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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

975–976

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Müller, Juliane

Titel/Untertitel:

Wiedergeburt und Heiligung. Die Bedeutung der Struktur von Zeit für Schleiermachers Rechtfertigungslehre.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 198 S. gr.8°. Geb. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-02257-1.

Rezensent:

Dieter Osthövener

Diese Arbeit über Schleiermachers Soteriologie wurde als theolo­gische Dissertation in Zürich angenommen. Sie widmet sich den beiden zentralen Lehrstücken von Wiedergeburt und Heiligung vor dem Hintergrund einer Betrachtung der Zeit als eines für die »Glaubenslehre« zentralen Begriffes. Mit dieser Themenstellung beansprucht die Untersuchung, eines der »bislang unbeachteten Felder« (14) zu bearbeiten, ja am Ende heißt es sogar, die einschlägigen Paragraphen über Wiedergeburt und Heiligung seien »bislang in der Forschung nahezu unbeachtet geblieben« (187).

Solche Behauptungen bemessen sich natürlich immer auch daran, was man jeweils von der Forschung wahrgenommen hat. Und da fällt es ins Gewicht, dass die für dieses Thema einschlägige Monographie von Horst Stephan: Die Lehre Schleiermachers von der Erlösung (Tübingen 1901), die natürlich auch auf die beigeordneten Themen der Wiedergeburt und der Heiligung ausführlich eingeht, im Literaturverzeichnis nicht erscheint. Aber auch angesichts der dort zusammengestellten Titel wird man diese These kaum unterschreiben wollen, ist es doch kein Geheimnis, dass die Glaubenslehre »aus dem Geist der Erlösung« gearbeitet ist, wie Emanuel Hirsch es ebenso prägnant wie zutreffend formuliert, der aber ebenfalls nicht die Aufmerksamkeit der Vfn. auf sich zu lenken vermochte. Überhaupt ist der Umgang mit der Forschungsliteratur eher rhapsodischer Natur. Dass etwa zum Thema der »schlechthinnigen Abhängigkeit« ausgerechnet Rudolf Hermanns »Religionsphilosophie« als beispielhaft aufgeführt wird, während Konrad Cramers luzide und vieldiskutierte Auslegung mit keiner Silbe erwähnt wird (vgl. 50), ist bezeichnend.

Die Ausgangsthese lautet, »dass sich ohne ein Verständnis der Struktur von Zeit Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung nicht verstehen und würdigen« lässt (16). Zum Beleg für diese These wird in einem ersten Teil eine Interpretation der §§ 3–6 der Einleitung (2. Auflage) vorgelegt, während ein zweiter Teil den einschlägigen §§ 106–112 gewidmet ist.

Das Verfahren selbst besteht in einem mehr oder minder reflektierten Nacherzählen der Sätze Schleiermachers, die oft genug weiträumig zitiert werden, mitunter über eine halbe Seite (vgl. 55.56.63.77 f.). Offenkundig verdankt sich das der gleich zu Beginn ausgesprochenen Notwendigkeit, dass es die Paragraphen der ›Glaubenslehre‹, »erst einmal bekannt zu machen gilt« (14 f.). Wenn es aber nach einem halbseitigen Zitat einfach heißt: »Diese Sätze lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig« (78), dann fragt man sich, wozu es noch einer monographischen Untersuchung bedarf. Ob die Vfn. selbst bei ihrem Referat immer genau vor Augen hat, wovon sie schreibt, ist nicht immer hinreichend deutlich, da man zum Beispiel auch nach längerem Nachdenken nicht errät, was etwa ein »unmittelbares sinnliches Selbstbewusstsein« (57, vgl. auch 56) sein könnte. Vermutlich sind das die »paradoxen Formulierungen« (58), ohne die man angeblich auch bei Schleiermacher nicht auskommt (vgl. noch 60). Fraglich ist auch, ob es die Sache fördert, Schleiermachers Neigung zu Komposita noch überbieten zu wollen (»Weltbewusstsein als unmittelbares Wechselwirkungsgesamtselbstbewusstsein«, 53).

Das Fazit des erste Teils lautet: »... das Ewige wird zeitlos zeitlich – und dies im unmittelbaren Selbstbewusstsein gesetzt in der Einheit des Moments zusammen mit einem sinnlich bestimmten Selbstbewusstsein. Darin besteht Frömmigkeit« (68).

Auf dieser Grundlage geht es in die materiale Dogmatik. Insgesamt wird nicht recht klar, warum im Titel der Arbeit wie auch in der Darstellung stets die Rechtfertigungslehre als Oberbegriff der beiden Lehrstücke von der Wiedergeburt und der Heiligung fungiert. Als solcher wird er auch eher nebenbei eingeführt (14 f.75). Schleiermacher selbst spricht hier bekanntlich von »Erlösung«. Von dieser ist allerdings nur am Rande die Rede. Als nunmehr angesteuertes Beweisziel gilt, »dass sich die Gegenüberstellung von Wie­dergeburt und Heiligung aus der Struktur von Zeit ergibt« (93). Das wird in der bereits aus dem ersten Teil bekannten Form der räsonnierenden Nacherzählung der einschlägigen Paragraphen un­ter­nommen. Dabei gelingen der Vfn. durchaus zutreffende Beobachtungen, etwa in Bezug auf Schleiermachers Ringen um einen Ausgleich von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit (110 f.) oder die Bedeutung des »Verlangens« zur Vermittlung von Kontinuität und Diskontinuität (112 f.). Doch verbleibt die Untersuchung immer auf der von der dogmatischen Ausdrucksform vorgegebenen Darstellungsebene der Lehrstücke selbst, ohne sich durch Schleiermachers komplexe Differenzierung der Sprachebenen dazu anregen zu lassen, nun ihrerseits einmal unter Rückgriff etwa auf die Psy­chologie des 18. Jh.s Status und Funktion des »Verlangens« aufzuklären. Gleiches gilt für die ganz richtige Beobachtung, dass der Status des Sündenbewusstseins im Zustand der Gnade nicht leicht zu bestimmen ist. Doch anstatt hier einen tieferen Blick in die Sündenlehre und vor allem in die Anthropologie zu tun, bleibt es bei binnendogmatischen Vermittlungen.

Es fehlt überhaupt an produktiver Kontextualisierung, obwohl gerade für Schleiermacher gewiss viele Kontexte denkbar sind. Nur mehr oder minder pauschale Verweise auf »die reformatorische Tradition« finden sich – mit dem ein wenig überraschenden Fazit: »Aufs Ganze gesehen sind die Unterschiede zur reformatorischen Lehre marginal« (166). Am Ende ist die Untersuchung hinsichtlich der Struktur von Zeit nicht darüber hinausgekommen, dass es sich um eine »Unterscheidung von Moment und Be­wegung« handelt (187) und als solche in der »Glaubenslehre« eine gewichtige Rolle spielt. Das ist gewiss richtig, aber es verbleibt in einer strukturellen Abstraktheit, die für Schleiermacher selbst untypisch ist.