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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

956–958

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Backus, Irena

Titel/Untertitel:

Life Writing in Reformation Europe. Lives of Reformers by Friends, Disciples and Foes.

Verlag:

Life Writing in Reformation Europe. Lives of Reformers by Friends, Disciples and Foes. Aldershot: Ashgate 2008. XXXIII, 259 S. gr.8° = St. Andrews Studies in Reformation History. Lw. £ 60,00. ISBN 978-0-7546-6055-2.

Rezensent:

Stephen Buckwalter

Die vor allem durch ihre Forschungen auf dem Gebiet der Kirchenväterrezeption im Reformationszeitalter sowie durch ihre mustergültigen Editionen bekannte Genfer Reformationshistorikerin Irena Backus untersucht in diesem schmalen, aber gehaltvollen Band die bisher unzureichend beleuchtete Quellengattung der »Reformatoren-Vita«. Nicht weniger als zeitgenössische Kirchenord­-nungen, Synodal- und Konsistorialprotokolle, Bibelkommentare, theologische Abhandlungen, Briefe und Predigten verdienen die Biographien von Reformatoren, so B., als selbständige, theologisch und historisch ergiebige Quellengattung ernst genommen zu werden. B. erhebt in diesem Buch nicht den Anspruch, alle erhaltenen Quellen dieses Typs einer erschöpfenden Analyse unterzogen zu haben, sondern trifft bewusst eine nach konfessionellen und geographischen Kriterien beschränkte Auswahl, die sich freilich bis ins 18. Jh. erstreckt und eine beachtliche Zahl von Quellen umfasst. Ihre Ergebnisse sind vielfältig: Zunächst gilt festzuhalten, dass Reformatorenbiographien sich in ihren jeweiligen Entstehungsumständen, in ihrem inhaltlichen Charakter, in ihrer Zielsetzung und in ihrer Wirkungsgeschichte derart voneinander unterscheiden, dass man auf gar keinem Fall von einem homogenen Genre sprechen kann. Hinzu kommt der faszinierende Hinweis darauf, dass das Reformationszeitalter eine bisher völlig unbekannte Un­tergattung hervorrief: diejenige der feindlichen Biographie – einer Lebensbeschreibung, die dem alleinigen Zweck diente, ihren Gegenstand nach Möglichkeit zu verunglimpfen. Überhaupt stellen diese Viten weitaus wertvollere Quellen über die Denkvoraussetzungen und die historischen Umstände ihrer Verfasser dar, als dass sie uns die Reformatoren biographisch und historisch näherbringen. B. wird deshalb nicht müde zu betonen, dass wir in ihnen nicht Biographien im modernen Sinne erwarten dürfen.

B. beginnt ihre Untersuchung mit einer Rekapitulation der antiken und mittelalterlichen biographischen Literaturgattungen, die den Verfassern von Reformatoren-Viten im 16. Jh. als Vorbild dienten. Sie erwähnt auch zwei Formen von Reformatorenbiographien, die Einzelfälle unter den von ihr untersuchten Quellen bilden, da sie nicht Schule machten: das Gruppenbiographie-Modell des Johannes Fichard (Vitarum recentiorum iurisconsultorum ... libri, 1536), der in Anlehnung an Plutarch nord- und südeuropäische Humanisten gegenüberstellte, und die 1562 veröffentlichte anonyme Biographie des Paul Fagius, in welcher dieser zu einem reformatorischen Heiligen stilisiert wurde.

Das erste Kapitel widmet sich dem bereits vielfach bearbeiteten Gebiet der Luther-Biographie in den Jahren 1546 bis 1581. B. stellt fest, dass die Luther-Viten sich in zwei eindeutig voneinander geschiedene Gruppen einteilen lassen: zunächst die aus evangelischer Feder stammenden Biographien, die sich fast ausschließlich an ein deutsches Publikum richten, Luther zu einem Wunder wirkenden Werkzeug Gottes stilisieren und die universelle Gültigkeit der Confessio Augustana voraussetzen. Viele dieser Viten sind in Gestalt von Predigten überliefert. Dagegen zeichnen sich die von katho­lischen Autoren stammenden Luther-Biographien durch ihren ausgeprägt internationalen Charakter aus, obwohl sie alle letztlich auf die Commentaria des deutschen katholischen Theologen Johannes Cochlaeus zurückgehen. Während die evangelischen Luther-Viten bestrebt sind, ihre Leser zu erbauen, geben ihre Entsprechungen auf katholischer Seite vor, akkurate historische Chroniken zu sein, wenngleich die verunglimpfende Absicht unverkennbar bleibt.

