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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

963–965

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Ott, Joachim, u. Martin Treu [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. 207 S. m. Abb. gr.8° = Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 9. Geb. EUR 36,00. ISBN 978-3-374-02656-2.

Rezensent:

Annina Ligniez

Der Sammelband der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt vereint zwölf Aufsätze, die aus einem Fachgespräch in Wittenberg hervorgegangen sind. Der Konzeption des Bandes liegt eine doppelte Stoßrichtung zu Grunde: einerseits die Frage nach der Faktizität des Thesenanschlags, andererseits die Frage nach der Wirkungsgeschichte desselben. Die Aufsätze stellen teilweise eine schlichte Reminiszenz an die sog. Iserloh-Debatte der 60er Jahre des vergangenen Jh.s dar, die aber sicherlich zu Recht ihren Platz in einem solchen Sammelband findet.

Einen »profangeschichtlichen Rückblick« bietet hier der Beitrag von Konrad Repgen, der zunächst darauf hinweist, dass die Ablassthesendebatte in den jüngst erschienenen Studien zu aktuellen Historikerkontroversen keinerlei Erwähnung findet. Iserloh veröffentlichte im Herbst 1961 einen Rezensionsaufsatz mit dem Titel Luthers Thesenanschlag – Tatsache oder Legende und bestritt diesen darin. Iserlohs Begründung, dass es keine eindeutigen Quellen zu Gunsten des Anschlagens der Thesen gäbe, sieht Repgen im Zu­sam­menhang der ökumenischen Lutherinterpretation von Joseph Lortz. Die Diskussionen auf Seiten der Profanhistoriker finden, so Repgen, vor allem »innerhalb des Spielraums der Plausibilitäten« (107) statt, zumeist »vermeidet der gelehrte Autor das eindeutige Ja oder Nein« (106). Spannend ist Repgens Einordnung der IserlohKontroverse »in die Vorgeschichte der katholisch-evangelischen Vereinbarung über die Rechtfertigung vom 30. Oktober 1999«, die leider nur kurz im Anmerkungsteil angesprochen wird.

Ebenfalls in einen theologiegeschichtlichen Kontext stellt Vinzenz Pfnür die »Bestreitung des Thesenanschlags durch Erwin Iserloh« (111): Sehr detailreich referiert Pfnür über die Entwicklung der Debatte und auch seinen persönlichen Beitrag dazu. Dabei ist es ihm ein Anliegen, Iserloh zu rehabilitieren und als durchaus protestantenfreundlich (vgl. 114–116) darzustellen. Auch Pfnür be­leuchtet die Auswirkungen der Iserloh-Debatte auf den katholisch-lutherischen Dialog und schließt mit einem bemerkenswerten Plädoyer: Ausgehend von den im Dialog zwischen römisch-ka­tholischer und evangelisch-lutherischer Kirche gewonnenen Ge­meinsamkeiten sei »eine symbolische Handlung angebracht, in der die katholische Kirche Luther in ihr Gedächtnis zurückholt« (126).

Auf den bekannten Titel der Zeitschrift Spiegel aus dem Jahr 1966 »Luthers Thesen: Reformator ohne Hammer« und auf einige aktuelle Beispiele aus dem Internet geht Reinhard Brandt innovativ in seinem Beitrag ein. Dabei interessiert ihn allem voran die Frage nach der »Stimmungslage und Zeitsignatur der 1960er Jahre« (130), die zu einer solchen öffentlichen Wirksamkeit der Debatte führten. Hier zu einem umfassenden Urteil zu kommen, charakterisiert Brandt als einen wichtigen »Beitrag zur Zeit- und Mentalitätsgeschichte der 1960er Jahre« (132), welcher noch zu leisten wäre. Einige vorläufige Vermutungen nennt er trotzdem: So ist es für ihn wenig wahrscheinlich, dass es sich um eine »römisch-katholische Kampagne« (ebd.) handelte. Ein mögliches Motiv für die breitenwirksame Diskussion sieht Brandt im »Gestus der Entlarvung« (134) und weist in diesem Zusammenhang auch auf die parallele damalige Debatte um die Entmythologisierung des Neuen Testaments hin. Daneben sieht er in der damals hoch im Kurs stehenden »Heroisierung des Lutherbildes« (135) den Grund für eine mögliche »Gegenbewegung« (136), Luther und die Reformation zu entheroisieren. »Die historische Kritik als Depotenzierung der Macht eines Symbols« (138) erläutert Brandt zum Ende seines Beitrags: Die Kritik am Thesenanschlag führt seines Erachtens zur Aufhebung der »Ursprungslegende« und damit ihrer »bewusstseins- und gemeinschaftsbildenden Kraft« (139).

