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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

967–970

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Conrad, Ruth

Titel/Untertitel:

Lexikonpolitik. Die erste Auflage der RGG im Horizont protestantischer Lexikographie.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2006. XIII, 606 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 97. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-11-018914-8.

Rezensent:

Hasko von Bassi

Das Thema RGG liegt seit Langem in der Luft. Schon in den 1970er Jahren lenkte der unvergessene Kieler Systematiker und Schleiermacher-Forscher Hans-Joachim Birkner in seinen fesselnden theologiegeschichtlichen Lehrveranstaltungen das Interesse seiner Studenten (»Studierende« gab es damals noch nicht) auf die Entstehungsgeschichte der RGG und ließ Analysen der jeweiligen Vorworte der verschiedenen Auflagen vornehmen. Vielleicht war es das beginnende Erscheinen der vierten Auflage ab 1998, das nun den Anstoß für die Erarbeitung einer umfassenden Studie gab.

Die Vfn. bringt für eine kompetente Bearbeitung des komplexen Themas beste persönliche Voraussetzungen mit, ist sie doch Theologin und gelernte Verlagsbuchhändlerin. So hatte sie schon vor einigen Jahren einen Beitrag zur besseren Erschließung der RGG1 geleistet durch ihre Mitarbeit an dem von Alf Özen und Matthias Wolfes herausgegebenen Registerband, der 1914 entgegen den Ur­sprungsplanungen auf Grund der Zeitumstände nicht erscheinen konnte und danach verzichtbar schien. Betreut wurde die Dissertation von Volker Drehsen, der seinerseits mit einer Vielzahl von Studien die neuere theologiegeschichtliche Forschung beeinflusst und dabei schon früh Fragen der Wissenschaftspublizistik in den Blick genommen hat.

Die Arbeit ist erfreulich klar gegliedert. (In Zeiten, in denen sich manche Studie in struktureller Hinsicht gewollt originell präsentiert, verdient dies dankbare Hervorhebung.) In einem ersten Kapitel (23–177) entfaltet die Vfn. die buchgeschichtlichen Voraussetzungen und lexikographischen Rahmenbedingungen des Entstehens der 1. Auflage der RGG. Ebendiese 1. Auflage des Lexikons (1909–1913) ist dann Gegenstand einer eingehenden Analyse, die im zweiten Kapitel (179–346) erfolgt. Das dritte Kapitel (347–446) widmet sich der Weiterentwicklung der RGG in ihrer 2. (1927–1931) und 3. Auflage (195 7–1962).

Für ihre Studie erlegt die Vfn. sich selbst »eine gewisse Deutungsaskese« auf und steht »ganz im Dienst der Quellen« (21). Sie möchte also – im Sinne Rankes – erzählen, wie es eigentlich gewesen ist, und das macht sie gut. Auch wenn die Anmarschwege bisweilen breit angelegt werden, ist die Studie durchweg fesselnd. Es ist unmöglich (und auch nicht sinnvoll), im Rahmen dieser Rezension die äußerst materialreiche Darstellung im Einzelnen zu referieren, aber eine Skizze der Anlage der Untersuchung soll doch versucht werden.

