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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

984–986

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stegmaier, Werner

Titel/Untertitel:

Philosophie der Orientierung.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. XX, 804 S. gr.8°. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-11-020025-6.

Rezensent:

Eberhard Herrmann

Ich habe dieses Buch mit großem Interesse gelesen, aber auch mit einer gewissen Enttäuschung. Ich werde zuerst den roten Faden des Buches rekonstruieren, indem ich diejenigen Stellen wiedergebe, die mir philosophisch besonders fruchtbar erscheinen. Vor diesem Hintergrund kann ich dann abschließend verständlich machen, was der Anlass meiner Enttäuschung ist.

Gemäß dem Vf. »ist ›Orientierung‹ ein Letzt- und Grundbegriff« (XV). Der Vf. will nicht für eine bestimmte Orientierung argumentieren, »sondern klären, was Orientierung überhaupt ist, wie sie strukturiert ist und wie sie funktioniert« (XVI). In einer meiner Meinung nach gelungenen Arbeitsdefinition bestimmt der Vf. Orientierung »als Leistung, sich in einer Situation zurechtzufinden, um Handlungsmöglichkeiten auszumachen, durch die sich die Situation beherrschen lässt« (2). Indem Orientierung immer auch zu Beeinträchtigungen anderer führen kann, ist die Frage der Orientierung gleichzeitig »auch eine ethische Frage« (5).

Orientierung im theoretischen Sinne ist Dekonstruktion und »bedeutet nicht mehr (aber auch nicht weniger), als entstandene Begriffsstrukturen unter veränderten Umständen neu auf ihre Haltbarkeit hin zu überprüfen« (26). Orientierung setzt ein Be­dürfnis nach ihr voraus, was auch für die traditionelle Metaphysik gilt. Auch sie »hat auf Orientierungsbedürfnisse geantwortet: mit dem Begriff des Seins auf das Orientierungsproblem der Unbeständigkeit und der Zeit überhaupt; mit dem Begriff der Welt auf das Orientierungsproblem der Unübersichtlichkeit der Situation, in der jede Gegebenheit und Begebenheit von unbegrenzt vielen weiteren Gegebenheiten abhängig sein kann; mit dem Begriff der Seele und dem des freien Willens auf das Problem des ›Wer?‹ der Orientierung und der Beherrschbarkeit der Orientierung an anderer Orientierung und mit dem Begriff Gottes als einer Instanz schlechthinniger Beständigkeit, Übersichtlichkeit und Beherrschbarkeit auf das Orientierungsproblem überhaupt, die Ungewissheit.« (28)

Anhand von philosophiegeschichtlichen Beispielen wird ge­zeigt, welche Rolle der Begriff der Orientierung in der Philosophie gespielt hat. So war z. B. der Grund der Einführung des Begriffs in die Philosophie der sog. Atheismusstreit aus Anlass von Spinozas Philosophie. »Im Streit um Glauben und Vernunft zu vermitteln, blieb eine Aufgabe des Begriffs bis heute.« (63) Es geht um den »Punkt der Entscheidung zwischen dem Hinnehmen von fraglos Selbstverständlichem und dem Nachfragen nach Gründen und Beweisen« (70). Gemäß Kant ist das Sich-Orientieren, auch im Denken, »nicht eine Art des Fürwahrhaltens neben den übrigen, sondern eine Voraussetzung in allem Fürwahrhalten – sofern nämlich alles Fürwahrhalten im Sich-Orientieren unvermeidlich von einem Standpunkt ausgeht« (88).

Orientierung ist situationsgebunden. »In der Situation der Orientierung besteht die Gegenwart in Belangen von Vergangenem für Künftiges, und soweit die Zukunft ›offen‹ ist, ist auch die Gegenwart offen.« (155) Dies bedeutet, dass man immer auch schon einen Standpunkt hat, »den man nicht einnehmen und aufgeben kann, den Standpunkt des eigenen Körpers in der Welt. Er ist der Bezugs- und Ausgangspunkt aller Orientierung, an ihn ist auch alle Vernunft gebunden« (199). Dies bedeutet, dass der Standpunkt des eigenen Körpers in einer bestimmten Weise nicht hintergehbar, das heißt, absolut ist. Gleichzeitig ist er kontingent. »Der jeweilige Standpunkt der Orientierung ist ein kontingentes Absolutes.« (203)
Das Bedürfnis der Orientierung ist durch Ungewissheit veranlasst. »In der Ungewissheit der Situation und auch über die in ihr erfolgversprechenden Ziele bleibt nur, sich entschieden zu entscheiden, und aus entschiedenen Entscheidungen können sich dann langfristig haltbare Ziele ergeben. Die Entschiedenheit hebt die Paradoxie der Entscheidung nicht auf, macht sie aber erfolgreich handhabbar: mit dem entschiedenen Festhalten an unter Ungewissheit getroffenen Entscheidungen, ihrer Entscheidung gegen neue Entscheidungen, die ihre einmal eingeschlagene Ausrichtung zurücknehmen würden, entscheidet sich die Orientierung Ungewissheit als Gewissheit zu behandeln.« (253)

