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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

960–963

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hamm, Berndt, u. Michael Welker

Titel/Untertitel:

Die Reformation. Potentiale der Freiheit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. VIII, 133 S. kl.8°. Kart. EUR 17,00. ISBN 978-3-16-149782-7.

Rezensent:

Johannes Schilling

Das kleine Buch kommt mit einem großen Titel daher: Die Reformation. Potentiale der Freiheit. Quid plus? Quid ultra? Tatsächlich handelt es sich um Vorträge aus universitären und kirchlichen Kontexten; eine stringente Beziehung der Texte aufeinander ist nicht zu erkennen.

Das 1. Kapitel »Die Emergenz der Reformation« ist das Hauptstück des Bandes. Hamm nimmt eine Anregung Olaf Mörkes (Die Reformation, 2005) auf, ein Erklärungsmodell für die Reformation zu erarbeiten, »das sowohl den langfristigen Wandlungsprozessen als auch den ereignishaft greifenden Impulsen um 1520 Rechnung trägt« (Mörke: 137, hier: 1). Zu diesem Zweck führt Hamm den Begriff der Emergenz in die Reformationsgeschichtsforschung ein, der ihm wegen seines Allmählichkeitscharakters geeignet scheint zum Verständnis eines längerfristigen Prozesses, in den die Reformation einzubetten ist. Bei breiter Zustimmung zu neueren Arbeiten von Volker Leppin kritisiert Hamm doch, dass der »systemsprengende Innovationscharakter« (8) der Reformation in dessen Arbeiten nicht angemessen zur Geltung gebracht werden könne. Auch von einem »sys­temverändernden Umbruch«, »tiefgreifenden qualitativen Sprüngen und Brüchen« (9) u. Ä. ist bei Hamm die Rede. Das Mit- und Ineinander von Alt und Neu wird in vielfältigen Formulierungen erfasst – Herkunft und Ereignis, Prozess und Kontingenz, Langzeitperspektive und Sprunghaftes (14 f.). Dabei erklärt Hamm, auch und gerade »unerklärliche Faktoren ge­schichtlicher Sprünge« (15) könnten in das Emergenzmodell integriert werden.

Hamms Veranschaulichung am Beispiel von Luthers Brief an Leo X., der Freiheitsschrift und der Verbrennung der Bannandrohungsbulle erfordert m. E. keine Theorie der Emergenz; man kann auch nicht erkennen, welche Folgen die vorausgegangenen Überlegungen für diese Ausführungen hatten und haben sollen. Vollends skeptisch bin ich in Bezug auf die Aussage: »Der Blick auf die mo­dernen Emergenztheorien zeigt, dass diese Verlaufsstruktur völlig selbstverständlich und bei allen Neukonfigurationen komplexer Systeme regelhaft ist. Insofern ist die Reformation in ihrer Entstehung und ihrem Ablauf erklärbar, auch wenn sich die kontingenten Innovationssprünge selbst der Erklärbarkeit entziehen.« (24) Das entscheidende Wort ist hier »Insofern« – unter der Voraussetzung einer Emergenztheorie lassen sich uns bekannte Faktoren der Reformation erklären und verstehen. Aber versteht man mehr und anderes als bisher, wenn nicht eine unakzeptable Position eines radikalen Bruchs bzw. einer relativ ungestörten Kontinuität angenommen wird, die nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis vernünftigerweise nicht bezogen wird?! Oder haben wir nur einen neuen Begriff? – Ob und wie groß der Gewinn dieser an sich plausiblen Gedanken ist, könnte sich wohl nur in einer Geschichte der »Reformation« erweisen. Da wäre dann entsprechend zur Darstellung zu bringen, wie das geschah, sich ereignete, ins Leben trat, Gestalt fand oder wie immer man formulieren möchte, was ein »Emergenzgeschehen« gewesen sein soll.

Im 2. Kapitel behandelt Hamm »Die Einheit der Reformation in ihrer Vielfalt« (29–66). Kernanliegen dieses Kapitels ist die Absicht, »Das Freiheitspotential der 95 Thesen vom 31. Oktober 1517« (so der Untertitel) zu erschließen.

Statt der Studienausgabe von 1979 hätte Hamm als Textgrundlage besser Martin Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe Bd. 2 (Leipzig 2006) herangezogen (11.31). Auch den Denzinger muss man nicht in der Ausgabe seiner eigenen Studentenzeit benutzen (47, Anm. 30), sondern besser in der La­tei­nisch-deutschen, von Peter Hünermann besorgten 37. Auflage von 1991 (zu­letzt Freiburg i. Br., 42. Aufl. 2007). Und wer hat in seiner Bibliothek noch Klaus Kaczerowskys rororo-Bändchen von 1970, aus dem Hamm (61) die Zwölf Artikel der Bauernschaft zitiert? – Leider fehlt auch eine Kenntnisnahme und Erwähnung von Reinhard Brandts vorzüglichem Buch über den Ablass: Lasst ab vom Ablass!, Göttingen 2007, das in seiner klaren Argumentation auch und gerade den Lesern dieses Büchleins hilfreich sein könnte.