Die historischen Voraussetzungen der RGG1 entfaltet die Vfn. in zweierlei Hinsicht, indem sie einerseits die Entwicklung des lexikographischen Typus des Konversationslexikons »als eines Mediums bürgerlicher Öffentlichkeit« vom 18. Jh. an nachzeichnet und andererseits fachspezifisch die Geschichte der theologischen Nachschlagewerke systematisch rekonstruiert. Ausgangsthese ist, dass die RGG1 den neuartigen Typus eines »theologischen Konversationslexikons« (15) mit der spezifischen Mischung von wissenschaftlicher Solidität und Allgemeinverständlichkeitsanspruch verkörpert (68). – Auf eine Anregung Martin Rades zurückgehend wurde die RGG1 (1909–1913) zum Manifest der Religionsgeschichtlichen Schule wie des modernen Protestantismus insgesamt. Die Ge­schlos­senheit des Konzeptes erzeugte dabei ein »mediales Wir-Gefühl« (67) zwischen Verlag, Herausgebern und Benutzern. Verlegerisch war dies übrigens nicht ohne Risiko, denn in der Pfarrerschaft blieb die liberale und moderne Theologie stets ein Minderheitenphänomen (200.201). (Über unseren heutigen Forschungsinteressen gerät dieser Sachverhalt bisweilen aus dem Blick.) Das Entstehen der 1. Auflage der RGG wird detailliert entfaltet vor dem Hintergrund des deutschen Buchmarktes um die vorletzte Jahrhundertwende sowie der theologiepolitischen Positionierung des Verlages Mohr Siebeck. Bereits hier begegnet uns Friedrich Michael Schiele, der für die Organisation der Arbeit an der RGG 1 entscheidende Bedeutung erlangen sollte. Schiele, ehemals Redakteur der Chronik der Christlichen Welt, wurde schon 1903 von Siebeck für die Redaktion des neuen Lexikons engagiert. Sämtliche Vorarbeiten und die Projektleitung bis zum Buchstaben »G« sind von Schiele geleistet worden. Umso schwerer wog der spätere Bruch zwischen Schiele und Siebeck. Schon Wolfgang J. Mommsen hat in seiner wegweisenden Studie über Max Weber und die Siebecks auf den bedeutenden Einfluss verlegerischer Impulse und Entscheidungen für den Fortgang der Wissenschaften hingewiesen. Mit gutem Recht haben Zeitgenossen denn auch von der »Siebeckschen Theologie« (203) gesprochen. Die Arbeit des wissenschaftlichen Verlegers beschränkt sich eben nicht auf die Distribution wissenschaftlicher Informationen. Die (natürlich überwiegend aus ökonomischem Interesse betriebene) Anregung und Gestaltung wissenschaftlicher Publikationsvorhaben beeinflusst ihrerseits den wissenschaftlichen Diskurs. In dieser Hinsicht ähnelt die verlegerische Arbeit den Leistungen guter Galeristen im Bereich der bildenden Künste. (Weniger gute Unternehmensberater haben für diesen spezifischen Charakter eines Verlages häufig kein Sensorium und ordnen ihn der Einfachheit halber fälschlich dem produzierenden Gewerbe zu.) Ein ernst zu nehmender wissenschaftlicher Verlag hat Einfluss auch auf inhaltlich-konzeptionelle Aspekte eines Vorhabens zu nehmen und sich keineswegs auf technische Dienstleistungen zu beschränken. Bei allen Auflagen der RGG gab es um diese Frage Konflikte mit einzelnen Herausgebern, die einem Missverständnis hinsichtlich der Rolle eines Verlages aufsaßen.

Hochinteressant sind die Ausführungen der Vfn. über die von ihr so genannten »theologiepolitischen Antipoden« (224) des Mohr Siebeck Verlages. Sie nennt als solche den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht sowie den Eugen Diederichs Verlag. Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu können, fragt man sich, ob nicht letztgenanntes Unternehmen auf dem Buchmarkt vielleicht doch etwas zu weit weg von Siebeck zu lokalisieren wäre, um noch als Antipode angesehen werden zu können, und ob es nicht näher gelegen hätte, hier etwa den Gießener Verlag Töpelmann in den Blick zu nehmen. Angesichts der pa­ckenden Darstellung gerade des Diederichs Verlags, die die Vfn. bietet, ist das aber eine Quisquilie. Wenn die Vfn. hinsichtlich des Verhältnisses von Siebeck zu Vandenhoeck & Ruprecht »ähnliche theologiepolitische Ziele« (226) konstatiert und dann feststellt: » dennoch gerieten die beiden Verlage in Konkurrenz zueinander«, so wäre an dieser Stelle doch statt des »dennoch« eher ein »deshalb« zu setzen. Denn unter Marktgesichtspunkten führt eine ähnliche inhaltliche Orientierung eben zwingend zu einer Wettbewerbssituation.

