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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

976–979

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Faber, Richard, u. Susanne Lanwerd [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Atheismus. Ideologie, Philosophie oder Mentalität?

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 269 S. gr.8°. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-8260-2895-3.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

Der Sammelband geht auf eine Vorlesungsreihe zurück, die unter dem Titel: »Das Gegenteil des Glaubens? Atheismus in der Diskussion« im Sommersemester 2004 an der Freien Universität Berlin stattgefunden hat. Die Beiträge sind im Wesentlichen zwei Thematiken zugeordnet, zum einen der »atheistischen Philosophie« (13–147), zum anderen der »atheistischen Ideologie, Mentalität und Organisation« (149–245).

Hildegard Cancik-Lindemaier (»Gottlosigkeit im Altertum. Ma­terialismus – Pantheismus – Religionskritik – Atheismus«, 15–33) formuliert eine Kritik an der »noch immer populären Säkularisierungshypothese« (19), wonach Gottlosigkeit erst ein neuzeitliches Phänomen sei, indem sie auf Gegeninstanzen aus der griechischen Antike verweist. Ergebnis: »Religionskritik, Materialismus, Athe­ismus sind feste, alte, bedeutende Bestandteile der antiken Religions- und Geistesgeschichte und – durch deren Rezeption – auch der neuzeitlich-europäischen« (33). Anne Eusterschulte (»Ist Spinozismus Atheismus? Die Diskussion um die atheistischen Kon­sequenzen der Philosophie Spinozas im 17. und 18. Jahrhundert«, 35–73) stellt anhand der Spinoza-Rezeption eine überraschende Wendung im neuzeitlichen Atheismusverständnis dar: Galt »die Got­tesleugnung im 17. Jh. geradezu als Ausdruck von Widervernünftigkeit« (73), so sieht Jacobi am Ende des 18. Jh.s »gerade in einem Glauben aus Vernunftgründen den Weg in den Atheismus und setzt dagegen die intuitive Gewißheit des Glauben« (ebd.). Andreas Urs Sommer (»›Gott ist todt‹ oder ›Dionysos gegen den Gekreu­zigten‹? Über Friedrich Nietzsche«, 75–90) interpretiert Nietzsche als skeptischen »Experimentalphilosophen«, zu dessen »Selbst­befreiung« (90) von knechtenden Überzeugungen auch der Atheismus gehöre. Nietzsches Philosophie trage zwar – »leider vielleicht« – »auch religionsstifterische Züge«, doch sei der Atheismus bei Nietzsche primär »kein Selbstzweck, sondern Mittel einer im­moralistischen Selbstbefreiung« (ebd.). Susanne Lanwerd (»›Die Zu­kunft einer Illusion‹. Anmerkungen zu Sigmund Freuds Religionskritik«, 91–103) bezieht sich auf die Ambivalenz, die Freud mit Bezug auf die Religion feststellt – einerseits sei sie eine der notwendigen »Hilfskonstruktionen« (101) für die positive Entwicklung der menschlichen Psyche und Kultur, andererseits in praxi allzu häufig gerade deren Hindernis –, und regt auf dieser Basis zur Praxis einer psychoanalytisch begründeten Religionskritik an, die gerade die selbstbescheidenen »Ideen der Nächstenliebe, der Caritas, der Barmherzigkeit« (103) stark macht und in den politischen Diskurs einbringt. Thomas Meyer (»›Der nichtjüdische Jude‹. Jüdische Identität im 20. Jahrhundert«, 105–119) erinnert an die von Leo Strauss 1935 in »Philosophie und Gesetz« vorgetragene These, der jüdische Offenbarungsglaube selbst gebiete den Überschritt zur autonomen Philosophie, und interpretiert sie im zeitgeschichtlichen Kontext als Versuch, einen dritten, »atheistischen« Weg zwischen traditionalistischem Zionismus und gleichgültiger Assimilation zu gehen. Manfred Lauermann (Der Atheismus – das ungeliebte Stiefkind der DDR-Philosophie«, 121–136; ausführliches Literaturverzeichnis, 136–147) zeichnet »den unaufhaltsamen Zerfall des Athe­ismus in der DDR« (122, Anm. 3) nach und führt ihn maßgeblich auf die relative Bedeutung zurück, die das Christentum in Ostdeutschland vor und nach 1945 hatte: »Sicher ist, daß die bloße Übersetzung sowjetischer Texte eine andere politische Geschichte mittransportierte«, die den Bedingungen einer Gesellschaft, in der bis zum Schluss Christen als Teil des Sozialismusprojekts agierten, inkommensurabel war (126).