Sachlich geht es Hamm darum darzustellen, wie nach dem neuen Verständnis Luthers und der Reformatoren die »göttliche Gnadenfülle im Glauben« (46) von den Menschen empfangen und erfahren wird. Nicht um Bedingungsverhältnisse gehe es da, sondern darum, dass das Evangelium die nackte und unbedingte (nuda et absoluta) Verheißung des ewigen Lebens ist, wie es das Tridentinum korrekt be­schreibt (DH 1570), um diese Lehre ausdrücklich zu verwerfen.

In der Darstellung gelingen Hamm treffende und treffliche Formulierungen, etwa dass die vorreformatorische Religiosität »nach dem Modell einer Lebensversicherung mit Eigenbeteiligung« (48) funktionierte – in Gestalt satisfaktorischer oder meritorischer Leis­tungen. Diesem Verhältnis von Gabe und Gegengabe setzte Luther den »Quantensprung vom Minimum zum Nichts« (53) entgegen: Dass der Mensch schlechterdings nichts zu geben, sondern alles von Gott zu empfangen hat, das ist das Neue, Systembrechende der Reformation Luthers. – Im Zusammenhang der Diskussion der 95 Thesen könnte zur Verdeutlichung der Argumentation noch darauf hingewiesen werden, dass Luther zur Erläuterung der ersten These in These 2 ausdrücklich erklärt, dass das neue Bußverständnis nicht im Sinne der sakramentalen Buße gedeutet und damit gar auf sie reduziert werden dürfe.

Zustimmung verdient die Bemerkung, dass die 95 Thesen ein reformatorischer Text sind, auch wenn bestimmte Begriffe oder Themen in ihnen nicht explizit vorkommen (59 f.), ebenso, was Hamm über Desakralisierung und Sakralisierung (60 f.) ausführt, vor allem im Hinblick auf die »Heiligung« der Tätigkeit der Chris­ten im weltlichen Beruf. Man muss sich nur klarmachen, welche Kräfte aus dem Potential dieser Überzeugung etwa in der Gründerzeit, vor allem bei Harnack, aber auch bis in die Gegenwart erwachsen sind und vermutlich weiterhin aus ihr hervorgehen werden.

Einen ganz anderen Ton schlägt Michael Welker an, der die Ka­pitel 3 und 4 beigetragen hat. Von gegenwärtigen Wahrnehmungen Luthers und der Reformation herkommend, gibt er zu­nächst eine holzschnittartige Darstellung Luthers in Worms in affirmativer und polemischer Betrachtung, um sodann von dem in Gottes Worten bzw. Wort gefangenen Gewissen zu handeln. Dass die Reformation auch eine Bildungsbewegung kat´ exochen war, wird kurz erwähnt, ebenso der gegenwärtige Verfall religiöser Bildung bis hin zum religiösen Analphabetismus.

In der Hauptsache handelt das Kapitel von den reformatorischen Exklusivformeln, die Welker vor allem als »Kampfformeln« behandelt. Das sind sie zwar auch, besonders, wenn man deutlich macht, gegen wen und was sie sich richten, doch geht es den Reformatoren vor allem um thetische Aussagen. Welkers Ausführungen leiden da­runter, dass die zeitgenössischen Gegenpositionen nicht erwähnt werden: In der Darstellung des sola scriptura fehlt in historischer Perspektive, dass die Heilige Schrift gegen die »Menschensatzungen«, d. h. das kanonische Recht und die Tradition, als exklusives Christuszeugnis geltend gemacht wird. Auch bleibt unerwähnt, dass das Tridentinum das reformatorische Schriftprinzip ausdrück­lich abgelehnt hat, so erfreulich die Tatsache (und deren Erwähnung) ist, dass die römische Kirche sich seit dem Zweiten Vaticanum stärker auf das Studium der Heiligen Schrift eingelassen hat.

Unverständlich finde ich die Bemerkung, auf Grund eines falschen Gebrauchs der Bibel reiche »das sola scriptura, d. h. der Kampfruf: die Schrift allein! nicht aus, um die Botschaft der Reformation heute an uns zu übermitteln. Sie bedarf der Ergänzung« (74f.). Was soll ergänzt werden? Es handelt sich bei einer solchen Formulierung offenbar um einen Lapsus – vielleicht ist ja Auslegung gemeint oder eine andere sinnvolle Kategorie verantwortlichen theologischen Umgangs mit der Schrift. Auch die Freude über den Erkenntniszugewinn durch ökumenische Annäherungen kann die Skepsis, ja den ausdrücklichen Widerspruch gegen die Ergänzung nicht wegnehmen.