Kern der Arbeit ist die detaillierte Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der RGG1, von den ersten Überlegungen ab 1900 bis hin zum Abschluss des Werkes im Jahre 1913. Eingehend untersucht die Vfn. in einem ersten historischen Schritt die sich zwischen Herausgebern und Verlag allmählich entwickelnde Konzeption und deren von mancherlei (genretypischen) Schwierigkeiten begleitete Realisierung. Die Analyse der Konzeption der RGG1 und ihrer organisatorischen Umsetzung ist dann auch der Ort, die ökonomischen Bedingungen des Vorhabens zu entfalten und ihren Einfluss auf die schließlich tatsächliche Gestalt des Werkes zu skizzieren (228–286). Unter systematischer Perspektive erfolgt dann in einem zweiten Schritt die Analyse des theologisch-lexikographischen Programms (287–325), abgerundet drittens durch einen Blick auf die (zeitgenössische) Rezeptions- und Rezensionsgeschichte der RGG 1.

Die zeitgenössische Rezeption der RGG1 in zahlreichen Besprechungen ist von viel Zustimmung geprägt. Auch da, wo man dem Konzept oder dem theologischen Ansatz des Lexikons kritisch gegenübersteht, wird die Solidität der geleisteten Arbeit nicht in Zweifel gezogen. Der ökonomischen Rezeptionsgeschichte ist die Vfn. nicht im Einzelnen nachgegangen. Sie liefert aber im Anhang Material dazu in Form einer topographischen Absatzübersicht für die Jahre 1915 bis 1924, wobei Johannes Wischmeyer bereits auf die besondere Interpretationsbedürftigkeit dieses Zahlenmaterials hingewiesen und vollkommen zu Recht z. B. die hohe Zahl von Verkäufen nach Leipzig nicht mit herausragender sächsischer Theologiebegeisterung, sondern mit der Stellung der Stadt im deutschen Buchhandel begründet hat (ZNThG 14, 2007, 160 f.).

Das, was den besonderen Charakter von RGG1 ausgemacht hat, die klare theologische Profilierung und das Streben nach Popula­risierung, sieht die Vfn. in den beiden Folgeauflagen des Werkes in zwei »Transformierungen«, einmal der »Lexikonhermeneutik«, zum anderen der »Benutzerhermeneutik«, nun sukzessive schwinden. Diesem Veränderungsprozess vom Konversationslexikon hin zum Fachlexikon ist das abschließende Kapitel gewidmet. Aus dem alten Herausgeberkreis heraus erfolgte bereits im Sommer 1919 die Anregung an den Verlag, eine Neuauflage der RGG in Angriff zu nehmen. Auch wenn der Verlag zunächst noch auf einen längeren Weiterverkauf der Erstauflage hoffte, wurde die 2. Auflage angesichts der völlig veränderten theologischen Diskussionslage nach Ende des 1. Weltkriegs dann doch rasch begonnen. (Vom 24. bis 26.9.1924 kann keine »achttägige« Redaktionskonferenz stattgefunden haben. Hier muss etwas mit den Daten durcheinandergeraten sein, 392.) Eben die völlig veränderte Diskussionslage blieb freilich nicht ohne Wirkung auf die Zusammensetzung des Herausgeberkreises. Manch ein verdienstvoller Herausgeber und Mitarbeiter wurde verabschiedet oder ins zweite Glied verwiesen. Natürlich gab es dabei vielfältige Auseinandersetzungen und persönliche Verletzungen. So stand die 2. Auflage der Vfn. nach »im Zeichen eines theologischen Generationenkonfliktes« (384). Lexikographisch gab es eine Akzentverschiebung von der Präsentation eines geschlossenen theologischen Programms weg und hin zu einer Tour d’Horizon der gegenwärtigen theologischen Strömungen (399). Im Ansatz entwickelte sich die RGG dabei zu einem theologischen Fachlexikon, einem Typus, der dann ab der 3. Auflage endgültig prägend wird.