Wie kann dann aber unvernünftiges Festhalten vermieden werden? Hier kommen unter anderem Wissenschaft, Kunst und Religion ins Bild. »Wissenschaft, Kunst und Religion ermöglichen eine neue Selbstreflexion der Orientierung. Durch Wissenschaft wird die Orientierung kritisch diszipliniert, durch Kunst kreativ desorientiert, und sofern in der Religion ein unverrückbarer Halt entsteht, ist sie eine Orientierung, an der alle übrigen Orientierungen als Orientierungen reflektiert werden ... Während man ohne ökonomische, politische und rechtliche Orientierung im Alltag nicht auskommt, kann man sich für oder gegen eine Orientierung durch Wissenschaft, Kunst und Religion entscheiden. Orientierungsentscheidungen wiederum werden in der moralischen Orientierung zu festen Selbstbindungen gegenüber anderen Orientierungen. Das lässt unterschiedliche Moralen und damit auch Konflikte unter ihnen zu.« (363) Das kann beängstigend sein, braucht es aber nicht. Denn »selbst dort, wo andere Orientierungen der eigenen zuwiderlaufen, können sie noch hilfreich sein – eben weil sie auf andere Handlungsmöglichkeiten aufmerksam ma­chen. So kann, was zunächst beunruhigend wirkt, auch wieder beruhigen.« (364)

Der Unterschied zwischen wissenschaftlicher, künstlerischer und religiöser Orientierung ist folgender: »Wenn die wissenschaftliche Orientierung von der alltäglich kritischen distanziert, indem sie vom individuellen Standpunkt löst und einen theoretischen bezieht, von dem aus sie die Bedingungen der Orientierung mit Hilfe eines eigens disziplinierten Zeichengebrauchs analysiert, und die künstlerische Orientierung, indem sie die Grenzen des Zeichengebrauchs individuell erweitert und spielerische attraktive und irritierende Orientierungswelten entwirft, so die religiöse Orien­tierung, indem sie jenseits der begrenzten Horizonte aller Orientierungswelten Halt an einem überall und immer Gegenwärtigen sucht.« (528) Das bedeutet jedoch nicht, dass religiöse Orientierung unmittelbar hilft, aus schwierigen Situationen herauszufinden. »Sie gibt statt dessen Vertrauen, mit ihnen zurechtzukommen und nötigenfalls sich mit ihnen abzufinden. ... Der weite Horizont der Glaubensgewissheit erlaubt, sich auf weit mehr Le­bensungewissheit einzulassen.« (535)

Das Bedürfnis, im Ungewissen Halt zu finden, gilt für Orientierung im Allgemeinen. Wenn dieses Bedürfnis dazu führt, dass von den Bedingungen der Orientierung abgesehen und versucht wird, alles »in eine dauerhafte, konsistente und systematische Ordnung zu bringen, entstehen Metaphysiken« (647). Der Vf. betont jedoch, dass es in der Metaphysik nicht so sehr um erste Prinzipien ging, »aus denen alles übrige abgeleitet werden konnte, sondern um letzte Gewissheiten, bei denen Nachfragen zu Ende kamen« (648).

Dies waren einige Beispiele tragender Gedanken des Buches, die meiner Meinung nach philosophisch besonders fruchtbar sind. Die enorme Fülle des Buches, wie interessant sie auch in vielen ihrer Teile ist, ruft jedoch auch eine bestimmte Enttäuschung hervor. Das Buch nimmt seinen philosophiegeschichtlichen Ausgangspunkt in der Orientierung zwischen Vernunft und Glaube und seinen aktuellen in der Problematik des situierten Erkenntnissubjektes im Spannungsfeld zwischen absolut und kontingent. Diese philosophischen Problematiken werden jedoch nicht direkt argumentativ bearbeitet. Stattdessen wird eher aufgezeigt, wie verschiedene Philosophen den Begriff der Orientierung oder damit verwandte Begriffe verwenden, und eine Fülle von etymologischen Erklärungen und Beispielen sprachlicher Ausdrücke angeführt, die in irgendwelcher Weise mit Orientierung zu tun haben. Mir ist nicht immer deutlich, worin die Relevanz dieser Fülle besteht.

Es gibt Ansätze im Buch, in denen zum Ausdruck kommt, was als eine wichtige Antwort auf die Frage nach der Bestimmung der Philosophie hätte ausgearbeitet werden können: nämlich, dass Phi­losophie selber Orientierung ist, indem sie Vernunftansprüche mit Hilfe der Vernunft dekonstruiert und dadurch begriffliche Knoten auflöst. Dies ist so, weil wir Menschen uns bezüglich aller unserer Vermögen, einschließlich unseres Vernunftvermögens, ständig im Dasein orientieren müssen.