Im Abschnitt »III. Allein aus Gnade!« führt Welker den in Heidelberg blühenden Begriff der »Gemeinschaftstreue« in die Darstellung der »schwierige[n] Botschaft der Rechtfertigung« ein (83– 85). Dass die juridische Terminologie beschwerlich ist, steht außer Zweifel. Aber dass Gott den Menschen gerecht macht (iustificat), ihm ein neues Leben schenkt, ist doch ein Geschehen und eine Vorstellung, welche die Formulierung, Gott erweise den Menschen Ge­meinschaftstreue, »indem Er sie zu Gliedern am Leib Christi werden lässt und mit den Gaben und Kräften des Heiligen Geistes erfüllt« (84), nicht angemessen ersetzt. Und dass die frohe Befreiung im Geschehen der Rechtfertigung wahrgenommen werden »muss« (84), entspricht jedenfalls nicht Luthers Vorstellung – sie wird es.

In »IV. Allein aus Glauben« geht es um die Abwehr eines subjektivistischen Glaubensverständnisses (man könnte und möchte eine solche Vorstellung vielleicht angemessener als Heilsegoismus bezeichnen). Allerdings halte ich die Gegenüberstellung von Glaube als subjektiver Haltung Gott gegenüber vs. objektives Gemeinschaftsgeschehen in reformatorischer Perspektive nicht für ge­glückt: einerseits, weil das Geschenk des Glaubens in reformatorischem Sinn keine Einstellung und Haltung ist, andererseits, weil es auch subjektives Gemeinschaftsgeschehen geben könnte und gibt, das aus der »Falle« religiöser Vergemeinschaftung im Sinne religiöser Herrschaft von Menschen über Menschen nicht hinausführt. Hier schiene es mir angezeigt, die extra-Dimension des Glaubens und seine Folgen in der Liebe, in der nötigen Unterscheidung und im ebenso notwendigen Zusammenhang zu thematisieren.

Verwirrend sind die Auslassungen über das Evangelium als »fah­renden Platzregen« (87). Sie stammen, was man bei Welker nicht erfährt, aus der Schrift »An die Ratsherren aller Städte deutsches Lands, dass man christliche Schulen aufrichten und halten solle« von 1524 (WA 15, [9] 27-53). Da heißt es: » … Gottis wort und gnade ist ein farender platz regen, der nicht wider kompt, wo er eyn mal gewesen ist« (32,7 f.). – Was danach bei Welker folgt, ist eine (von ihm?) erfundene Geschichte: »Gelegentlich soll Luther gesagt haben: ›Ich habe mit Meister Melanchthon beim Bier gesessen, und das Wort Gottes ging aus wie ein fahrender Platzregen! Ich habe nur ein wenig geschrieben und gepredigt.‹« (87) Ein Nachweis fehlt. Er ist auch nicht zu erbringen. Die lockere Formulierung »Gelegentlich« könnte heißen: bei passender Gelegenheit, immer wieder einmal, mehrfach o. Ä. Der Historiker ist verdrossen, wenn er bei einem Kollegen einer anderen Disziplin solche Histörchen lesen muss. Haben wir nicht or­dentliche Ausgaben? Arbeiten wir nicht seit Generationen daran, um in historisch-kritischer Forschung Texte bereitzustellen, die als authentisch gelten dürfen? Und dann erfindet ein deutscher Theologieprofessor des 20. Jh.s eine Ge­schichte im Stil von Johann Aurifabers Tischredenausgabe von 1566– und lässt sie drucken! (Zur Sache vgl. die Invokavitpredigt, WA 10 III,18 f.)

Das 4. Kapitel »Sola scriptura. Die Autorität der Bibel in pluralistischen Um
gebungen« (91-120) stammt gleichfalls von Welker. Er konfrontiert »Autoritätsformulare« im Hinblick auf die (Heilige) Schrift mit zum Teil aus der Sicht von Laien formulierten Gegenwartserfahrungen, um die Spannungen zwischen beiden zu thematisieren. Welker schlägt vor, vom »vierfachen Gewicht der Schrift« zu reden. Zu Beginn wird wieder Luther zitiert, wieder ohne Nachweis. Bei den »Gewichten« unterscheidet Welker ein historisches, ein kulturelles, ein kanonisches und ein – alles überragendes bzw. bestimmendes – theologisches Gewicht der Schrift. Besonders klar ist das nicht. Vor allem aber ist der Sachzusammenhang mit der Reformation nicht eigentlich erkennbar. Welker konstatiert: »Die große an der Reformation geschulte und weiter zu schulende Aufgabe für die Theologie in Wissenschaft, Bildung und Kirche besteht heute darin, spezifische Modelle und typische Brü­ckenstellen seriös herauszuarbeiten, die es erlauben, fruchtbare Bezüge zwischen den pluralistischen kanonischen Überlieferungen und den Orientierungsprofilen bzw. typischen Orientierungsbedürfnissen im gesellschaftlichen und kulturellen Pluralismus herzustellen.« (117) Der Rezensent vermag darin keine Bezüge zur Reformation zu erkennen. Selbst die Schlussbemerkung zur Zielsetzung des Buches wirkt sehr unspezifisch: eine Art erbauliche Summa, vielleicht als Anweisung zur »Korrektur der Gewissheit in der Suche nach Wahrheit« (120)?