorgelegte, durchaus unbefriedigende Versuch, das Ungenügen einer von dogmatischen Vorentscheidungen geprägten und beeinflußten Exegese innerhalb der religionsgeschichtlichen Schule in übergroßer Breite vorzuführen. Gewonnen ist damit letztlich nur wenig, erhellt wird dadurch nicht viel, und geholfen ist erst recht nicht einer offenkundigen Not (auch der Theologie) der Gegenwart, welche aus den Anstrengungen gerade dieser turbulenten Jahre um die Jahrhundertwende entscheidende Anstöße im Sinne einer aufrüttelnden und durchaus "gefährlichen Erinnerung" erfahren könnte. Doch dazu wäre der damalige Zeitkontext einfühlsamer zu erarbeiten und die konkreten geistes-, kultur- und sozialgeschichtlichen, besonders aber auch aktuell die Religion betreffenden Umfeldbedingungen einer solchen Gestalt von Theologie zu bedenken. Das nicht hinreichend beachtet zu haben, mindert den Wert dieser Studie erheblich. Obwohl in manchem reich belehrt, legt man sie letztlich enttäuscht aus der Hand. Als historische Arbeit bleibt sie zu blaß, als systematische These bringt sie - leider - ebenfalls wenig Neues.