Martin Scharfe (»Dilettanten des Atheismus. Zweifel und Gottlosigkeit in der europäischen Volkskultur«, 151–160) wendet sich gegen die These, Atheismus sei nur ein intellektuelles Phänomen. Durch den Hinweis auf »Traditionen des Zweifels« (153) an der kirchlichen Lehre seitens der Volksfrömmigkeit versucht er, die Existenz eines »unterirdischen Atheismus« (151) zu etablieren, »eine ›vereinfachte Religion‹, die wir als plebejische Reduktion und Korrektur der offiziellen Theologie, der offiziellen Religion begreifen müssen« (159). Erhard Stölting (»Gläubiger Atheismus. Ein Stabilisierungsversuch sowjetischer Herrschaft«, 161–182) weist auf die paradoxe Struktur des sowjetischen Atheismus hin: »Der religiöse Glaube wurde … mit Zeremonien und Dogmen, also selbst in religiöser Form, bekämpft« (181). Das tatsächliche Zurückdrängen der Religion sei freilich nicht das Ergebnis des staatlich verordneten Atheismus, sondern eher einer schleichenden Säkularisierung gewesen (ebd., vgl. 178). Ulrich Nanko (»Nationalliberale, sozialistische und völkische Freidenker zwischen 1848 und 1881. Zur Frühgeschichte des organisierten Atheismus im deutschsprachigen Raum«, 183–197) zeichnet die Entwicklung der deutschen Freidenkerbewegung zwischen Vormärz und der Gründung des Deutschen Freidenkerbundes 1881 nach. Günter Kehrer (»Atheismus light. Der lautlose Abschied von den Kirchen in den alten Bundesländern«, 199–208) sichtet das Umfrageergebnis der Europäischen Wertestudie von 1990/91 und kommt zu folgendem Schluss: »Nach den traditionellen Begrifflichkeiten kann die Mehrheit der Bevölkerung auch in Westdeutschland als agnostisch bzw. atheistisch bezeichnet werden« (205). Die Menschen seien mehrheitlich nicht nur unkirchlich, sondern unreligiös geworden. »Die berühmten Fragen nach dem Woher und Wohin und Wozu beunruhigen sehr viele ebenso wenig wie die Frage, woher die Löcher im Käse kommen« (208). Horst Groschopp (»Ostdeutscher Atheismus – die dritte Konfession?«, 209–224) plädiert für ein stärkeres Ernstnehmen der Konfessionsfreien und ihrer »Glaubenswelt«: »Diese Normalität eines guten gottfreien Lebens, in diesem Punkt selbstbestimmt, millionenfach gelebt, diesseitig ethisch orientiert und den eigenen Erfahrungen vertrauend, das ist – nur wenige reflektieren darüber – die eigentliche Kritik an jeder Religion, der eigentliche Athe­ismus« (220). Michael Droege (»Atheismus im bundesdeutschen Religionsverfassungsrecht«, 225–245) beschäftigt sich aus juristischer Perspektive differenziert mit dem Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit und mit dem Gedanken der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, da der Begriff des Athe­ismus selbst im Verfassungsrecht nicht vorkommt.