In einem zweiten Kapitel untersucht B. die überlieferten Biographien der Schweizer Reformatoren Huldreich Zwingli, Johannes Oekolampad, Joachim Vadian, Peter Martyr Vermigli und Heinrich Bullinger. Während Mykonius’ Zwingli-Biographie eindeutige ha­giographische Tendenzen aufweist, die freilich seine Lehre und nicht seine Person in den Vordergrund stellen, stellt Wolfgang Capito in seiner Biographie des Basler Reformators Johannes Oekolampad diesen als frommen humanistischen Gelehrten dar. Diese Tendenz zur sachlichen historischen Aufzeichnung verstärkt sich in den folgenden Jahrzehnten. Anders als die Luther-Biographien schreiben diese aus Zürich stammenden Viten dem jeweils behandelten Reformator keine heilsgeschichtliche Rolle zu, sondern machen aus der Reformation ein Gemeinschaftsunternehmen, wenn auch Bullinger als europaweites Haupt des Protestantismus verstanden wird. Mit der Ausnahme Oekolampads, dessen Ansehen durch Selbstmordgerüchte befleckt zu werden drohte, hatten die Autoren von schweizerischen Reformatoren-Viten wenig mit verunglimpfenden Biographien zu kämpfen. Ihre Darstellungen zielten auf ein einheimisches Publikum von Pfarrern, Schülern und Gemeindegliedern, die es zu erbauen und mit historischen Vorbildern zu inspirieren galt. In dieser pädagogischen Instrumentalisierung der Vita sieht B. eine besondere Zürcher Variante der schweizerischen Reformatorenbiographik.

Diese spezielle Zürcher Tradition setzte sich nach Ansicht von B. in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s in den Biographien zu Conrad Gessner, Josia Simler, Johann Wolf, Ludwig Lavater und Konrad Pellikan fort. Die eindeutig an antike Vorbilder angelehnte Gattung der Biographie diente dem Selbstverständnis der Stadt als einer religiös und historisch selbstbewussten Bürgergemeinschaft und sollte zugleich vor der Gefahr einer platten Hagiographie schützen. Die Viten sollten gleichermaßen religiöse Werte und bürgerliche Tugenden vermitteln. Sie hatten aber keine selbständige Exis­tenz als literarische Gattung, sondern verbargen sich meistens in Vorworten anderer Werke und blieben deshalb lange unentdeckt.

Im Gegensatz zu Wittenberg und Zürich, so stellt B. zu Beginn des vierten Kapitels fest, war Genf kein Zentrum der Vitenschreibung von Reformatoren. Die dort entstandenen Biographien von Calvin und Beza zielten nicht auf ein einheimisches (städtisches oder gesamteidgenössisches) Publikum, sondern auf den französischen Sprachraum, um dort Anhänger für den Protestantismus zu gewinnen. Mit der geringen Resonanz der Calvin-Biographie Bezas (Discours) von 1564 kontrastiert der massive Er­folg, den Jérôme Bolsec mit seiner regelrechten »Anti-Biographie« von 1577 nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, Italien und Schottland erreichte, mit nachhaltigen, bis in die Gegenwart reichenden Folgen für das Calvin-Bild. Aber zur komplexen, von B. gekonnt referierten Wirklichkeit gehört die paradoxe Tatsache, dass der erste Versuch einer objektiven, auf Quellen basierenden Biographie Calvins ebenfalls katholischen Ursprungs ist, 1583 aus der Feder des französischen Humanisten Jean-Papire Masson entstanden.

Im 17. Jh., so B., kam es zur Blüte einer regelrechten »Calvino­graphie«, mit zahlreichen Biographien aus dem katholischen (Desmay, Le Vasseur, Richelieu) und dem evangelischen (Chouet, Drelin­court, Bayle, Barckhausen) Lager, die sich jedoch darauf be­schränkten, die von Bolsec und Masson gebotenen Informationen wiederzuverwerten. Besonders erwähnenswert in diesem Zusam­menhang ist die dankbare Entdeckung und Rezeption Massons durch die Protestanten (Barckhausen).

Trotz der enormen Vielfalt der studierten Quellen gelingt es B., die konkrete Ausgestaltung der Gattung »Reformatoren-Vita« in der frühen Neuzeit überzeugend zusammenzufassen. Ihre Unterscheidung dreier Zentren – Wittenberg, Zürich, Genf – mit je eigenen Merkmalen der Vitenschreibung besticht durch die analytische Schärfe und die Vielzahl der referierten Quellen. Wenn auch spätere Studien feststellen sollten, dass die eine oder andere Charakterisierung möglicherweise zu pauschal war, bleibt das Werk von B. ein unentbehrlicher Referenzpunkt, der eine wichtige Forschungslücke geschlossen hat.