Nicht ganz überzeugend gelingt der Versuch der Vfn., eine besondere Zuständigkeit ihrer eigenen Disziplin, der Praktischen Theologie, für die medientheoretische Behandlung der RGG zu reklamieren unter Hinweis auf den Allgemeinverständlichkeitsanspruch der ersten Auflage des Lexikons. Man wird doch wohl einwenden können, dass unter Hinweis auf den grundlegenden historisch-kritischen Ansatz des Lexikons ebenso gut die Exegeten eine solche Zuständigkeit beanspruchen könnten und Religionshistoriker nun sowieso. Vielleicht wäre es auch nicht fernliegend, dass ein Kirchenhistoriker sich dem Thema zuwendet. (Siehe hierzu auch Johannes Wischmeyers Rückfrage in ZNThG 14, 2007, 161.) Dass der Gegenstand sich des Interesses der Praktischen Theologie sicher sein könne, wie die Vfn. postuliert, ist verlegerisch offenbar anders beurteilt worden, erscheint die Arbeit doch nicht in einer praktisch-theologischen, sondern in einer traditionsreichen kirchenhistorischen Buchreihe, die nun freilich von einem Kirchenhistoriker und einem Praktischen Theologen gemeinsam herausgegeben wird, worin sich die Fragwürdigkeit disziplinärer Grenzziehungen vielleicht am schönsten dokumentiert. Der praktisch-theologische Herausgeber dieser Buchreihe hat denn auch erst unlängst in der ThLZ für eine Praktische Theologie plädiert, »die sich den Problemstellungen dieser theologischen Disziplin durch historisch versierte und systematisch verfahrende Theoriefähigkeit gewachsen zeigt« (ThLZ 133 [2008], 440). Die Vfn. folgt nach eigenem Bekunden einer »historisch-systematischen Zugriffsweise« (21). Und warum auch sollte es keine theologiegeschichtlich arbeitenden Praktischen Theologen geben? Das Dauerproblem der Praktischen Theologie, nämlich das ihrer disziplinären Selbstfindung, interessiert außerhalb des Faches sowieso niemanden.

Der von der Vfn. gewählte Schlüsselbegriff »Lexikonpolitik« wird im Verlauf der Untersuchung in alle nur denkbaren Richtungen entfaltet. Lexikonpolitik ist der Vfn. nach »Verlegerpolitik« (44), »Milieupolitik« (67), »Bildungspolitik« (67), »Wissenschaftspolitik« (72), »Kirchenpolitik« (72), »Theologiepolitik« (179), »Rezensionspolitik« (342), »Auflagenpolitik« (346), »Personalpolitik« (377), »Marktpolitik« (431). Einerseits erweist sich der Terminus also als sehr fruchtbar, weil er zahlreiche Perspektiven eröffnet, andererseits kann man Zweifel daran haben, ob er sich angesichts geringer Trennschärfe in der weiteren Debatte durchsetzen wird.

Das Literatur- und Quellenverzeichnis ist beeindruckend sorgfältig zusammengestellt und von gewaltiger Fülle (453–522). Allein die Lektüre der Bibliographie wird so zu einem lohnenden Unterfangen. Man erhält Hinweise auf eine Vielzahl von Perlen und entlegenen, aber interessanten Publikationen. Ergänzend erwähnen könnte man allenfalls: Gustav Frenssen in seiner Zeit. Massenliteratur zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Heide 1996 (hierin vor allem der Beitrag von Manfred Adam über den Theologen Frenssen).

Etwas irritierend ist der Hinweis in Anm. 2 auf S. 477, dass unter der Rubrik »Weitere Quellen« Veröffentlichungen bis 1880 erfasst werden sollen und gleich der erste Titel aus dem Jahre 1930 stammt. Auch der weitergehende Hinweis, »Quellentexte nach 1880 gehörten größtenteils in das Umfeld von RGG1 und würden unter Sekundärliteratur geführt«, ist auf Anhieb nicht plausibel, denn gerade die Tatsache der Zeitgenossenschaft würde ja für eine Zuordnung zu den Quellen sprechen. Es wird außerdem nicht ganz deutlich, weshalb die fünf Dokumente im Quellenteil mit »A I« bis »A V« beziffert werden, weil es ein »B« in dieser Abteilung gar nicht gibt. Ein wenig störend bei der Lektüre ist das fast durchgehend ausgelassene zweite Komma bei eingeschobenen Ortsangaben als präzisierendem Zusatz zu Namensnennungen (Paul Siebeck, Tübingen an Friedrich Michael Schiele), zumal die Vfn. sich selbst vorgenommen hatte, dies anders zu machen (10, Anm. 33). – Aber all dies sind Marginalien.

In summa: Einer besonderen Empfehlung bedarf diese Untersuchung nicht. Sie empfiehlt sich selbst durch Themenwahl und exzellente Durchführung.