Während der Beitrag von Droege einen Höhepunkt des Bandes darstellt, enttäuscht Frank Unger (»Säkularer [In-]Humanismus. Agnostizismus und Atheismus in der ›christlichen Nation‹ Amerika«, 249–269), dessen Aufsatz von den Herausgebern merkwürdigerweise allein einer dritten Untergruppe zugeordnet wird (»III. US-amerikanischer Atheismus«), durch eine ungeheure Pauschali­sierung: Der Glaube an Gott sei in den USA komplett funktionalisiert; seine »wesentliche Funktion« bestehe »allein« [!] darin, die »Idee von der moralischen Überlegenheit des Kapitalismus (und damit die moralische Legitimität des bürgerlichen Klasseninteresses in allen ihren Formen) in rhetorisch-spirituell verklärter Form unter die Leute zu bringen« (268). Wer sich als Atheist dieser Idee verschreibe, sei durchaus gerne geduldet. Das mag ja vorkommen, aber – mit Verlaub gesagt – sind alle US-amerikanischen Christen Heuchler?

Die starke Qualitätsdifferenz, die sich an den beiden letzten Beiträgen zeigt, durchzieht den gesamten Band. Um nur ein Beispiel zu nennen: Während Cancik-Lindemaier in ihrem erhellenden Text zu Recht auf die sachliche Differenz zwischen Religionskritik und Atheismus verweist, wird diese Differenz von mehreren anderen Beiträgern schnöde missachtet. Was Eusterschulte dem 17. Jh. attestiert, gilt eben noch heute: Es gibt eine »intentionsabhängige Definition des Wortes Atheismus« (37). Tendenziell machen die Essays des ersten Teils einen solide gearbeiteten Eindruck, während manches im zweiten (und dritten) Teil eine Feststellung der Herausgeber in ihrer Einleitung als allzu wahr bestätigt: »Als unabweislich muß dabei gleichfalls gelten, daß auch Atheismus ideologisch und deshalb ›kritikwürdig‹ werden kann« (11). Gänzlich unparteiische Objektivität kann man dabei auch den Herausgebern nicht attestieren, schreiben sie doch, »dass das gegenwärtige Revival traditioneller, ja etablierter Religion wissenschaftlich keinen Pendelausschlag bewirken darf [!]« (ebd.).

Der ganze Band lässt sich somit als »religionspolitologischer« (ebd.) Versuch verstehen, angesichts der viel beschworenen Wiederkehr der Religion einen Gegenpol zu setzen. Wie gesagt, geschieht dies auf unterschiedlich überzeugendem argumentativem Niveau.
Gerade da aber, wo längst tot geglaubte Vorurteile von der »geistige[n] Knechtschaft des Kultes, des Religiösen, des Numinosen« (259) reproduziert werden, wo dem Atheismus bescheinigt wird, er sei – im Unterschied zur kirchlichen Religiosität – »von der wirklichen Erfahrung gespeist« (151), und wo denen, die heute konfessionsfrei zu leben wagen, zugesprochen wird, sie hätten »keine andere Chance das Leben zu meistern, als ihren Erfahrungen zu trauen, sie zu hinterfragen und die Erfahrungswissenschaften zu Rate zu ziehen« (221), sollte man von kirchlich-theologischer Seite her sehr genau hinhören. Hierin nur die Verstocktheit einiger unverbesserlicher Atheisten am Werke zu sehen, wäre leichtfertig und selbst ideologisch. Vielmehr gilt es einzusehen, dass so entscheidende Weichenstellungen wie die nicht zuletzt anti-bürgerliche Wiederentdeckung des Evangeliums als Evangelium der Freiheit, die innertheologische, rational verantwortete Religionskritik und die Ak­zentuierung der Erfahrungsdimension des Glaubens, wie sie die kirchliche und theologische Entwicklung im deutschen Protestantismus in den letzten Jahrzehnten prägten, offensichtlich nicht ausreichend in die Gesellschaft hinein kommuniziert wurden, jedenfalls dort nicht angekommen sind. In­sofern stellen die hier veröffentlichten Beiträge zum Thema »Atheis­mus« eine Gesprächseinladung dar, der unbedingt nachzukommen ist – nicht nur in Berlin und den neuen Bundesländern.