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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

970–973

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Frick, Peter [Ed.]

Titel/Untertitel:

Bonhoeffer’s Intellectual Formation. Theology and Philosophy in His Thought.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XIV, 342 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 29. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-149535-9.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Es gibt Bücher, bei denen man sich fragt, warum sie nicht schon lange geschrieben wurden. Das sind in der Regel Bücher, die in eine längst vermutete Forschungslücke stoßen und durch methodische Klarheit und glänzenden Inhalt überzeugen. Bei diesen in der re­nommierten Reihe »Religion in Philosophy and Theology« erschienenen Beiträgen handelt es sich um ein solches Buch. Das von dem deutsch-kanadischen Bonhoeffer-Kenner Peter Frick herausgegebene Werk behandelt »Bonhoeffer’s Intellectual Formation« – es geht um die philosophischen und theologischen Einflüsse, ja pointiert um die Philosophen und Theologen selbst, die Dietrich Bonhoeffers Denken nachhaltig beeinflusst haben. Leitend ist für den Herausgeber die Annahme, dass Bonhoeffers Lebensweg entscheidend als intellektuelle ›Wanderung‹ zu verstehen sei. Damit wirkt das Buch einem vor allem im angelsächsischen Sprachraum verbreiteten Trend entgegen, nach dem Bonhoeffer etwa als Heiliger verehrt wird oder einseitig als moralisches Vorbild gilt. Frick fasst diesen Zusammenhang in den Satz: »Bonhoeffer’s death is only the consequence of his intellectual formation but not its cause« (2).

Zu den Theologen und Philosophen, die Bonhoeffers Denken beeinflusst haben, werden neben Luther, Schleiermacher, Kierkegaard, von Harnack, Reinhold Seeberg, Barth und Bultmann auch angelsächsische Theologen wie Reinhold Niebuhr und Paul Tillich gezählt sowie aus der Alten Kirche, der Scholastik und der Mystik Augustin, Thomas von Aquin, Thomas von Kempen und darüber hinaus die Philosophen Kant, Hegel, Nietzsche und Dilthey.

In konservativer Manier wird in dem gut 300 Seiten starken Band theologiegeschichtlich verfahren. Danach behandeln die er­s­ten Beiträge Augustins und Thomas von Aquins Einflüsse auf Bonhoeffer und die letzten diejenigen von Martin Heidegger und Reinhold Niebuhr. Dazwischen treten Luther, Schleiermacher, Kierkegaard, Dilthey, Nietzsche, Barth usw. Mit der chronologischen Abfolge der Beiträge erspart sich der Herausgeber freilich auch die große Schwierigkeit, eigene Gewichtungen zu setzen. Nicht nur dem Bonhoeffer-Kenner dürfte klar sein, dass Theologen wie Luther oder Barth Dietrich Bonhoeffer nachhaltiger beeinflusst haben als etwa Thomas von Aquin oder Thomas von Kempen.

Eine wichtige kategoriale Leitunterscheidung wird in einigen Beiträgen eingeführt, die auch für diese Rezension hilfreich ist. Wenn nämlich der »Einfluss« auf Bonhoeffer zu explizieren ist, dann kann damit zweierlei gemeint sein: eine nachhaltige Beeinflussung von Bonhoeffers Theologie und Ethik oder der bloße Gebrauch von Philosophen oder Theologen im Sinne intellektueller Ressourcen für die Explikation eigener Thesen.

In dieser Richtung unterscheidet z. B. der deutsch-kanadische Barth-Forscher Martin Rumscheidt in seinem Beitrag über den Einfluss Adolf von Harnacks und Reinhold Seebergs auf Bonhoeffer zwischen »›influence‹ and the use of intellectual resources« (221). Nach Rumscheidt habe Harnack Bonhoeffer nachhaltig beeinflusst, während für Seeberg gelte: »By 1933 he disappeared from Bonhoeffer’s personal and intellectual horizon« (222). Interessant ist, worin der Harnack-Einfluss auf Bonhoeffer bestanden habe, nämlich dass dieser in Harnack Zeit seines Lebens eine moralische Lehrerfigur erblickt habe, die gerade in der Zeit des Nationalsozialismus ein Garant für Kultur und Zivilisation gewesen sei.

