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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

958–960

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Berwinkel, Roxane

Titel/Untertitel:

Weltliche Macht und geistlicher An­spruch. Die Hansestadt Stralsund im Konflikt um das Augsburger Interim. Berlin: Akademie Verlag 2008. 245 S. gr.8° = Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, 28. Geb. EUR 69,80. ISBN 987-3-05-004493-4.

Rezensent:

Gert Haendler

Die an der Universität Frankfurt am Main angenommene Dissertation entstand unter Betreuung von Luise Schorn-Schütte im Rahmen eines Projekts »Interim und Obrigkeitskritik«. Mit dem Augsburger Interim wollte Kaiser Karl V. nach dem Sieg bei Mühlberg 1547 die »Religionsfrage« in seinem Sinne lösen. Die Protestanten empfanden das Interim »als Diskriminierung, als Glaubensdiktat« (12). Es förderte »kirchenpolitische und theologische Abgrenzungsprozesse in den protestantischen Territorien« (13). Die Debatte verlagerte sich »von der Frage des Rechts auf Widerstand auf die Problematik, sich trotz einer grundsätzlichen Ablehnung dieses kaiserlichen Religionsgesetzes möglichst weitreichende außenpolitische Optionen offen zu halten, einen sichtbaren Gegensatz zu Karl V. also zu vermeiden« (23). Damit standen »Wahrheit und Bekenntnis, Gewissen und christliche Freiheit« dem Streben nach »Herrschaftssicherung und politischer Selbstbehauptung« gegenüber. »Geistliches und weltliches Regiment trafen ... unversöhnlich aufeinander« (25).

Stralsund war eine Landstadt im Herzogtum Pommern und zugleich Hansestadt (27). In Pommern spielte Stralsund unter den Städten eine führende Rolle. Der aus Stralsund stammende pommersche Chronist Thomas Kantzow sagte zur Lage in Stralsund: An Kirche und Schule sei man kaum interessiert, man ist »nur zur Kauffmannschaft und Schiffarth geneigt« (43). Im April 1525 kam es zum Aufruhr der Handwerker gegen die alten Ratsmitglieder. Dieses »Stralsunder Kirchenbrechen« führte zur Reformation. Johannes Aepinus schrieb in Hamburg 1525 im Auftrag des neu gebildeten Stralsunder Rates eine neue evangelische Kirchenordnung. Stralsund gewann dadurch in Pommern eine Vorreiterrolle. »Als erste Stadt hatte es die Reformation eingeführt und als eine der ersten im Norden des Reiches eine eigene Kirchenordnung erlassen« (49).

Die pommerschen Herzöge wendeten sich seit 1532 der neuen Lehre zu. Auf dem Treptower Landtag brachte Bugenhagen die Reformation 1534 voran. Stralsund hielt jedoch an seiner Selbständigkeit fest und lehnte ein Patronatsrecht der Herzöge ab, das diese als »Notbischöfe« beanspruchten. Bei Versuchen zu einer theologischen Gemeinsamkeit mit anderen Hansestädten zeigte sich, dass Hamburg, Lüneburg und Lübeck mehr Spielraum hatten als die Ostseestädte Wismar, Rostock und Stralsund. Gerade nach dem In­terim wollte Stralsund nur eine Landstadt in Pommern sein und hielt sich in der Gemeinschaft der Hanse möglichst zurück. Die Herzöge wollten »ihrer Gehorsamspflicht gegenüber dem Kaiser, ihrem Lehnsherrn, und ihrer Verantwortung vor Gott, ihrem Schöpfer, gerecht werden« (104). Melanchthon unterstützte solche Bestrebungen mit der Unterscheidung zwischen theologisch un­wichtigen Adiaphora und zum Heil notwendigen Dingen (113).

Kapitel VI »Das Interim in Stralsund. Der Fall Johannes Freder« (123–175) schildert dessen Leben: Aus Köslin stammend hatte er 1524–1535 in Wittenberg studiert und war Magister geworden. Der Hamburger Superintendent Aepinus hatte ihn an seine Seite geholt und 1548 als Superintendenten nach Stralsund empfohlen, wo der Rat ihn einsetzte. »Durch sein Amt erhielt das Geistliche Ministerium nicht nur erstmalig eine feste Struktur, sondern etablierte sich damit auch als Institution innerhalb der Stadt« (131). Pommerns Herzöge fürchteten den mächtigen Nachbarn Kurbrandenburg sowie den einheimischen Adel, mit dem man um Kirchengüter stritt. Die Herzöge fanden Verständnis bei ihren Theologen, aber auch die Haltung der Stadt Stralsund war »durch äußerste Zurückhaltung gekennzeichnet« (121). Am 11. März 1549 verbot der Rat der Stadt den Predigern, das Interim zu erwähnen. Freder wuss­te, dass auch die oberste Geistlichkeit in Pommern dem zustimmte. Die Prediger sollten »in die allgemeine Politik des Stillhaltens, des Abwartens und Schweigens mit eingebunden werden« (151).

Freder protestierte: Der Rat begrenze »die christliche Freiheit des einzelnen Geistlichen, hindere ihn an der rechten Ausübung seines Predigtamtes, indem er ihn seiner Mahner-, Wächter- und Aufsichtspflicht enthebe und ihn zum ... Befehlsempfänger des weltlichen Regiments degradiere« (153). Damit hatte Freder »die obrigkeitliche Kirchenhoheit insgesamt dermaßen in Zweifel gezogen, dass in den Augen des Rates Freder selbst zu einer Gefahr für die innere Stabilität der Stadt geworden war« (154). Am 13. März 1549 stand Stralsunds Geistlichkeit zu Freder und brachte ihre »Funktion als eigenständige Gruppe innerhalb der Bürgerschaft deutlich zum Ausdruck« (156). Dadurch wuchs der Druck auf den Rat: »Durch den einhelligen Widerspruch der Geistlichen sah der Rat seine kirchenhoheitlichen Befugnisse sowie seine obrigkeitlichen Legislativrechte aufs höchste bedroht« (157). Die Pastoren wurden unter Druck gesetzt. Am 15. März wurden Freder und noch ein Theologe entlassen. Überwiegend bezeichnete man Freder als einen »eigensinnigen, halsstarrigen Kopf«, der mit Flacius zusam­mengehöre (161). Freder wurde 1549 Professor in Greifswald, dann Superintendent auf Rügen und zuletzt in Wismar. Er musste im­mer wieder Vorwürfe zurückweisen, die die spannungsvolle Atmosphäre jener Tage im März 1549 zeigen (170).

Die Arbeit beruht durchweg auf Quellen, u. a. wurden Briefe von Freder von 1549 in einem Nebenraum der Sakristei der Nikolaikirche 2003 sichergestellt (35). Die Vfn. sagt aber auch, dass Freders Leben über Stralsund hinausweist. Auch Matthias Flacius, Martin Bucer, Andreas Osiander und Nikolaus Gallus mussten ihre Ämter verlassen. In der Person Freders »nahmen die Ereignisse in Stralsund Gestalt an und erhielten eine spezifische und einmalige Signatur« (177). Das Interim war der »Katalysator für eine viel grundsätzlichere Problematik, die nichts Geringeres umreißt, als die Frage­ nach der Rolle der neuen, reformatorischen geistlichen Amts­träger in der Gesellschaft und damit nach dem Verhältnis von Kirche und Staat« (178). Das Buch verdient hohe Anerkennung.