Henrike Holsing und Esther P. Wipfler setzen sich mit Luthers Thesenanschlag im Bild und im Film auseinander: Holsing bietet an dieser Stelle einen hervorragenden, umfassenden Überblick über die bildliche Darstellung des Thesenanschlags, der bis zum Anfang des 17. Jh.s nicht »als bildwürdig empfunden« wurde (141). Zu Beginn seiner Bildkarriere wurde der Thesenanschlag nicht als »historisches Faktum gezeigt, sondern in allegorischer Form verarbeitet« (143). Die Vorstellung des Thesenanschlags als Ausweis von Luthers »mannhafte[m] Tun« (162) begegnet erst im 19. Jh. Luther als heroischer Mensch der Tat, nicht als geistig tätiger Kirchenvater, rückte in den Blick des Betrachters. Wipfler wendet sich der Frage zu, wie im Spielfilm der Thesenanschlag inszeniert und der Schriftlichkeit der Thesen Rechnung getragen wurde. Dabei unterscheidet sie Stumm- und Tonfilme. In beiden aber gehört der Thesenanschlag zu den »klassischen Szenen der Lutherikonographie« (179). Helmar Junghans möchte die »unreflektierte Verknüpfung von Luthers Brief vom 31. Oktober 1517 an Albrecht von Mainz mit dem Beginn seiner Bemühungen um Beseitigung einer missverständlichen und missbräuchlichen Ablasspraxis« (46) aufheben, Bernd Möller widerspricht der Auffassung, dass die Thesen am 31. Oktober 1517 nur in handschriftlicher Form vorlagen, und geht davon aus, dass diese als Plakat in Wittenberg gedruckt und angeschlagen wurden. Timothy J. Wengert befruchtet die Diskussion der Zeugenschaft für einen Thesenanschlag, indem er Georg Major als »Eyewitness« (93) einführt. Dieser war 1517 als Student und Gesangsknabe im Chor der Schlosskirche in Wittenberg. 36 Jahre später erwähnt Major in der Widmung für die gedruck­ten Predigten des verstorbenen Georg Fürst von Anhalt den Anschlag der Thesen an die Schlosskirche. Explizit der wiederentdeckten Notiz Georg Rörers wenden sich nur die Beiträge von Joachim Ott und Martin Treu zu. Während Ott sich vor allem auf Informationen zum Nachlass Rörers in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek beschränkt, versucht Treu, die Notiz Rörers als ältestes Zeugnis für den Thesenanschlag darzustellen. Dabei betont er allem voran die »Erwähnung der Wittenberger Kirchen als Ort im Plural (… in valvis templorum …)« (62), die den Universitätsstatuten von damals entspricht.

Volker Leppin, der seinen Beitrag auch dazu nutzt, Aussagen aus seiner Lutherbiographie zu korrigieren bzw. zu verdeutlichen, sollte zum Schluss gelesen werden. Seine Ausführungen bieten eine gute Zusammenschau der Beiträge und zeichnen sich dadurch aus, dass er sich mit seinen Mitautoren explizit kritisch auseinandersetzt. Die »Legende« vom Thesenanschlag sieht er nicht als »Grund«, sondern vielmehr als »Folge der Monumentalisierung Luthers« (69). Werkausgabe und Erhalt der Protokolle der Bibelübersetzerkommission in Rörers Nachlass versteht Leppin als »Teile der Luthermemoria« (74). Den neu in die Diskussion eingeführten Georg Major als Augenzeuge stuft Leppin lediglich als »potenzielle[n] Augenzeuge[n]« (80) ein. Die Notiz Rörers sieht er ab­hängig von dem Wissen über die allgemeine Form einer Thesenpublikation, die dieser auf die vorliegende Thesenreihe anwendete »und dies mit dem schon länger tradierten Datum des 31. Oktober für den Beginn der reformatorischen Ereignisse« (84) verband. Auch die »interessante« Diskussion über einen Erstdruck der Thesen in Wittenberg (vgl. Moeller) oder Leipzig (vgl. Treu) verwirft Leppin als spekulativ. Sein deutliches Votum am Schluss: »In der Summe lässt dies einen Thesenanschlag am 31. Oktober nach der derzeitigen Quellenlage als wenig wahrscheinlich erscheinen.« (90)

Die Diskussion um die Faktizität des Thesenanschlags wird bis heute sehr emotional diskutiert, da sie in ihrem Ausgang Auswirkungen auf das Identitätsbewusstsein der meisten Protestanten hat. Da hilft es auch nicht, in dissimulierender Weise von einer Thesenveröffentlichung zu sprechen. Der Band scheint auf den ersten Blick wenig Hilfestellung bei der Beantwortung dieser Frage zu bieten. Zwar erhält man einen guten Überblick über die damalige Iserloh-Debatte, die sich allem voran durch die detailreichen Darstellungen einiger Zeitzeugen auszeichnet, die Erwähnung und Erläuterungen dieser Debatte allerdings in fast allen Beiträgen wirken mitunter redundant und ermüdend für den Leser. Auf den zweiten Blick spiegelt der Sammelband aber sehr gut die Weite und Problematik der Diskussion wider. So erhält man zwar kein eindeutiges Votum für oder gegen die Urszene der lutherischen Memorialkultur, aber man wird herausgefordert zu überdenken, wie wichtig der Thesenanschlag für das eigene konfessionelle Selbstverständnis sein sollte.