Nach der Gesamtlektüre der gehaltvollen Beiträge gewinnt man den Eindruck, dass offenkundig nur sehr wenige Theologen oder Philosophen Bonhoeffer nachhaltig beeinflusst haben. Unter den Theologen zuerst zu nennen ist wohl Martin Luther, dann auch Karl Barth. Das unterstreichen die beiden großen Beiträge von Wolf Krötke (zu Bonhoeffer und Luther, 53 ff.) und Andreas Pangritz (zu Bonhoeffer und Barth, 245 ff.). Krötke stellt heraus, dass Bonhoeffer kein »lutherischer Konfessionalist« (54) gewesen sei, und zeigt die Berührungspunkte zwischen Luther und Bonhoeffer in den Kernfragen reformatorischer Theologie auf: »Wort Gottes« (57 f.), »Jesus Christus« (60 f.), »Sünde« (65 f.) usw. Nimmt man Pangritz’ Beitrag hinzu, so werden Berührungspunkte in der Verarbeitung des lutherischen und reformierten Erbes sichtbar – spätestens in Bonhoeffers Ethik (Stichworte: Rechtfertigung und Heiligung, politische Ethik, Grenzen der »Zwei-Reiche-Lehre«).

Die akademischen Frühschriften Bonhoeffers, »Sanctorum Com­munio« und vor allem »Akt und Sein«, sind Kulminationspunkte der philosophisch-intellektuellen Auseinandersetzung Bonhoeffers. Augustin, Thomas von Aquin, Luther, Schleiermacher, Hegel, Kant, Barth, Bultmann hinterlassen ihre ontischen Spuren bei Bonhoeffer.

Augustins Einflüsse im Hinblick auf das Kirchenverständnis Bonhoeffers als Gemeinschaft lassen sich nach Ansicht Barry Harveys (11–29) nachweisen; etwa das Erbsündenverständnis, wenn auch Bonhoeffer keine biologistische Sündenlehre vertrete (im Sinne einer biologischen Einheit eines jeden Menschen mit Adam; 16 f.). Christiane Tietz (121–143) zeigt u. a. am Kirchenbegriff Bonhoeffers auf, wie dieser in Anknüpfung und Widerspruch zu Schleiermacher entwickelt wird. Bonhoeffer anerkenne einerseits die Sozialität im Kirchenverständnis Schleiermachers, kritisiere andererseits aber den Begründungszusammenhang: Dieser könne nicht in einem psychologischen (oder biologischen) Ansatz gesucht werden, sondern nur im theologischen Charakter von Kirche, begründet und aktualisiert durch den Heiligen Geist. Der Einfluss von Kant und Hegel auf die Frühschriften Bonhoeffers, vor allem »Akt und Sein«, wird eindrucksvoll in der Studie von Wayne Floyd (83–119) nachgezeichnet. Seine These: »Bonhoeffer’s non-systematic style is not so much a symptom of its incompleteness as it is an affirmation of the incompletion in theological method, the open-endedness of any theology that would claim to be heir of the transcentental and dialectical approaches of Kant and Hegel« (111).

Was den Einfluss auf Bonhoeffer in den frühen 1930er Jahre betrifft, so liefern m. E. die beiden Untersuchungen von Young und Plant einige neue Einsichten.

Entgegen der verbreiteten Ansicht, dass Bonhoeffer während seines ersten Amerikaaufenthaltes stark von Reinhold Niebuhr beeinflusst worden sei, unterstreicht Josiah Young (283–300), dass Bonhoeffers Ablehnung des Rassismus nicht auf humanistisch fundierten, sondern durchweg auf christologischen Annahmen basierte. »If one takes Bonhoeffer’s distinction between ethics and Christology to heart, his relationship to the blacks was not an ethical one but had to do with his understanding of grace« (299). Eine christologisch begründete Ethik habe Bonhoeffer bei Niebuhr vermisst (287); allerdings sei er in der begründeten Ablehnung des Rassismus auch nicht Barth gefolgt (300). Ebenfalls die Christologie Bonhoeffers in den Mittelpunkt rückend, arbeitet Stephen Plant (301–327) indirekte Bezüge zwischen Heideggers »Sein und Zeit« und Bonhoeffers Christologievorlesung aus Jahr 1933 heraus.
Nachdem Plant zunächst in die Grundgedanken Heideggers einführt (300–317) und den direkten Verweisen auf Heidegger (vor allem in Bonhoeffers Habilitationsarbeit Akt und Sein) nachgeht (317–323), folgen interessante Hinweise auf den indirekten Verweisungszusammenhang zwischen Bonhoeffer und Heidegger: etwa die Ablehnung der »Wie-Frage« und der phänomenologische Aufruf »zu den Sachen selbst« (324); grundsätzlich ist nach Plant denkbar, dass Bonhoeffer in seiner Christologie den Unterschied zwischen on­tischen und ontologischen Fragen bei Heidegger aufgreift, wenn er die »Wie«-Frage von der »Wer-Frage« unterscheidet.
Geffrey Kelly (145–165) und Peter Frick (31–52) leuchten in ihren Beiträgen aus, wie Bonhoeffers spirituelle Seite, wie sie sich vor allem angesichts der Erfahrungen aus der Zeit des illegalen Predigerseminars in Finkenwalde in den Schriften »Nachfolge« und »Gemeinsames Leben« Ende der 1930er Jahre manifestierte, durch so unterschiedliche Größen wie Kierkegaard und Thomas von Kempen beeinflusst wurden. Von Kierkegaard stamme nach An­sicht Kellys (150 f.) z. B. Bonhoeffers Rede von der »billigen Gnade«. Kierkegaard und Bonhoeffer sei gemeinsam die Wiederbelebung der Radikalität von Luthers Theologie wie der rechten Unterscheidung von Glaube und Gehorsam. Ob­wohl man nur ein Dutzend expliziter Hinweise auf Thomas von Kempen bei Bonhoeffer nachweisen könne, habe nach Auffassung Fricks seine De imita­tione Christi einen lebenslangen Einfluss auf Bonhoeffer ausgeübt, besonders hinsichtlich der Praxis des gemeinsamen christlichen Lebens in Nachfolge (39 f.), Schweigen und Meditation (47 f.).


Die späten, postum herausgegebenen Ethikfragmente sowie die Briefe aus dem Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis von Berlin-Tegel sind wieder Brennpunkte philosophischer und geistesgeschichtlicher Auseinandersetzung. Neben Barth, Luther, Bultmann und anderen bereits genannten treten nun Dilthey (167–173) und Nietzsche (175–199) in Bonhoeffers Blick, wenn auch eher im Sinne der ›intellektuellen Ressource‹, nämlich zur Artikulation einer lebensbezogenen Theologie und Ethik sowie der Religionskritik.

Insgesamt eignet sich das Werk zur geschlossenen Gesamtlektüre ebenso wie als Nachschlagewerk. Die editorische Leistung zeigt sich u. a. darin, dass dem Leser ein geschlossenes Ganzes präsentiert wird, auch wenn die Einzelbeiträge immer autorenspezifische Färbungen aufweisen und durch Pluralität in der Darstellung des je zu behandelnden Stoffes glänzen. Inhaltlich können Spannungen innerhalb eines so potenten Sammelbandes nicht ausbleiben. So fällt dem Leser auf, dass z. B. der Einfluss Adolf von Har­nacks auf Bonhoeffer durch Rumscheidt anders, nämlich sehr viel positiver und nachhaltiger beurteilt wird als etwa durch Pangritz. Ähnliches gilt für die Beurteilung des Einflusses Karl Barths auf Bonhoeffers Ethik durch Young einerseits und Pangritz andererseits, um ein zweites Beispiel zu nennen. Auch hier hängt viel an der Interpretation des jeweiligen Bonhoeffer-Forschers sowie am zu Grunde gelegten Quellenmaterial. Ein Nachwort, das dem Le­se r– sozusagen im Nachklang auf die Lektüre und im Sinne der Kohärenz des Gesamtbandes – einige Rezeptionslinien aufgezeigt hätte, wäre begrüßenswert gewesen. Aber vielleicht widerspricht ein solches Unterfangen dem Charakter von Bonhoeffer als eines ›irregulären‹ Dogmatikers.